Kiel/Lunk/Oetker (Hrsg)Münchener Handbuch Arbeitsrecht – Kollektives Arbeitsrecht I und II – Arbeitsgerichtsverfahren

4. Auflage, C.H. Beck Verlag, München 2019 3.128 Seiten, Leinen, € 398,–

HANNAHDÖLZLMÜLLER (SALZBURG)

Das Münchener Handbuch Arbeitsrecht ist eines der renommiertesten Werke zum deutschen Arbeitsrecht. Es handelt sich um eine systemische Gesamtdarstellung des deutschen Arbeitsrechts mitsamt internationalen und europarechtlichen Einflüssen und besteht mit der vierten Auflage aus insgesamt vier Bänden. Die vorliegende Rezension behandelt nur die Bände 3 und 4, die das kollektive Arbeitsrecht sowie das Arbeitsgerichtsverfahren zum Gegenstand haben.

Die ursprünglichen Herausgeber der ersten und zweiten Auflage, Reinhard Richardi und Otfried Wlotzke, haben an der vorliegenden vierten Auflage nicht mehr mitgewirkt, von den Herausgebern der dritten Auflage ist nur noch Hartmut Oetker, Professor an der Universität zu Kiel sowie Richter am Thüringer Oberlandesgericht beteiligt. Als Herausgeber hinzugekommen sind Stefan Lunk, der als Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg und als Honorarprofessor an der Universität zu Kiel tätig ist und Heinrich Kiel, vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht und Honorarprofessor an der Universität Hannover. Aber nicht nur die drei Herausgeber sind ausgewiesene Experten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts: alle zwölf (Bd 3) bzw vierzehn (Bd 4) AutorInnen, die die jeweiligen Beiträge bearbeitet haben, sind hochqualifizierte RepräsentantInnen aus Wissenschaft und Praxis. So konnte sichergestellt werden, dass das Werk durchwegs nicht nur höchsten qualitativen, sondern wissenschaftlichen wie praktischen Ansprüchen genügt.

Im Einzelnen beinhaltet Bd 3 Zweck und Gestaltungsformen kollektiver Beteiligung (Erster Abschnitt §§ 215, 216, bearbeitet von Phillipp Fischinger), die Koalitionsfreiheit als Grundrecht der Arbeitsverfassung (Zweiter Abschnitt §§ 217- 221, bearbeitet von Volker Rieble), das Koalitionsverbandsrecht (Dritter Abschnitt §§ 222-224, ebenfalls bearbeitet von Volker Rieble), das Tarifvertragsrecht (Vierter Abschnitt §§ 225-264, bearbeitet von Steffen Klumpp), das Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht (Fünfter Abschnitt, §§ 265-282, bearbeitet von Oliver Ricken), sowie den ersten Teil des Betriebsverfassungsrechts, genauer die Organisation der Betriebsverfassung und deren geltende Leitmaximen (Sechster Abschnitt §§ 283-312, bearbeitet von Burkhard Boemke, Christopher Krois, Stefan Lunk, Mathias Nebendahl, Katrin Stamer, Barbara Reinhard, Volker Vogt und Katja Francke).

Die Beteiligungsrechte des BR (§§ 313-353, bearbeitet von Christian Arnold, Erwin Salamon, Nathalie Oberthür, Stefan Lunk, Annette Volk, Tobias Leder und Volker Vogt), die europäische Betriebsverfassung (§§ 354-358, bearbeitet von Timon Grau), das Personalvertretungsrecht (Siebenter Abschnitt, §§ 359-365, bearbeitet von Claas Friedrich Germelmann), das Mitarbeitervertretungsrecht (Achter Abschnitt, §§ 366-367, bearbeitet von Hermann Reichold), die Vertretung der AN in Unternehmensorganen (Neunter Abschnitt, §§ 368-386, bearbeitet von Katharina Uffmann, Sebastian Naber und Ulrich Sittard) und die Arbeitsgerichtsbarkeit (Viertes Buch §§ 387-394, bearbeitet von Matthias Jacobs) werden im vierten Band behandelt.

Diese Besprechung kann nur stichprobenartig auf Inhalte eingehen. Für eine vertiefende dogmatische Auseinandersetzung sind die beiden Bücher mit über 3.000 Seiten zu umfangreich und der vorliegende Rahmen zu eng.

