Der EuGH zu nationalen Regeln gegen Lohn- und Sozialdumping – Alte Fehler und neue Probleme
Der EuGH zu nationalen Regeln gegen Lohn- und Sozialdumping – Alte Fehler und neue Probleme
Die Entscheidung „Maksimovic“ des EuGH verstärkt das Unbehagen mit dessen, bereits vielfach kritisierter Rsp: Können seine Prüfschemata für Maßnahmen, die die Marktfreiheiten berühren, nach dem Wandel der Wirtschaftsgemeinschaft(en) in eine politische Union unverändert bleiben? Können diese Freiheiten überhaupt durch nicht-diskriminierende Regelungen des Verwaltungsstrafrechts beeinträchtigt werden? Zudem zeigen sich Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens in neuer Deutlichkeit.
Einleitung
Überblick
Zum Sachverhalt: Viele Straftaten oder nur viele Betroffene?
Semantisches
Der EuGH arbeitet mit den nationalen Gerichten nicht zusammen und gibt daher Hinweise zu Rechtslagen, die gar nicht bestehen
Das strukturelle Problem: Allmacht des vorlegenden Gerichts?
Unvollständige Darstellung der nationalen Rechtslage
Keine Rückfrage bei offenbaren und kritisierten Fehlern eines Vorlagebeschlusses
Bezirksgericht Bleiburg gegen VfGH – Nur das Bezirksgericht zählt!
Lösungsvorschlag: Zusammenarbeit der (Höchst-)Gerichte
Kann das Verwaltungsstrafrecht überhaupt die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigen?
Redliche und unredliche Kaufleute
Kostenfragen
Der EuGH ignoriert den Vertrag von Lissabon und untergräbt dadurch die Union
Die Marktfreiheiten sind nicht mehr zentraler Inhalt der EU-Verträge
Erste Konsequenz: Gleichrangige Abwägung – die meisten Marktfreiheiten enthalten gar kein Beschränkungsverbot!
Zweite Konsequenz: Viel mehr Spielraum für die Mitgliedstaaten!
Muss die österreichische Rechtslage geändert werden?
Grundsätze
Das Verwaltungsstrafrecht, insb die „Strafkumulation“
Verfahrenskosten
Ersatzfreiheitsstrafen
Zahlungsstopp und Sicherheitsleistung
Zusammenfassung und Nachtrag195
Die Entsendung von AN, aber auch die AN-Freizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit sind die politisch wohl „riskantesten“ Regelungen des europäischen Rechts. Sie öffnen tendenziell ein weites Feld für Sozialdumping und einen Wettlauf „nach unten“ auf dem Feld des Arbeits- und Sozialrechts. Es ist kein Zufall, dass sie wesentlicher Inhalt der Brexit-Debatte waren! Großbritannien hat zwar jeweils radikal und ohne Übergangsfristen den Arbeitsmarkt geöffnet. Aber damit hatte es den Vorgaben des europäischen Rechts am besten entsprochen! Österreichs vorsichtige und schrittweise Vorgangsweise war nur ausnahmsweise zulässig.
In diesem heiklen Feld bewegt sich der EuGH seit jeher wie der berühmte Elefant im Porzellanladen. Wie ich zeigen möchte, beruht das auf einer langjährigen Rsp, die das europäische Höchstgericht unverändert beibehält, obwohl sich der Charakter der Union und mit ihm die einschlägige Rechtslage drastisch verändert hat! Dazu kommen noch Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens, die erneut* dazu geführt haben, dass die Darstellung der österreichischen Rechtslage, von welcher der EuGH ausgeht, grobe Fehler aufweist.
