Das Regierungsprogramm Türkis-Grün

SILVIAHRUŠKA-FRANK

Die Erstbewertung des vorliegenden Regierungsprogramms durch die AK fällt differenziert positiv aus: Viele Ankündigungen haben das Potenzial für Österreich, positive Entwicklungen in Gang zu bringen, einige Vorhaben bleiben aber sehr vage beschrieben bzw ist deren Umsetzung im Detail noch nicht abschätzbar. Besonders positiv stechen auf dem Gebiet der Sozialpolitik das sehr positive Bekenntnis zum Sozialstaats, die Einbindung der SozialpartnerInnen, die gleichstellungsorientierte Politik, die Klimainvestitionen unter Berücksichtigung einer gerechten Transformation und der Start einer Diskussion der Zukunft der Arbeit gemeinsam mit SozialpartnerInnen und Zivilgesellschaft hervor.

Die Verlässlichkeit des Sozialstaats und die Freiheit von Sorge über die basalen Lebensbedürfnisse, die damit einhergeht, sollen auch in Zukunft gewährleistet sein. Dabei wird auf den Errungenschaften der Vergangenheit und hohen Standards bewusst aufgebaut, was sehr erfreulich ist. Die Möglichkeit „der Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ohne Ausgrenzung und Diskriminierung“ zB für Menschen mit Behinderung ist als Zielsetzung explizit angeführt. Wenn eine Bundesregierung das Credo ausgibt „Wir wollen eine Gesellschaft, die sich aktiv für alle einsetzt“ und eine „Just Transition“ bei den Anpassungen an die Klimakrise anstrebt, dann lässt das eindeutig auf ein sozial- und verteilungspolitisches Bewusstsein der Regierungsparteien schließen. Ebenso hebt sich die wieder stärkere strukturelle Einbindung der SozialpartnerInnen positiv vom Programm der letzten Regierung ab. Auch der richtige und wichtige Befund, dass sich das öffentliche Pensionssystem durch „Sicherheit und Klarheit“ auszeichnet und „keine grundlegende Neuausrichtung“ braucht bzw dass die Finanzierungssicherheit durch eine hohe Beschäftigung sichergestellt werden soll, ist positiv hervorzuheben. Ebenso die Zielsetzung, die Armutsgefährdungsquote innerhalb von fünf Jahren zu halbieren. Insgesamt ist im Übereinkommen eine starke Ausrichtung auf gleichstellungsorientierte Politik zu erkennen – von der Vorreiterrolle, die der öffentliche Sektor dabei einnehmen soll, aktivem Karenzmanagement der Betriebe bis hin zu konkreteren Ansätzen, die auf höhere Fraueneinkommen und entsprechend höhere Sozialleistungen abzielen. Die Förderung einer notwendigen, partnerschaftlichen Aufteilung von Familien- und Betreuungsarbeit wird dabei betont. Positiv zu bewerten ist auch, dass das Frauenbudget substantiell aufgestockt werden soll, wobei die Frage der Finanzierung – wie auch in anderen Bereichen – unbeantwortet bleibt. Die Ankündigung, dass sich Österreich an der EU-weiten Zeitverwendungsstudie beteiligen wird, ist sehr erfreulich. Zu hoffen ist, dass die auch eher unkonkret in Aussicht gestellte Förderung von Frauen in technischen Berufen sowie Männern in pädagogischen und Care-Berufen mE im Rahmen von Maßnahmen zur beruflichen Umorientierung und Qualifikation bzw durch die Stärkung bereits bestehender nachhaltiger AMS-Programme in der konkreten Umsetzung dann auch tatsächlich gelingt.