Vom Standpunkt des österreichischen Rechts interessant sind (insb) die Kapitel über das Arbeitskampfrecht (Bd 3 §§ 265 ff, S 611 ff). Schon die Ausführungen zum Begriff des Arbeitskampfes zeigen spannende Parallelen der beiden Rechtsordnungen auf, wie etwa den Umstand, dass es an gesetzlichen Regelungen des Arbeitskampfes in der Regel fehlt und beide Rechtsordnungen mit konkreten Aussagen sehr zurückhaltend sind. „Schon der Versuch einer Begriffsbestimmung zeigt, dass man für das Arbeitskampfrecht in Deutschland kaum auf gesetzliche Regelungen trifft, die an den Arbeitskampf anknüpfen oder diesen gar regeln wollen“ (§ 265, S 611, Rz 1). Oliver Ricken, der Autor der gegenständlichen Kapitel zum Arbeitskampf, beschreibt diesen zunächst als ein Phänomen, dessen Herkunft in der Unvollkommenheit des freien, selbstbestimmten Aushandelns von Arbeitsbedingungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien wurzelt. Dass dieser Befund auch auf Österreich zutrifft, kann per se nicht verwundern, haben die österreichische und deutsche Rechtstradition im kollektiven Arbeitsrecht doch – trotz vieler zweifellos bestehender und mitunter gravierender Unterschiede – demselben Sozialphänomen und diesbezüglichen Entwicklungstendenzen Rechnung 279 getragen. Dies zeigt sich besonders auch im Kapitel über die geschichtliche Entwicklung des Arbeitskampfrechts (Bd 3 § 267, S 632 f), das einen Bogen bis zurück ins alte Ägypten spannt und eine wahre Fundgrube an Literaturnachweisen ist, die geneigten LeserInnen Anhaltspunkte an die Hand gibt, sich weiter in diese äußerst spannende Materie zu vertiefen.

Im Unterschied zu Österreich, wo es aufgrund einiger Spezifika verhältnismäßig wenige Arbeitskämpfe gibt und die Entwicklung des diesbezüglichen Richterrechts daher – vor allem wenn es um die Kernfragen des Arbeitskampfrechts geht – nicht sehr fortgeschritten ist, ist das Arbeitskampfrecht Deutschland weitgehend durch die Rsp geprägt, die zu studieren auch für österreichische JuristInnen spannend und aufschlussreich ist. Das Kapitel Internationales Recht und Arbeitskampf (Bd 3 § 269, S 643 f) ist für österreichische JuristInnen sogar von unmittelbarer Relevanz. So erläutert Ricken etwa die Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta (GrCh) im Zusammenhang mit dem internationalen Arbeitskampfrecht und weist, zurecht, darauf hin, dass das Verhältnis der GrCh zum nationalen Recht (noch) nicht letztverbindlich geklärt ist, weshalb die überaus brisante Frage, inwieweit die Gewährleistungen der Art 27-33 GrCh Verbindlichkeit beanspruchen können (S 645, Rz 5), vorerst offenbleiben muss, sofern es nicht um rein innerstaatliche Sachverhalte geht, in denen die GrCh von vornherein keine Anwendung findet.

Kritisch anmerken könnte man, dass mit internen Verweisen auf andere einschlägige Stellen im Werk – das insgesamt immerhin vier Bände und rund 8.000 Seiten umfasst – (zu) sparsam umgegangen wurde. Das ist schade, könnten LeserInnen so doch noch mehr von den detailreichen Inhalten des Werks profitieren. Exemplarisch kann auf die Ausführungen von Matthias Jacobs zu einstweiligen Verfügungen im Streikrecht verwiesen werden, welche eine „eindeutige Rechtswidrigkeit der Arbeitskampfmaßnahme“ voraussetzen (Bd 4 § 393 Rz 21). Ein Verweis auf die entsprechenden materiell-rechtlichen Ausführungen von Oliver Ricken zu den Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen eines Streiks (Bd 3 § 272 Rz 33 ff) bzw zu den Rechtsfolgen von Arbeitskampfmaßnahmen (Bd 3 § 276) wäre hier wünschenswert gewesen. Dort, wo es entsprechende Verweise gibt, wird auf die einschlägigen Paragraphen im Werk und die dazugehörige Randziffer verwiesen, nicht aber die entsprechende Seite angegeben, wo die gesuchte Stelle zu finden ist; dies wäre iSd Benutzerfreundlichkeit ebenfalls vorteilhaft gewesen.

Auch fehlt ein Zeichenband, das das Wiederfinden von interessierenden Stellen und ganz allgemein die Orientierung in diesem umfangreichen Werk erleichtern und so die Benutzerfreundlichkeit noch steigern würde.

Zusammenfassend liegt mit der neuen Auflage des Münchener Handbuchs zum Arbeitsrecht ein Werk vor, das in umfassender, zuverlässiger und gründlicher Weise über den heutigen Stand des kollektiven Arbeitsrechts und des Arbeitsgerichtsverfahrens in Deutschland informiert. Wo es strittige Frage gibt, werden die dogmatischen Knackpunkte, unterschiedliche Meinungsströme in Wissenschaft und Praxis, sowie der Gang der Gesetzgebung dargelegt und die eigene Meinung wohl begründet. Das ermöglicht es, sich zu den einzelnen Themen eine eigene Meinung zu bilden und eigene Antworten auf die brennenden Fragen des kollektiven Arbeitsrechts zu finden. Jeder, der wissenschaftlich oder praktisch mit dem kollektiven Arbeitsrecht bzw der Arbeitsgerichtsbarkeit zu tun hat, wird, auch wenn er mit österreichischem Arbeitsrecht befasst ist und nicht aus den Augen verliert, dass trotz ähnlicher Geschichte und gleicher Wurzeln mitunter doch gravierende Unterschiede zwischen den beiden Rechtsordnungen bestehen, mit Gewinn dieses Handbuch benützen.