Ich möchte im Folgenden anhand der E über das österreichische Verwaltungsstrafrecht (Maksimovic ua*) die fragliche Rechtsprechungslinie des EuGH und ihre Fehler diskutieren. Dabei beziehe ich auch eine frühere E betreffend die (Un-)Zulässigkeit von Maßnahmen zur vorbeugenden Sicherung der Einbringlichkeit allfälliger Geldstrafen („Cepelnik“*) ein. Da dieser Aufsatz zugleich eine Besprechung der E Maksimovic* darstellt, gehe ich von den konkreten, auf diese E bezogenen Bedenken Schritt für Schritt zu den allgemeinen Einwänden weiter. Abschließend werde ich in beiden Fällen kurz untersuchen, ob eine Änderung der österreichischen Rechtslage nötig ist.
Liest man die E Maksimovic, entsteht zunächst der Eindruck, es habe – allein wegen der Vielzahl der Betroffenen – aufgrund einer einmaligen Verwaltungsübertretung (Nichtbereithaltung von Lohnunterlagen) eine Strafe von je 2,6 Mio €* gegen mehrere Vorstände der Andritz AG verhängt werden müssen (weitere 2,4 Mio € wegen illegaler Ausländerbeschäftigung werden mitunter auch noch addiert, ebenso die Strafe gegen den Geschäftsführer des kroatischen AN-Überlassers).
Entgegen dieser auch in Österreich weit verbreiteten Darstellung wurden die Vorstände der Andritz AG nicht wegen einer einmaligen Straftat mit vielen betroffenen AN zu Millionenstrafen verurteilt! Die für einen einzelnen Vorfall vorgesehene Mindeststrafe (ohne außerordentliche Milderung) beträgt vielmehr € 434.000,– bei 217 betroffenen AN.* Nur wurden Lohnunterlagen dreimal nicht bereitgehalten (und zudem 200 Drittstaatsangehörige in Österreich illegal beschäftigt*). Erst eine Addition dieser drei Strafen und der Umstand, dass offenbar eben nicht nur die Mindeststrafen verhängt wurden, führt zur – propagandistisch natürlich nützlichen – Millionenhöhe.
Auch € 434.000,– klingt nach einer nicht geringen Geldstrafe. Man muss sie aber mit dem Einkommen der Betroffenen vergleichen (§ 19 Abs 2 VStG): So verdiente der Vorstandsvorsitzende der Andritz 2016 3,7 Mio €,* also circa € 308.000,– pro Monat. Die Mindeststrafe würde somit 1,4 Monatsbezüge ausmachen. Ist das angesichts der krassen Missachtung einfacher, leicht zu erfüllender Pflichten in 217 Fällen wirklich viel? Nur zum Vergleich: Wenn man den Ergebnissen der KMU-Forschung Austria trauen darf, verdient ein kleiner/mittelgroßer österreichischer Bauunternehmer (mit weniger als 250 Beschäftigten und einem Umsatz unter 50 Mio €) im Jahr durchschnittlich € 45.000,–. Bei gleicher Relation der Strafe zum Einkommen würde die Strafe € 5.300,– betragen (bei fiktiv gleichfalls 217 betroffenen AN). Würde eine solche Strafe als skandalös gelten?
Vielleicht ein letzter „atmosphärischer“ Hinweis: Art 83 Abs 4 der Datenschutz-Grundverordnung der EU regelt Sanktionen gegen formale Verfehlungen (wie die unterlassene Mitteilung der Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten an die Aufsichtsbehörde). Danach dürfen die Strafen bis zu 10 Mio € oder bis zu 2 % des weltweiten Jahresumsatzes des Vorjahres (Andritz-Konzern: 2014 5,85 Mrd) betragen. Die Strafen bei materiellen Verstößen sind gem Abs 5 doppelt so hoch.
