22Säumnis bei der Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld
Säumnis bei der Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld
Der Säumnisfall setzt voraus, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist.
Eine Bescheidpflicht kann nicht erst ab dem Zeitpunkt angenommen werden, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen. Diese Intention des Gesetzgebers steht in Widerspruch zur unionsrechtlich verankerten Verpflichtung des nachrangig zuständigen Trägers zur Gewährung einer vorläufigen Leistung (Art 68 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004).
Demnach ist die in § 27 Abs 4 KBGG geforderte Entscheidungsreife iSd Vorgaben des Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 und des Art 7 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 unionsrechtskonform dahin zu verstehen, dass mit der Entscheidung über die Gewährung eines allfälligen vorläufigen Unterschiedsbetrags nicht so lange abgewartet werden kann, bis der prioritär zuständige Träger über die vergleichbare Familienleistung und deren Höhe endgültig entschieden hat.
Der Entscheidungsträger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats hat nach fruchtlosem Verstreichen der zweimonatigen Frist zur Stellungnahme durch den vorrangig zuständigen Entscheidungsträger auf Antrag einen allenfalls zustehenden Unterschiedsbetrag nach entsprechenden Erhebungen vorläufig festzustellen und allenfalls auszuzahlen.
Mit der [...] eingebrachten Säumnisklage begehrt die Kl die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes in der von ihr beantragten Variante. Sie bringt zusammengefasst vor, der Vater des Kindes lebe in Italien und sei dort als DN vollzeitbeschäftigt, das Kind lebe mit ihr in Österreich. Sie selbst sei von 2004 bis Mitte 2015 durchgehend einer geringfügigen Beschäftigung in Österreich nachgegangen, weshalb von einer Beschäftigung iSd Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 in Österreich auszugehen sei. Für die Gewährung von Familienleistungen sei daher Österreich als Wohnsitzstaat des Kindes primär zuständig (Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO [EG] 883/2004). [...] In Italien habe es zur Zeit der Geburt des Kindes keine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung gegeben.
Die Bekl wendet zusammengefasst ein, es liege keine Verpflichtung zur Ausstellung eines Bescheids und damit kein Säumnisfall vor. Die geringfügige Beschäftigung der Kl in Österreich habe nur in einem so minimalen Ausmaß bestanden (es sei nur ein Monatslohn von 70 € brutto für netto vorgebracht worden), dass nicht von einer Beschäftigung iSd Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO (EG) 883/2004 ausgegangen werden könne. Eine vorrangige Leistungszuständigkeit Österreichs werde durch diese Beschäftigung nicht ausgelöst. Für die Erbringung von Familienleistungen sei daher Italien als Beschäftigungsstaat des Vaters vorrangig leistungszuständig; Österreich sei als Wohnsitzstaat der Mutter und des Kindes nur nachrangig leistungszuständig. Diese Rechtsansicht sei auch der vorläufigen Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln zugrunde gelegen. Entsprechend den Verfahrensregelungen des Art 60 Abs 3 der VO (EG) 987/2009 habe die Bekl mittels Schreiben vom 9.12.2015 zugleich mit der vorläufigen Entscheidung den Antrag nach Art 68 Abs 3 der VO (EG) 883/2004 an den Träger des anderen Mitgliedstaats (eingeschrieben) weitergeleitet und die Antragstellerin darüber informiert. Der Träger des anderen Mitgliedstaats (Italien) hätte innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu der vorläufigen Entscheidung Stellung nehmen sollen. Eine Stellungnahme sei aber nicht erfolgt, sodass die von der Bekl getroffene vorläufige Entscheidung (endgültig) anwendbar geworden sei. Dementsprechend habe der italienische Träger in Wahrnehmung seiner primären Zuständigkeit die in Italien vorgesehenen Familienleistungen zu erbringen und Österreich die in seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen. Diese bestünden in einer Ausgleichszahlung, sofern die Leistungen im vorrangig zuständigen Staat Italien geringer sein sollten. Um die Höhe der Ausgleichszahlung berechnen zu können, wären die (positiven bzw negativen) Bescheide über die betreffenden italienischen Familienleistungen erforderlich, welche noch nicht vorliegen. Trotz Urgenzen beim zuständigen italienischen Träger habe daher eine Bemessung des in Österreich gebührenden Leistungsumfangs mangels notwendiger Informationen nicht erfolgen können. Auch die Kl habe keine Entscheidung des italienischen Trägers beigebracht. Nach dem im vorliegenden Fall schon anwendbaren § 27 Abs 4 KBGG liege – abweichend von § 67 Abs 1 Z 2 ASGG – eine Säumnis des Versicherungsträgers nur vor, wenn die Sache entscheidungsreif sei, also wesentliche Vorfragen rechtskräftig geklärt und Mitwirkungspflichten erfüllt seien, welche Voraussetzungen nicht gegeben seien. [...]