Die oben bereits erwähnte Ankündigung eines breiten Diskurses zur Zukunft der Arbeit gemeinsam mit den SozialpartnerInnen und der Zivilgesellschaft sticht als besonders erfreuliches Vorhaben heraus. Es ist anzunehmen, dass die von der OECD mit Studie „Negotiating Our Way Up“* veröffentlichte Empfehlung an die Regierungen, die Mitbestimmung auszubauen und die Verbesserung der Qualität der Arbeit bei den Vorbereitungsarbeiten und Diskussionen in erheblichem Ausmaß einfließen werden. Allerdings werden im Regierungsprogramm zB die Arbeitsbedingungen im Tourismus nicht thematisiert, eher dürfte es geplant sein die Interessen der ArbeitsleistungsempfängerInnen im Tourismus durch ausgiebige Arbeitsmigration aus Drittstaaten zu befriedigen, indem diese erleichtert werden soll. Dies stimmt hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung von Qualitätstourismus pessimistisch, weil anstatt einer Attraktivierung der Arbeitsplätze in Gastgewerbe und Tourismus durch bessere Arbeitsbedingungen bloß der Druck am Arbeitsmarkt erhöht wird. Insofern gilt die Überschrift im Regierungsprogramm „Mehr Gerechtigkeit für den heimischen Tourismus“ wohl leider nicht für die ArbeitsleisterInnen selbst. Handlungsbedarf bestünde insb beim AN-Schutz, zeigten doch Kontrollen des Arbeitsinspektorates im Jahr 2019, dass sie zu den vulnerabelsten Gruppen hinsichtlich überlanger – und sogar nach der AZG-Novelle 2018 – verbotener Arbeitszeiten gehören.

Einige zentrale Punkte werden vom Regierungsprogramm jedoch offengelassen, obwohl akuter Handlungsbedarf besteht. Es ist als besonders problematisch anzusehen, dass die nötigen Maßnahmen im Bereich des Arbeitsgestaltung aufgrund der AZG-Novelle 2018 im aktuellen Regierungsprogramm ebenso wenig (wie zB Anpassung des AZG an die AZ-RL in puncto Höchstarbeitszeitdurchrechnung) oder höchstens halbherzig (freiwillige Gesundheitsprävention der Betriebe) angesprochen werden wie viele andere zentrale Themen, in denen klarer Handlungsbedarf besteht (Verringerung des Arbeits- und Zeitdrucks, Schutz vor übermäßiger technisch-unterstützter Kontrolle, bessere Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte zB in Arbeitszeitfragen, breiterer Zugang zu sechster Urlaubswoche). Wie unter anderem der aktuelle 125 Fehlzeitenreport 2019* oder der Arbeitsklimaindex 2019* zeigen, müssen iSd Beschäftigten aber auch im Interesse der Unternehmen und in Hinblick auf das Sozialsystem jene Belastungen eingedämmt werden, die durch ungesunde Arbeitszeiteinteilungen auftreten. Viele Menschen sind aufgrund der beruflichen Belastungen derzeit schon lange vor dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter nicht mehr arbeitsfähig, was nicht nur hohes menschliches Leid verursacht, sondern auch negativ für die Finanzierung des Gemeinwohls ist. Gerade vor dem Hintergrund der ausgeweiteten Höchstarbeitszeiten wäre es in Österreich dringlich geboten, die international übliche Arbeitszeiterfassung umzusetzen, um Arbeitszeitdebatten fundierter führen zu können. Auch für abgeleitete Kontrollen und Analysen wäre eine auf Stundenbasis abgestellte, verpflichtende Meldung der Arbeitszeiten gemeinsam mit den Beitragsgrundlagen durch die Unternehmen unerlässlich. Insgesamt ist festzuhalten: Ohne konkrete Verbesserung der Arbeitsbedingungen bleiben Personaloffensiven wenig wirkungsvoll, dies gilt im Tourismus genauso wie im Bereich der ambulanten und stationären Pflege – denn dort fehlen die notwendigen Maßnahmen ebenso.

In der Gesundheitspolitik werden viele positive Maßnahmen in Aussicht gestellt, als Beispiel sei der Ausbau des Mutter-Kind-Passes bis 18 Jahre genannt. Positiv ist auch die Anpassung der Liste der Berufskrankheiten und die Förderung der betrieblichen Gesundheitsförderung, mit der Einschränkung, dass diese wie es scheint, vor allem auf freiwilligem Handeln der Betriebe basieren soll, das dann aber auch tatsächlich erfolgen muss.