In Österreich ist es üblich, von den „europäischen Grundfreiheiten“ zu sprechen – auch in der juristischen Fachöffentlichkeit. Einen solchen Begriff kennen allerdings die EU-Verträge nicht. Seine Verwendung erweckt den falschen Eindruck, es handle sich dabei um Grundrechte iSd Grund- und Freiheitsrechte oder doch um so etwas wie Grundsätze oder „Verfassungsbestimmungen“ der EU-Verträge. Davon kann aber überhaupt keine Rede sein! Die fraglichen vier „Freiheiten“ dienen lediglich der Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes und haben keinerlei Grundrechtscharakter. Ich verwende daher jene Bezeichnung, die den Inhalt der einschlägigen Normen korrekt wiedergibt: Marktfreiheiten.* Damit ist keine Abwertung 196intendiert; wer eine solche vermutet, möge die eigene Haltung zum Begriff „Markt“ überdenken. Es soll lediglich der Schein einer grundrechtlichen Fundierung vermieden werden.*
Die E macht ein strukturelles Problem gut sichtbar, das eigentlich leicht zu lösen wäre – wenn der EuGH nur wollte: Der EU-Gerichtshof ist zur Erfüllung seiner Aufgabe, im Vorabentscheidungsverfahren Hinweise zur Übereinstimmung nationalen Rechts mit den Vorgaben der europäischen Verträge zu geben, auf solide Kenntnisse der jeweiligen nationalen Rechtsordnung angewiesen. Er darf sich aber andererseits in die jeweilige nationale Rsp nicht einmischen, sondern muss diese den nationalen (Höchst-)Gerichten überlassen. Nur die Auslegung europäischen Rechts ist seine Aufgabe. Es bedarf daher eines sorgfältigen Zusammenspiels zwischen der Klärung des genauen Inhalts des nationalen Rechts, die allein den nationalen Gerichten obliegt und der darauf Bezug nehmenden Auslegung europäischen Rechts, die der EuGH vorzunehmen hat. Die E zeigt, dass schon diese Zusammenarbeit derzeit nicht funktioniert: Der EuGH hinterfragt weder offenbar unvollständige Darstellungen der nationalen Rechtslage, noch greift er Hinweise auf Fehler eines Vorlagebeschlusses auf, wie gleich (Pkt 2.2. und 2.3.) gezeigt wird. Rückfragen in solchem Zusammenhang wären aber keine unzulässige Einmischung, weil sie ja ausdrücklich die Deutungshoheit beim vorlegenden Gericht belassen.
Dazu kommt noch, dass verschiedene nationale Gerichte einschlägige nationale Regelungen je anders auslegen können. Das könnte zu lustigen, divergierenden Hinweisen des EuGH zu „einer Regelung ..., wie die im Ausgangsverfahren“ führen, wenn mehrere nationale Gerichte dieselben Fragen stellen, aber ihre Auslegung des nationalen Rechts in einem europarechtlich relevanten Ausmaß divergiert.* Ähnliches ist nun passiert: Ein Gericht erster Instanz fasst einen Vorlagebeschluss, aber das nationale Höchstgericht verwirft in einem anderen Verfahren Rechtsauffassungen, auf denen dieser Beschluss beruht. Der EuGH ignoriert die Rechtsauffassung des Höchstgerichtes! Nur die Sicht des vorlegenden Gerichtes zählt für ihn und zwar selbst dann, wenn er auf Fehler bzw Mängel dieser Sicht, ja auf ihren Widerspruch zur Rsp, hingewiesen wurde (Pkt 2.4). Sehen wir uns diese Probleme an Hand der zwei aktuellen Fälle an:
Im Fall Maksimovic hat das vorlegende Gericht zwar die Regelungen des AVRAG, AuslBG und auch des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG) angeführt, die für jegliche Verwaltungsstrafe aber viel wesentlicheren, grundsätzlichen Regelungen des Verwaltungsstrafgesetzes (VStG) völlig unerwähnt gelassen.* Dieser Mangel hätte dem EuGH auch auffallen müssen, zumindest wäre die Rückfrage angebracht gewesen, ob es in Österreich keinerlei Normen gibt, welche festlegen, nach welchen Kriterien innerhalb der vorgegebenen Mindest- und Höchststrafen die konkrete Strafhöhe festzulegen ist. Sonst wäre ja die Verhältnismäßigkeit, aber auch Gesetzmäßigkeit der Strafbemessung generell infrage gestellt! Aber die österreichische Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme ohnedies auf all dies hingewiesen.*