Rechtliche Beurteilung [...]
1. Da ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist, sind die VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie die VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) 883/2004 anzuwenden.
[...]
3. Um Doppelleistungen zu vermeiden, legt Art 68 der VO (EG) 883/2004 für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen aus verschiedenen Mitgliedstaaten fest, welcher Staat vorrangig leistungszuständig ist. Gem Art 68 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 hat der prioritär zuständige Mitgliedstaat die Leistung zu erbringen, Familienleistungen des nachrangig zuständigen Staats sind bis zur Höhe der prioritären Leistung auszusetzen (so auch § 6 Abs 3 KBGG). Ist jedoch die Familienleistung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats höher als die prioritäre Leistung, so hat der nachrangig 257 zuständige Staat (sofern sich die prioritäre Zuständigkeit aus einer Beschäftigung ergibt) ergänzend die Differenz – den sogenannten Unterschiedsbetrag – zu leisten, um der Familie die der Höhe nach günstigste Leistung zu garantieren.
[...]
Art 60 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 regelt das Verfahren bei Anwendung von Art 67 und 68 der VO (EG) 883/2004 („Grundverordnung“). Kommt der Träger, bei dem der Antrag gestellt wurde, zu dem Schluss, dass seine Rechtsvorschriften zwar anwendbar, aber nach Art 68 Abs 1 und 2 der VO (EG) 884/2004 nicht prioritär anzuwenden sind, hat er „unverzüglich eine vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln“ zu treffen und den Antrag nach Art 68 Abs 3 der VO (EG) 883/2004 an den Träger des anderen Mitgliedstaats weiterzuleiten und den Antragsteller darüber zu informieren. Dieser Träger muss innerhalb von zwei Monaten zu der vorläufigen Entscheidung Stellung nehmen. Falls der Träger, an den der Antrag weitergeleitet wurde, nicht innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Eingang des Antrags Stellung nimmt, wird die vorläufige Entscheidung kraft Koordinierungsrechts anwendbar. Erfolgt keine Stellungnahme, ist davon auszugehen, dass der erste Träger die Koordinierungsregeln richtig angewendet hat. Der zweite Träger muss nun die nach seinen Rechtsvorschriften zustehenden Familienleistungen erbringen und den ersten Träger über die Höhe informieren (Reinhard in Eichenhofer ua, EU Sozialrecht, Kommentar [3. ErgLfg IV/12] VO [EG] 883/04 – K Art 68, 17).
5.1 Zum Verfahren nach Art 60 der Durchführungs-VO (EG) 987/2009:
5.2 Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die vom österreichischen Leistungsträger getroffene vorläufige Entscheidung über die Leistungszuständigkeit mangels einer Stellungnahme des italienischen Trägers anwendbar, also wirksam geworden ist, und als richtig anzusehen ist. Wie bereits die Vorinstanzen erkannt haben, ist aufgrund dieses Ergebnisses des Verfahrens nach Art 60 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 die Prüfung der Frage, ob die von der Kl in Österreich ausgeübte (geringfügige) Beschäftigung nicht doch eine Beschäftigung iSd Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 sei, nicht mehr vorzunehmen. Insoweit ist dem Revisionsrekursvorbringen somit nicht zu folgen.