Die im Regierungsprogramm in Aussicht gestellte Lösung der Kettenbefristungsfrage in § 109 Universitätsgesetz wird mit Spannung erwartet. Geplant sind im Übereinkommen auch ein BerufssportG oder ein bundesweites SozialarbeitsG. Beide Vorhaben sind nicht näher beschrieben, insbesondere das letztere scheint jedoch noch ausführliche Diskussionen innerhalb der Berufsgruppe zu erfordern. Als rechtlich iS eines fairen Wirtschaftstreibens notwendig, in der Praxis aber in dieser Form als wenig aussichtsreich, ist das Vorhaben einzustufen, Probleme in der Vollziehung von Strafen im Zusammenhang mit dem Lohn- und Sozialdumping- Bekämpfungsgesetz (LSDBG) bzw den sozialpolitischen Handlungsbedarf bei der Entsendung von Arbeitskräften nach Österreich durch Verwaltungsabkommen mit den Entsendestaaten zu lösen. Die Praxis zeigt, dass jene Mitgliedstaaten der EU, die in erster Linie Entsendestaaten sind, schon bisher kein großes Interesse haben, an der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping mitzuwirken. Wichtig wäre es daher, dass Österreich sich intensiv bei den Vorhaben der europäischen Arbeitsbehörde mit seinen Erfahrungen einbringt und auf wirksame Maßnahmen zur grenzüberschreitenden Vollstreckung drängt. Zur Lösung der Problematik iZm der jüngsten EuGH-Judikatur zum Lohn- und Sozialdumping-BekämpfungsG*, die eine Deckelung der Verwaltungsstrafen erfordert, liegen bereits konkrete Vorschläge der SozialpartnerInnen vor, die von der Bundesregierung aufgegriffen werden sollten. Leider ist die dringend notwendige Aufstockung von Finanzpolizei und Arbeitsinspektorat im Regierungsprogramm nicht in Aussicht gestellt.

Eindeutig kritisch hingegen stechen folgende Punkte ins Auge: In der Sozialversicherung werden die Privilegien für LandwirtInnen und Selbständige werden ausgebaut, anstatt wie von der AK geforderte eine Leistungsangleichung für unselbständig Beschäftigte auf das Niveau der BeamtInnen und Selbständigen durchzuführen. Auch der Umbau der Sozialversicherungen der AN was die ungerechten Machtverhältnisse betrifft, wird nicht in Aussicht gestellt. Die dringend notwendigen Grundsatzregelungen des Bundes zur Mindestsicherung bzw Sozialhilfe bleiben leider ebenfalls aus. Was weiters fehlt, ist eine generelle Qualifikationsoffensive für Beschäftigte und Arbeitssuchende im Zeichen der Digitalisierung und eines nachhaltigen Umbaus des Arbeitsmarktes im Zusammenhang mit der Klimakrise. Entgegen dem allgemeinen Bekenntnis zu einer gleichstellungsorientierten Politikgestaltung wird die Tatsache, dass Frauen bisher im Rahmen der häuslichen Pflege die Hauptlast stemmen, nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern sogar durch die Einführung eines sogenannten „Pflege-Daheim-Bonus“ einzementiert. Hier werden scheinbar bewusst fragmentierte Frauenerwerbskarrieren und entsprechend niedrige Lebenseinkommen – insb im ländlichen Raum – in Kauf genommen.

Offen bleibt letztendlich die Finanzierungsfrage: Wie lassen sich die oben genannten Zielsetzungen und die positive Weiterentwicklung, die viele richtige Investitionsvorhaben (zB in die soziale Infrastruktur von Ganztagsschulen bis zur Pflege) voraussetzt, mit den Zielen einer reduzierten Abgabenquote verwirklichen, ohne gleichzeitig Leistungen in anderen zentralen Bereichen der sozialen Absicherung zu reduzieren? Zu hoffen ist jedenfalls, dass durch ein Abgehen vom unseligen Verständnis, Investitionen unabhängig vom Konjunkturzyklus zu betrachten, in Zukunft mehr Spielraum für eine nachhaltige Wohlfahrtsstaatsentwicklung gegeben ist.126