Der EuGH ignoriert es trotzdem! Damit ist das gesamte System der Strafbemessung im österreichischen Verwaltungsstrafrecht unberücksichtigt geblieben. Im Anlassfall geht es zumindest um folgende Aspekte:
Die Höhe der Strafe hängt, neben dem Ausmaß des Verschuldens, der Bedeutung des geschützten Rechtsgutes usw, auch von den Einkommensverhältnissen des Bestraften, ab (§ 19 Abs 2 VStG);
Es besteht bei Überwiegen von Milderungsgründen die Möglichkeit zur außerordentlichen Strafmilderung bis auf die Hälfte der Mindeststrafe (§ 20 VStG);
Verwaltungsstrafen dürfen gem § 14 VStG nur soweit eingetrieben werden, dass der notwendige Unterhalt des Bestraften nicht gefährdet wird;
Das Gebot der Verhältnismäßigkeit von Strafen ist stets zu beachten.*
Das vorlegende LVwG Stmk hat immerhin § 20 VStG erwähnt; es führt dazu aus, diese Bestimmung sei im Anlassfall nicht anwendbar. Das ist mE unrichtig, wenn tatsächlich festgestellt wurde, dass keine Unterentlohnung vorlag. Dann liegt ja das wesentliche Motiv der hohen Mindeststrafen für die Nichtbereithaltung der Unterlagen nicht vor: Nämlich zu verhindern, dass eine Verschleierung von Verstößen gegen die Entgeltpflicht erfolgt, indem ein mit geringerer Strafe bedrohtes Delikt in Kauf genommen wird.* Aber auf den Anlassfall kommt es ohnedies nicht an, dieser ist rein innerstaatlich zu beurteilen. Wesentlich ist nur, dass das österreichische Verwaltungsstrafrecht diese Möglichkeit 197 kennt, es geht ja um das System der Strafdrohung. Aus dem gerade erwähnten Ziel ergibt sich auch, dass die fragliche Strafdrohung nicht die Verletzung eines bloßen Formaldeliktes ahndet, sondern die Einhaltung der materiellen Regelung sichern soll. Verstöße gegen solche Strafdrohungen hat der EuGH in bisherigen Entscheidungen zurecht als gravierend gewertet.*
Besonders originell wird das alles, weil auch im Anlassfall (so wie vorher schon in der E Cepelnik – siehe unten Pkt 2.4.) der österreichische VfGH zu einem exakt gegenteiligen Ergebnis gekommen ist als der EuGH: Bekanntlich hat er die fraglichen Regelungen ausdrücklich als nicht verfassungswidrig beurteilt; dies einschließlich der Strafkumulierung ohne jegliche Obergrenze.* Allerdings hat er all jene Umstände berücksichtigt, die – wie gerade dargestellt – vom EuGH gänzlich ignoriert wurden.
In der E Cepelnik* übersieht der EuGH, dass der Zahlungsstopp eine nur ganz vorübergehende Maßnahme ist. Gem § 7m Abs 2 AVRAG (nun § 34 Abs 3 Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz [LSD-BG]) muss nach Anordnung des Zahlungsstopps die Abgabenbehörde binnen drei Arbeitstagen die Sicherheitsleistung bei der Bezirksverwaltungsbehörde beantragen, die darüber binnen vier Wochen zu entscheiden hat. Wird auch nur eine dieser beiden Fristen nicht eingehalten, erlischt der Zahlungsstopp. Werden sie beachtet, tritt er mit der Erlassung des Bescheides über die Sicherheitsleistung außer Kraft. Bei der Wiedergabe des nationalen Rechtes übergeht der EuGH gerade den einschlägigen Abs 2 des § 7m AVRAG – obwohl das Bezirksgericht Bleiburg in seinem Vorlagebeschluss (Anhang 1) diese Regelung wiedergibt und die österreichische Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vom 10.5.2017 ausdrücklich darauf hingewiesen hat!* Kein Wunder, dass der EuGH dann auch bei seinen Überlegungen zur „Verhältnismäßigkeit“ der Regelung diese Umstände nicht berücksichtigt.