6. Zur Frage der Säumnis:
6.1 Der Säumnisfall setzt voraus, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist (RS0083900). Gem § 27 Abs 3 Z 1 KBGG ist ein Bescheid auszustellen, wenn ein Anspruch auf eine Leistung gar nicht oder nur teilweise anerkannt wird.
6.2 Nach dem mit der Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 neu eingeführten § 27 Abs 4 KBGG wird für den Bereich des Kinderbetreuungsgeldes der Säumnisfall (abweichend von § 67 Abs 1 Z 2 ASGG) auf das Vorliegen von Entscheidungsreife nach rechtskräftiger Klärung wesentlicher Vorfragen und Erfüllung von Mitwirkungspflichten (vgl §§ 29 und 32 KBGG) eingeschränkt (Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 15/1).
6.5 In der höchstgerichtlichen Rsp wurde – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – in der E 10 ObS 112/18w auf § 27 Abs 4 KBGG Bezug genommen. Gegenstand dieser E war – anders als hier – die Bescheidpflicht nach § 27 Abs 4 KBGG, wenn das von der Bekl angenommene „Ruhen“ des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld (infolge Anrechnung einer der Höhe nach bereits bekannten vergleichbaren ausländischen Familienleistung) zur nur teilweisen Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes geführt hat. Der OGH ging davon aus, dass der Gesetzgeber implizit erst ab demjenigen Zeitpunkt eine Bescheidpflicht annehme, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen, sofern diese Festsetzung dem Antrag nicht voll entspricht. Erst ab diesem Zeitpunkt sehe der Gesetzgeber den Krankenversicherungsträger (insoweit abweichend von der absoluten Fristenregelung in § 67 Abs 1 Z 2 KBGG) als säumig an.
7. Für den vorliegenden Fall ergibt sich Folgendes:
7.1 Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht scheidet aus, wird doch von der Bekl gar nicht behauptet, dass die Kl trotz zweimaliger schriftlicher Aufforderung (§ 32 Abs 4 KBGG) einer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen wäre [...].
7.2 Wie die Revisionsrekurswerberin aber zutreffend aufzeigt, steht die Intention des Gesetzgebers erst ab dem Zeitpunkt eine Bescheidpflicht anzunehmen, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen, in Widerspruch zur unionsrechtlich verankerten Verpflichtung des nachrangig zuständigen Trägers zur Gewährung einer vorläufigen Leistung (Art 68 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004 und die entsprechenden Bestimmungen der DurchführungsVO): Sollte die im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat vorgesehene Familienleistung höher sein (Art 68 Abs 2 VO [EG] 883/2004), gebührt ein Unterschiedsbetrag. Der nachrangig zuständige Mitgliedstaat hat in diesem Fall „unbeschadet der Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die vorläufige Gewährung von Leistungen“ erforderlichenfalls den Unterschiedsbetrag als Vorschuss zu leisten (Art 68 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004).
[...]
8.1 Wie sich aus diesen Regelungen ergibt, soll die Antragstellung beim „falschen“ (nur subsidiär leistungszuständigen) Entscheidungsträger nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, der nachrangig zuständige Mitgliedstaat hat den Unterschiedsbetrag erforderlichenfalls als Vorschuss zu leisten. Eine Aussetzung der Leistungsgewährung soll maximal für zwei Monate zulässig sein (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO 883/2004 Rz 15).
8.2 Die Bekl hätte demnach als Entscheidungsträger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats aufgrund der VO (EG) 883/2004 und der DurchführungsVO (EG) 987/2009 nach fruchtlosem Verstreichen der zweimonatigen Frist zur Stellungnahme durch den italienischen Entscheidungsträger (die nach der Aktenlage spätestens Ende des ersten 258 Quartals des Jahres 2016 abgelaufen gewesen sein muss) auf Antrag einen allenfalls zustehenden Unterschiedsbetrag nach entsprechenden Erhebungen vorläufig festzustellen und allenfalls auszuzahlen gehabt. Gegebenenfalls wäre auch in Kauf zu nehmen gewesen, dass es zu Überzahlungen kommen kann, die späterhin nach dem Verfahren nach den Art 71-74 der DurchführungsVO auszugleichen wären (Art 60 Abs 5 VO [EG] 987/2009; Reinhard in Eichenhofer ua, EU Sozialrecht, VO 883/2004 [3. ErgLfg IV/12] Art 68 Rz 14).
