HerzogDie Rettung der Arbeit – Ein politischer Aufruf
Hanser Verlag, Berlin 2019, 224 Seiten, gebunden, € 22,–
HerzogDie Rettung der Arbeit – Ein politischer Aufruf
Lisa Herzog motiviert, über Arbeit nachzudenken! Nicht umsonst habe ich dieses Buch also während des Urlaubs gelesen und mir dabei solcherart „arbeitend“ fortwährend die Frage gestellt, ob diese Verflechtung von Dienst und Freizeit nun doch keine Folge der digitalen Transformation, sondern vielmehr des Umstandes ist, dass ich im Genuss der urlaubsbedingten Freiheit gerne darauf verzichte, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen ...“ usw, jedoch mich stattdessen viel lieber freiwillig der Lust hingebe, „nach dem Essen zu kritisieren“ (S 60). Die Autorin erklärt an jener Stelle übrigens nachvollziehbar, warum diese Marx‘sche Kritik an der Arbeitsteilung nicht haltbar ist, erinnert an Émile Durkheim, der im ausgehenden 19. Jahrhundert keinen Grund gesehen hatte, anzunehmen, „dass Arbeitsteilung schädlich oder unmenschlich sei“, sofern nur (ua) „verzerrende Faktoren wie Ungerechtigkeit, Machtungleichheit und Zwang aus dem System ausgeschlossen würden“ (Durkheim [1977] [fr. Original 1893], Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften [Frankfurt a. M.] 439 ff; Herzog, aaO 62).
Die Philosophin Lisa Herzog überfordert uns „Nicht- Philosophen“ keineswegs mit wissenschaftlichen Disputen auf höchstem Niveau. Genau dafür verweist sie auf ihre Habilitationsschrift „Reclaiming the System. Moral Responsibility, Divided Labour and the Role of Organisation in Society (Oxford 2018) (S 191) und wählt für die Darstellung im vorliegenden Buch die ansprechende Form des Fließtextes ohne „störende“ Fußnoten, kombiniert mit einer überaus präzisen Dokumentation im Anhang, welche es wiederum wissenschaftlich orientierten Leserinnen (und auch Lesern) – der bewusst gewählte (S 18), beiläufig und zufällig wirkende Wechsel zwischen den Geschlechtern erspart übrigens das sperrige Binnen-I – möglich macht, jede Aussage punktgenau nachzuvollziehen. Das ist dringend notwendig – besonders für dieses Thema! Denn, was die Autorin für wichtig erklärt, kritisiert und politisch fordert, ist nicht einfach so dahin gesagt: Die Philosophin liefert Beweise! Man kann die hier präsentierten Inhalte also nicht als „irgendwelche Meinungen“ abtun. Es wurden in der vorliegenden Publikation bestens belegte Forschungsergebnisse in dankenswerter Weise in eine auch für Fachfremde bekömmliche Sprache übersetzt. Dieses Buch sollten daher ua folgende (Berufs-)Gruppen lesen (und verstehen): PolitikerInnen, Wirtschaftstreibende, BörsenmaklerInnen und SpekulantInnen, ExpertInnen und MarktteilnehmerInnen im digitalen Handel, selbsternannte HeldInnen der digitalen Welt, welche in der „Crowd“ und in der „Cloud“ verarmen, während sie ferngesteuert vom freien Unternehmertum träumen. Und, bitte, vor allem PädagogInnen sollten dieses Buch lesen! Denn sie sind es, die genau dieses Wissen an die nächsten Generationen weitergeben sollten.