Nur dadurch kann aber der Mangel der Anhörung des beschuldigten Unternehmens als relevant erscheinen. Denn dass für eine Provisorialmaßnahme, die längstens einen Monat Bestand haben kann und nur im Verbot der zwischenzeitlichen Leistung von Zahlungen besteht, weder ein rechtskräftiger Strafbescheid verlangt werden kann, noch eine, über die ohnedies erfolgte Anhörung vor Ort hinausgehende Möglichkeit zur Rechtfertigung vorgesehen werden muss, erscheint unmittelbar evident. Der EuGH hatte das bisher akzeptiert.*
Was die Sicherheitsleistung betrifft, hat der EuGH vor allem die nationale Rsp ignoriert – vgl Kap 2.4. Aber er übersieht auch, dass ihre zulässige Dauer mit einem Jahr begrenzt ist (§ 7m Abs 8 AVRAG; nun § 34 Abs 9 LSD-BG). Angesichts des Arguments einer drohenden, erheblichen Zahlungsverzögerung für den (ausländischen) Dienstleister ist dieser Umstand schon bedeutsam! Ohne dessen unterbliebene Bewertung hier nachholen zu wollen: Solche „individuellen Kosten eines Rechtsstaates“ sind fester Bestandteil des österreichischen Rechtssystems (und wohl der meisten anderen auch). So belastet jedes (Verwaltungs-) Strafverfahren, das mit einem Freispruch endet, den/die zu Unrecht Beschuldigte/n zumindest mit einem erheblichen Anteil der Verteidigungskosten. Das ist wohl erheblicher als der Zahlungsaufschub um maximal ein Jahr!
Und ganz generell ignoriert der EuGH die Subsidiarität sowohl des Zahlungsstopps als auch der Sicherheitsleistung gegenüber der vorläufigen Sicherheit (§ 7i AVRAG, nun § 33 LSD-BG), die für eine Beurteilung der Angemessenheit der Regelung wohl mitbedacht werden muss. Auch darauf hat die österreichische Stellungnahme ausdrücklich hingewiesen.*
Ein österreichischer Privatmann hatte Bauarbeiten an die slowenische Baufirma Cepelnik vergeben. Bei einer Baustellenkontrolle stellte die Finanzpolizei fest, dass für zwei auf der Baustelle eingesetzte AN keine Meldung über die Entsendung erfolgt war und für vier AN die Lohnunterlagen nicht bereitgehalten wurden. Die Finanzpolizei verhängte einen Zahlungsstopp und beantragte bei der Bezirksverwaltungsbehörde die Auferlegung einer Sicherheitsleistung. Diese gab dem Antrag statt, der Privatmann erlegte die Sicherheit. Später klagte die Baufirma Cepelnik den Privatmann auf Zahlung des Werklohns, wogegen dieser die schuldbefreiende Wirkung der erlegten Sicherheit einwendete. Das für diese Klage zuständige Bezirksgericht Bleiburg beantragte beim EuGH eine Vorabentscheidung.