8.3 Die Vorgangsweise bzw der Standpunkt, es begründe keinen Säumnisfall, vor Entscheidung bzw (positiver oder negativer) Bescheiderlassung über einen etwaigen vorläufigen Unterschiedsbetrag das Ergehen von Entscheidungen über den nach Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 an den italienischen Entscheidungsträger weitergeleiteten Antrag auf die betreffenden italienischen Familienleistungen bzw deren Höhe abzuwarten, steht mit Art 68 Abs 3 lit a der VO (EG) 883/2004 und der dort verankerten Verpflichtung, auf Antrag erforderlichenfalls den Unterschiedsbetrag als Vorschuss zu leisten, nicht in Einklang.
9.1 Der EuGH hat schon wiederholt ausgesprochen, dass das nationale Gericht das anzuwendende nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen muss. Ist eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, so ist das nationale Gericht verpflichtet, jede Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde, ohne dass das nationale Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwenden müsste (RS0109951 [T3]; RS0075866 [T4]).
9.2 Demnach ist die in § 27 Abs 4 KBGG geforderte Entscheidungsreife nach rechtskräftiger Klärung von Vorfragen iSd Vorgaben des Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 und Art 7 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 im vorliegenden Fall unionsrechtskonform (einschränkend) dahin zu verstehen, dass mit der Entscheidung über die Gewährung (oder Nichtgewährung) eines allfälligen vorläufigen Unterschiedsbetrags nicht so lange abgewartet werden kann, bis der prioritär zuständige Träger über die vergleichbare Familienleistung und deren Höhe endgültig entschieden hat. Vielmehr hätte die Bekl nach fruchtlosem Verstreichen der zweimonatigen Frist zur Stellungnahme des italienischen Leistungsträgers (nach der Aktenlage jedenfalls zum Ende des ersten Quartals 2016) innerhalb von sechs Monaten einen positiven oder negativen Bescheid über die (vorläufige) Leistungspflicht zur Erbringung eines etwaigen Unterschiedsbetrags zu erlassen gehabt, sofern sie der Kl nicht das Kinderbetreuungsgeld in der von ihr beantragten Variante 30+6 faktisch erbringt (§ 27 Abs 3 Z 1 KBGG). Es begründet daher einen Säumnisfall, wenn die Bekl bis Klagseinbringung im März 2017 keinen Bescheid über die (vorläufige) Leistung erlassen hat, auch wenn ihr noch keine rechtskräftige Entscheidung des prioritär zuständigen italienischen Trägers über die Höhe der in diesem Mitgliedstaat gebührenden Familienleistung vorgelegen hat. [...]
Der OGH befasst sich zunächst eingehend mit den Säumnisbestimmungen des § 27 Abs 4 KBGG, welche als lex specialis den allgemeinen Säumnisregelungen des § 67 Abs 1 Z 2 ASGG vorgehen. Das KBGG sieht hier im Bereich des Kinderbetreuungsgeldes erst dann eine Säumnis vor, wenn die Sache entscheidungsreif ist, was insb dann vorliegt, wenn wesentliche Vorfragen rechtskräftig geklärt sind und die Mitwirkungspflichten erfüllt wurden. Dazu zitiert er nicht nur die Gesetzesmaterialien, sondern (in der Folge unkommentiert) auch zahlreiche Stimmen aus der Literatur (Neumayr in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 [2018] § 67 ASGG Rz 15/1; Weißenböck in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz [2017] 201 f; Sonntag in Sonntag/Schober/Konecny, KBGG2 [2017] § 27 Rz 8 ff; und in Sonntag, Unionsverfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [8 f]; sowie Burger-Ehrnhofer in Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonusgesetz3 [2017] § 27 KBGG Rz 17), um schließlich seine eigene in der OGH-E vom 20.11.2018, 10 ObS 112/18w entwickelte Interpretation anzuführen, wonach erst ab demjenigen Zeitpunkt eine Bescheidpflicht anzunehmen sei, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, um das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen (sofern diese Festsetzung dem Antrag nicht voll entspricht). In der Folge erkennt der OGH jedoch, dass seine eigene in diesem anderen Fall aufgestellte Definition hier im Widerspruch zum Unionsrecht, im Konkreten zu Art 68 Abs 3 lit a der VO 883/2004 steht.