Und worum geht es nun tatsächlich? Es geht zunächst darum, dass wir alle, Menschen der Gegenwart an der Schwelle zur Zukunft, am einen und am anderen Ende der Skala, dort entdeckt und aufgedeckt werden, wo wir gerade stehen: Die einen zitternd in einen Winkel vergraben und resignierend darauf wartend, vom Tornado 283 der digitalen Transformation herumgewirbelt und weggerissen zu werden („Pessimisten“), und die anderen, mit Wonne auf den höchsten Wellen der sturmgepeitschten digitalen Welt reitend, überzeugt, man könne mit innovativer Technik wirklich alle Probleme lösen, und keinen Gedanken daran verschwendend, man könnte dabei auch untergehen („Optimisten“). Lisa Herzog erklärt als „Realistin“ (S 74 ff) uns allen das wohl Wichtigste, was man über die Veränderungen der Arbeitswelt im Zuge der Digitalisierung wissen muss: Die digitale Transformation ist keine Naturgewalt (S 71 ff). Es folgt all dies, was eben geschieht, nicht einer „höheren Logik“, gegen die man nichts tun könne, sodass sowohl „Privatleute als auch Politikerinnen aus ihrer Verantwortung entlassen“ seien (S 71 f). Im Gegenteil! Es liegt in der Verantwortung der Politik, den Rahmen der Märkte zu gestalten (S 91). Dabei gehe es nicht darum – so Herzog –, immer neue Regeln zu schaffen, sondern „um die Frage, welche Regeln für wen gelten und wie effektiv sie durchgesetzt werden“, denn es gäbe für eine demokratische Gesellschaft „kaum eine gefährlichere Tendenz, als wenn der Eindruck entsteht, man hänge die Kleinen und lasse die Großen laufen“ (S 104). Wie man in einer Welt, in der der technische Fortschritt gepaart mit der Macht der Märkte alles dirigiert, und Kontrollmöglichkeiten – nicht zuletzt auch dank Digitalisierung – schier grenzenlos erscheinen, mit Verantwortung (nicht) umzugehen hat, wird ua anhand jener Sachverhalte anschaulich gemacht, die in Europa schon jedes Kind zumindest vom Hörensagen kennt, wie etwa dem Beispiel des VW-Diesel-Abgas-Skandals (S 105 ff).
Mit dem Thema Verantwortung aufs engste verbunden ist in den Forschungen von Lisa Herzog die Frage, wer die „Helden“ unserer Zeit sind. Als Sukkurs aus der Erkenntnis, dass einerseits wirtschaftliche Vormacht ebenso wie grandiose Forschungserfolge im Laufe der Geschichte niemals nur die Folge des Schöpfungsaktes eines einsamen Genius gewesen waren (S 32 ff) und dass andererseits die Verantwortung für Misserfolge viel zu oft – was aber niemals sein dürfte – auf kleine Rädchen im Getriebe des Ganzen abgewälzt wird, liegt die Antwort auf der Hand: Nicht jene gefeierten Genies, welche „die kreative Zerstörung“ des Wettbewerbs vorantreiben – Herzog nennt an dieser Stelle exemplarisch Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Sergey Brin
und Larry Page
–, sind es, sondern die Whistleblower – sie sind die wahren Helden unserer Zeit (S 32 ff, 66 ff).
Wer die Zukunft düster sieht – die eigene Arbeit und die der KollegInnen vom „Kollegen“ Roboter bedroht, der arbeitende Mensch vereinsamt und verarmt und die Gesellschaft entsolidarisiert und in einem stetigen Verteilungsprozess von unten nach oben befindlich –, erhofft sich unter dem Titel „Rettung der Arbeit“ positive Perspektiven. Lisa Herzog gibt uns ein kleines Stückchen Optimismus zurück. Nachdem sie zunächst den Traum vom alles rettenden bedingungslosen Grundeinkommen entzaubert (S 132 ff), führt sie uns im politisch wichtigsten Kapitel 5 allmählich zu einer Lösung. Diese heißt: Partizipation in der digitalen Arbeitswelt (S 143 ff). Doch sie bleibt auch an dieser Stelle realistisch: „Die Eliten, die derzeit an der Spitze der wirtschaftlichen Hierarchien stehen, werden ihre Positionen kaum ohne Widerstand aufgeben.“ (S 145). Rund um sehr handfeste Lösungsvorschläge – wie etwa der Umlegung der Genossenschaftsidee auf digital gesteuerte Dienstleister, wie den Fahrdienstleister Uber
(S 169) – werden die abschließenden Ausführungen über Demokratie in der Arbeitswelt (S 161 ff) zu grundlegenden Betrachtungen über Demokratie an sich, Herrschaftsformen und Hierarchien.
Fazit: Die Belege für die Notwendigkeit der Demokratisierung der Wirtschaft zum Zwecke der Rettung der Arbeit, nunmehr vor dem Hintergrund der digitalen Transformation, liegen vor – die Umsetzung in die Realität erscheint heute nicht viel leichter als seinerzeit vor mehr als hundert Jahren.