Die österreichische Bundesregierung hat im Verfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für die Entscheidung der Zivilklage der slowenischen Baufirma gegen den österreichischen Auftraggeber die fraglichen Regelungen des AVRAG gar nicht präjudiziell sind. Das scheint mir überzeugend: Welche Auswirkungen der längst außer Kraft getretene Zahlungsstopp dafür haben sollte, ist ganz unerfindlich. Ähnliches gilt für die Sicherheitsleistung, die mit einem Bescheid vorgeschrieben wurde, der in Rechtskraft erwachsen ist. Die zunächst übergangene slowenische Baufirma hat, auch nachdem er ihr zugekommen ist, nicht gegen den Bescheid Beschwerde erhoben.198
Der EuGH weist nur darauf hin, dass er an die Beurteilung durch das vorlegende Gericht – nicht die der Bundesregierung – gebunden sei (Rn 24). Das ist sicher richtig, nur fehlt jegliche derartige Beurteilung im Vorlagebeschluss. Der detaillierte und sorgfältig gearbeitete (wenn auch mE in vielen Punkten nicht richtige) Beschluss enthält gar keine Aussagen zur Präjudizialität! Das Gericht scheint sowohl das Problem der Rechtskraft als auch der zeitlich beschränkten Geltung der fraglichen Verwaltungsakte übersehen zu haben. Warum sollte der EuGH, durch die Stellungnahme der Republik auf dieses Problem aufmerksam gemacht, das vorlegende Gericht nicht damit konfrontieren?
Noch drastischer ist mE, dass der EuGH so weit geht, selbst den ausdrücklich gerügten Widerspruch zwischen einem Vorlagebeschluss und der nationalen höchstgerichtlichen Rsp schlicht zu ignorieren und unerwähnt zu übergehen:
Im Vorlageantrag Cepelnik hatte das Bezirksgericht Bleiburg seine Bedenken gegen den (nunmehrigen) § 34 LSD-BG wie folgt dargestellt:* Die Regelung belaste den (inländischen) Auftraggeber, weil dieser uU die Sicherheit früher erlegen müsse als der Werklohn fällig gewesen wäre. Überdies könne die Sicherheitsleistung höher sein als der tatsächlich ausstehende Werklohn, wenn dieser – insb wegen Baumängeln – nicht in der vollen vereinbarten Höhe zu leisten sei. Andererseits belaste die Regelung den Auftragnehmer (das ausführende, im Anlassfall ausländische Unternehmen), da die Zahlungen gestoppt werden können, ohne dass feststeht, dass eine Verwaltungsübertretung begangen wurde, da der begründete Verdacht ausreiche. Es sei nicht einmal vorgesehen, dass das verdächtige Unternehmen eine Stellungnahme abgeben könne. In diesem Zusammenhang gibt das Bezirksgericht genau genommen gar keine Darstellung des Inhalts des § 7m AVRAG (nun § 34 LSD-BG), sonsondern lediglich einer einschlägigen Behördenpraxis (auf welcher Erkenntnisgrundlage auch immer).* Schon dass diese mit dem Wortlaut der Norm in einem deutlichen Spannungsverhältnis steht (wozu muss gem § 7m Abs 6 AVRAG Fälligkeit und Höhe des ausstehenden Werklohns mitgeteilt werden, wenn beides irrelevant ist?), hätte Anlass für eine Rückfrage (Darstellung der Rechtslage, nicht nur einer Behördenpraxis) sein sollen. Aber das ist der geringste Fehler.