Entscheidend für die Unionsrechtswidrigkeit der bisherigen Interpretation der Entscheidungsreife ist mE aber nicht Art 68 Abs 3 lit a der VO 883/2004. Dieser sieht zwar die Verpflichtung des nachrangig zuständigen Trägers vor, erforderlichenfalls einen Unterschiedsbetrag zu zahlen, gibt aber weder Fristen vor, noch verpflichtet er zu einer vorläufigen Berechnung, obwohl noch nicht alle Berechnungsgrundlagen vorliegen. Allein nach Art 68 Abs 3 VO 883/2004 hätte die bisherige Interpretation des OGH zur Entscheidungsreife daher aus meiner Sicht aufrecht erhalten werden können. Jedoch begründet Art 7 Abs 1 der VO (EG) 987/2009, auf welchen der Verweis in Art 68 Abs 3 lit a der VO 883/2004 „unbeschadet der Bestimmungen der DurchführungsVO über die vorläufige Gewährung von Leistungen“ abzielt, die Notwendigkeit, die Entscheidungsreife gem § 27 Abs 4 KBGG anders, nämlich europarechtskonform, zu interpretieren. Denn nur dieser Artikel der DurchführungsVO sieht eine vorläufige Leistungspflicht für jene Fälle 259 vor, in denen dem zuständigen Mitgliedstaat nicht alle Angaben über die Situation in einem anderen Mitgliedstaat vorliegen, die zur Berechnung des endgültigen Betrags der Leistung erforderlich sind. Den Umweg über Art 68 Abs 3 lit a der VO 883/2004 hat der OGH möglicherweise deshalb genommen, da Art 7 Abs 1 der DurchführungsVO nur vom „zuständigen Träger“ spricht, Österreich hier aber gem Art 68 nur der nachrangig zuständige Träger ist. ME wäre dies nicht notwendig gewesen, da sowohl vorrangig als auch nachrangig zuständige Träger immer als „zuständige Träger“ zu qualifizieren sind, die Reihenfolge der Zuständigkeit für die Anwendung des Art 7 der DurchführungsVO somit keinen Unterschied macht (vgl auch EuGH 18.9.2019, C-32/18, Moser, Rn 45 zum Begriff des „betreffenden Mitgliedstaats“, ECLI:EU:C:2019:752). Art 7 der VO (EG) 987/2009 kommt somit immer dann zur Anwendung, wenn sich die Unsicherheit auf Sachverhaltselemente bezieht, die in einem anderen Mitgliedstaat vorliegen (vgl Spiegel in Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht7 [2018] 626). Ein grenzüberschreitender Fall im Anwendungsbereichs der VO (EG) 883/2004 bzw ihrer DurchführungsVO kann daher bereits entscheidungsreif iSv § 27 Abs 4 KBGG sein, obwohl noch Informationen aus einem anderen Mitgliedstaat ausständig sind, welche zur Berechnung der Differenzleistung notwendig wären. Die Sachverhaltselemente für die innerstaatliche Berechnung der eigenen Leistung (ohne Anrechnung der ausländischen Leistung) müssen jedoch vollständig vorliegen.
Bei rein innerstaatlichen Fällen hingegen, also jenen außerhalb des Anwendungsbereichs des koordinierenden Unionsrechts, kann der OGH bei seiner bisherigen Definition der Entscheidungsreife bleiben. Hier haben dem Träger weiterhin sämtliche Informationen zur Verfügung zu stehen, um das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach bestimmen zu können, bevor eine Säumnis auftreten kann.
Um zu entscheiden, wann der Zeitpunkt der Entscheidungsreife gem § 27 Abs 4 KBGG bei grenzüberschreitenden Sachverhalten im Anwendungsbereich der KoordinierungsVO europarechtskonform vorliegt, behilft sich der OGH mit den Verfahrensvorschriften des Art 60 der DurchführungsVO. Art 68 der VO (EG) 883/2004 sowie Art 7 der DurchführungsVO geben dazu keinerlei Hinweise. Entscheidend für ihn ist der Ablauf der in Art 60 Abs 3 der VO (EG) 987/2009 vorgesehenen Zwei- Monats-Frist. Dieser Zeitraum steht dem anderen Mitgliedstaat zu, dem ein Antrag auf eine Familienleistung vom vermeintlich nur nachrangig zuständigen Mitgliedstaat weitergeleitet wurde, um dazu Stellung zu nehmen.
Trifft ein Träger seine Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln, dh erachtet er sich wie die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) im vorliegenden Fall nur als nachrangig zuständig, und informiert den Träger des anderen Mitgliedstaates (hier Italien) darüber, indem er ihm den Antrag weiterleitet, so ist für die Dauer der zweimonatigen Stellungnahmefrist aus Sicht des OGH die Sache noch nicht entscheidungsreif. Die sechsmonatige Frist zur Erlassung eines Bescheides beginnt somit erst nach Ablauf dieser Stellungnahmefrist zu laufen. Der OGH stellt unmissverständlich fest, dass nicht so lange abgewartet werden kann, bis der prioritär zuständige Träger über die vergleichbare Familienleistung und deren Höhe endgültig entschieden hat.
Dies ist ein vernünftiger Ansatz, da ansonsten bei manchen EU-Staaten, mit denen die behördeninterne Kommunikation weniger gut funktioniert, der/die betroffene LeistungsempfängerIn unverhältnismäßig lange auf die Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld warten müsste. Das Kinderbetreuungsgeld würde so seinen Sinn als Einkommensersatz während einer Karenz völlig verlieren, wenn die Zahlung, sei es auch nur als Differenz zwischen der in den meisten Fällen niedrigeren ausländischen Leistung und der höheren österreichischen Leistung erst Jahre später erfolgte. Dies deckt sich mit der Intention des europäischen Gesetzgebers, durch klare Verfahrensregelungen in Art 60 der DurchführungsVO die Wartezeit für die Leistungsberechtigten möglichst kurz zu halten.
Reagiert der Träger des anderen Mitgliedstaates früher, also innerhalb der Zwei-Monats-Frist, und teilt dem österreichischen Träger die Höhe seiner Leistung mit, so beginnt die Entscheidungsfrist für den österreichischen Träger natürlich bereits ab diesem Zeitpunkt zu laufen. Es kann also festgehalten werden, dass dem österreichischen Träger spätestens nach Ablauf dieser zwei Monate maximal sechs weitere Monate zur Verfügung stehen, um die Ausgleichszahlung unter Heranziehung der ihm vorliegenden Informationen zu berechnen, ohne säumig zu werden.
Wie weit die in § 27 Abs 4 KBGG ebenfalls fixierte Mitwirkungspflicht geht, bleibt in diesem Fall offen, da der OGH lapidar festhält, dass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht hier ausscheidet, da dies von der Bekl nicht vorgebracht wurde. Aufgrund des klar festgelegten Verfahrens gem Art 68 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 iVm Art 60 Abs 3 VO (EG) 987/2009 zur Weiterleitung des Antrages an den ausländischen Träger durch den Träger, bei dem der Antrag ursprünglich eingebracht wurde, darf mE vom/von der AntragstellerIn im Rahmen der Mitwirkungspflicht nicht verlangt werden, selbst einen Antrag beim vorrangig zuständigen Träger einzubringen.