Denn wie wir alle, spätestens seit den einschlägigen Entscheidungen des VwGH und VfGH* wissen, trifft diese Darstellung ganz und gar nicht zu: Eine Sicherheitsleistung darf gem § 34 LSD-BG erst für einen Zeitpunkt vorgeschrieben werden, zu dem die Fälligkeit des fraglichen Teiles des Werklohns eingetreten wäre. Die „angemessene Frist“ ist so festzusetzen, dass sie nicht vor der Fälligkeit des Werklohns endet.* Allfällige Vertragsmängel, insb Baumängel, sind bei der Anordnung der Höhe der Sicherheitsleistung zu berücksichtigen. Da der Auftraggeber vor deren Festsetzung gehört wird, steht es ihm frei, diese geltend zu machen. Die Höhe der Sicherheitsleistung kann schon nach dem Normzweck niemals den Betrag übersteigen, den er dem Auftragnehmer noch schuldet.*
Damit verbleibt lediglich der auf den Auftragnehmer bezogene Einwand, dieser müsse mit einer uU erheblichen Zahlungsverzögerung rechnen, weil er den Werklohn trotz eingetretener Fälligkeit erst nach Abschluss des Strafverfahrens erhält, ohne dass er auch nur gehört wurde. Aber gerade im Verfahren betreffend die Sicherheitsleistung ist dem betroffenen Unternehmen ohnedies rechtliches Gehör sicher, weil es Parteistellung hat.* Zudem muss ein begründeter Verdacht vorliegen, also zB die dienstliche Wahrnehmung eines geschulten Organs der Öffentlichen Aufsicht.* Auch diesbezüglich verkennen die Bedenken die österreichische Rechtslage.
Diese Rsp ist zT erst knapp überschneidend mit dem Beginn des EuGH-Verfahrens ergangen.* Es ist schwer verständlich, dass sich das Bezirksgericht nicht wenigstens zu einer nachträglichen Mitteilung dieser wesentlichen Änderung veranlasst gesehen hat; eine Rücknahme des Vorlageantrags war nach der zu engen Fassung des § 90a Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) nicht zwingend.* Aber das ist nicht entscheidend: Die österreichische Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme ausdrücklich auf die tatsächlich ganz anders gelagerte nationale Rechtslage hingewiesen und die E des VfGH als Beleg angeführt.* Der EuGH war also über die österreichische Rsp informiert. Und hier ging es nicht darum, Hinweise der Regierung zu beachten, sondern um gerichtliche, sogar höchstgerichtliche Entscheidungen!* Die Mitteilung der einschlägigen nationalen Rsp ist gem Art 94 EuGH-Verfahrensordnung (VerfO-EuGH) notwendiger Inhalt jedes Vorabentscheidungsersuchens.* Dass ihm diese erst im Wege der nationalen Stellungnahme bekannt wird, ändert ihren Charakter nicht.
Das Ergebnis ist fatal: Der EuGH entscheidet in gänzlicher Übereinstimmung mit dem vorlegenden Gericht – und alle drei (!) seiner Bedenken gegen 199 die Europarechtskonformität der Regelung entsprechen nach der nationalen höchstgerichtlichen Rsp schlicht nicht der österreichischen Rechtslage. Das Orakel hat gesprochen, aber seine Hinweise sind ganz irrelevant bzw lassen die nationalen Rechtsanwender in nur noch gesteigerter Verwirrung zurück!
ME sollte der EuGH seine Zusammenarbeit mit den jeweiligen nationalen Gerichten deutlich verbessern! Natürlich kann er die vom vorlegenden Gericht unterlassene Auslegung einer nationalen Norm nicht einer Verwaltungsbehörde (der jeweiligen Regierung als Verfahrenspartei) überlassen. Aber Art 101 VerfO-EuGH sieht ausdrücklich vor, dass dieser jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts „Ersuchen um Klarstellung“ an das vorlegende Gericht richten kann. Fragen an die Beteiligten stellt er sogar relativ häufig.* Im Fall Maksimovic hätte er jedenfalls das vorlegende Gericht zu einer ergänzenden Information zum System der Strafbemessung im österreichischen Verwaltungsstrafrecht auffordern sollen; bei Cepelnik zu dessen Verständnis des § 7m AVRAG und zur Frage der Präjudizialität.
In Fällen, in denen das vorlegende Gericht sein Verständnis der bekämpften Bestimmung nicht auf eine höchstgerichtliche Entscheidung stützt, könnte und sollte der EuGH das zuständige nationale Höchstgericht gem Art 24 EuGH-Satzung um eine Stellungnahme zum genauen Inhalt der fraglichen Bestimmung ersuchen; jedenfalls dann, wenn die Auslegung im Vorlageantrag schon nach dem Wortlaut der einschlägigen Regelung Anlass zu Zweifeln gibt. Durch Konfrontation des vorlegenden Gerichts mit dieser Stellungnahme sollten nationale Auslegungsdifferenzen zu klären sein!