Art 7 Abs 1 der DurchführungsVO schränkt die Verpflichtung auf eine vorläufige Berechnung dahingehend ein, dass diese nur dann zu erfolgen hat, „wenn eine solche Berechnung auf Grundlage der dem Träger vorliegenden Angaben möglich ist“
. Der OGH geht auf diese Einschränkung mit keinem Wort ein, sondern überträgt es dem Erstgericht nach entsprechenden Erhebungen, den Unterschiedsbetrag vorläufig festzustellen. Die dem Träger (der WGKK) im konkreten Fall vorliegenden Angaben und die dadurch vorhandene Möglichkeit, 260 eine Berechnung tatsächlich vorzunehmen, werden zur Feststellung der Säumigkeit vom OGH nicht näher geprüft. Es ergibt sich aber aus dem Vorbringen der Bekl, dass ihr die in Italien vorgesehenen Familienleistungen zumindest dem Namen nach bekannt sind. Dass der österreichische Träger aber so weit gehen muss, selbst das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen auf die ausländischen (hier italienischen) Familienleistungen zu prüfen, ist meiner Ansicht nach nicht anzunehmen und würde die Fachkompetenz der zuständigen Träger auch klar übersteigen. Da aber keine endgültige, sondern nur eine vorläufige Berechnung gem Art 7 der VO (EG) 987/2009 zu erfolgen hat, ist dies mE auch nicht notwendig. Ist dem nachrangig zuständigen (hier österreichischen) Träger nicht bekannt, ob bzw in welcher Höhe ein Anspruch auf eine ausländische Familienleistung besteht, so wird die österreichische Differenzleistung vorläufig in voller Höhe auszuzahlen sein. Ein willkürlicher Abzug einer fiktiven Summe, zB in Höhe der maximal möglichen ausländischen Leistung, ist mE mit dem Sinn und Zweck einer Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung nicht vereinbar. Art 7 VO (EG) 987/2009 sowie die Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 und die Verfahrensvorschriften nach Art 60 VO (EG) 987/2009 verfolgen in ihrer Gesamtschau das Ziel, einem Leistungsempfänger zeitgerecht einen Gesamtbetrag an Leistungen zu garantieren, der gleich dem Betrag der günstigsten, also höchsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (vgl EuGHC-32/18, Moser, Rn 42 und 46, ECLI:EU:C:2019:752). Obergrenze aber zugleich auch Untergrenze ist somit die jeweils höhere Leistung. Ob diese Leistung aufgrund der Prioritätsregeln von nur einem oder von beiden beteiligten Staaten gemeinsam zu erbringen ist, ist aus Sicht des Empfängers grundsätzlich zweitrangig. Im Übrigen unterscheidet sich hier die VO (EG) 883/2004 auch klar von ihrer VorgängerVO (EG) 1408/71, welche in Art 76 Abs 2 noch ausdrücklich vorsah, dass der nachrangig zuständige Mitgliedstaat nicht realisierte Ansprüche im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat von seinen Leistungen abziehen durfte. Die VO (EG) 883/2004 sieht eine solche Möglichkeit hingegen nicht mehr vor (vgl Spiegel in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht [2009] 126).
Ist daher klar abzusehen, dass Österreich jedenfalls eine höhere Familienleistung vorsieht als beispielsweise Italien, so übersteigt die gesamte Leistungshöhe aufgrund der Antikumulierungsvorschriften nie den (höheren) österreichischen Betrag. Zu einer Überzahlung und somit zu einer Rückzahlungsverpflichtung des/der EmpfängerIn kann es daher nicht kommen, da Art 60 Abs 5 der DurchführungsVO einen Rückforderungsanspruch des nachrangig zuständigen (österreichischen) Trägers, der die vorläufige Zahlung übernommen hat, über den zu viel geleisteten Betrag gegenüber dem vorrangig zuständigen (italienischen) Träger vorsieht. Kann die österreichische Leistung also berechnet werden und ist der/die Anspruchsberechtigte seiner/ ihrer Mitwirkungspflicht soweit nachgekommen, dass die österreichischen Anspruchsvoraussetzungen geprüft werden können, so hat der österreichische Krankenversicherungsträger auch als nachrangig zuständige Stelle die Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld vorläufig in voller Höhe zu bezahlen, sofern ihm die Höhe einer (möglicherweise zustehenden) ausländischen Leistung nicht binnen acht Monaten (2+6) ab Weiterleitung des Antrages gem Art 60 Abs 3 DurchführungsVO bekannt gegeben wurde.