Aber auch Österreich könnte Abhilfe schaffen: Art 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährleistet zwar jedem Gericht die Möglichkeit, einen Vorlageantrag zu stellen; er ordnet jedoch nicht an, das innerstaatliche Verfahren bis zur Entscheidung über diesen Antrag zu unterbrechen. Ganz im Gegenteil: Wie sich aus Art 100 VerfO-EuGH ergibt, rechnet der europäische Normengeber durchaus mit einer Fortsetzung des Verfahrens bis hin zur Möglichkeit, dass dadurch der Vorlageantrag gegenstandslos wird (so auch § 90a Abs 2 GOG). Es muss nur gesichert sein, dass kein Gericht durch ein nationales „Zwischenverfahren“ daran gehindert ist, einen Vorlageantrag zu stellen und unabhängig von den Ergebnissen des Zwischenverfahrens die Hinweise des EuGH zu verwerten.* Daher könnte Österreich eine spezielle Revision an den OGH bzw VwGH/VfGH vorsehen, die sich nicht gegen den Vorlageantrag an sich, sondern gegen die darin gegebene, bindende Darstellung der österreichischen Rechtslage wendet. Eine solche Revision sollten nicht nur die Verfahrensparteien, sondern auch die Republik erheben können. Das zuständige Höchstgericht müsste kurzfristig eine bindende Entscheidung über die verfahrenseinschlägige österreichische Rechtslage treffen und diese vom vorlegenden Gericht dem EuGH übermittelt werden. Auf diesem Wege würden weit aussagekräftigere Entscheidungen des europäischen Höchstgerichtes in die Wege geleitet! Zudem hätte das vorlegende Gericht für die Fortsetzung des Verfahrens nach der E des EuGH bereits wichtige Hinweise aus nationaler Sicht.
Ganz grundsätzlich ist zu fragen, auf welche Grundlage Eingriffe in nationale Regelungen des Verwaltungsstrafrechts überhaupt gestützt werden können. Im Bereich der europäischen Grundrechte ist das unbedenklich. Insb eine Prüfung an Hand der Regelungen der Grundrechtecharta (insb Art 49 GRC) ist – in Fällen mit Bezug zum europäischen Recht (Art 51 GRC) – sicher zulässig.
Aber der EuGH prüft Verwaltungsstrafen auch am Maßstab der Marktfreiheiten (zB in der E Maksimovic). Eine Prüfung an Art 49 GRC hat er ausdrücklich für unnötig erachtet, da die Regelungen bereits der Dienstleistungsfreiheit widersprächen (Rn 49). Das muss zu ganz anderen Ergebnissen führen, weil dann nicht (nur) die Verhältnismäßigkeit einer Strafe Maßstab ist, sondern nach ständiger (wenn auch mE verfehlter) Rsp schon für jede Minderung der Attraktivität einer Marktteilnahme eine sachliche Rechtfertigung bestehen muss, also jeweils nur das gerade gelindeste, noch wirksame Mittel zulässig ist (vgl Kap 4.2.). Gibt es dafür eine Grundlage? Dürfen gegenüber Unternehmern jeweils nur die gelindesten, gerade noch effektiven Strafen vorgesehen werden?
Bereits in der Präambel zum EWG-Vertrag vom 25.3.1957 wurde als eines dessen Ziele angeführt, man wolle die bestehenden wirtschaftlichen Beschränkungen beseitigen, um „eine beständige Wirtschaftsausweitung, einen ausgewogenen Handelsverkehr und einen redlichen Wettbewerb zu gewährleisten“
. Diese Formulierung ist über alle Vertragsänderungen hinweg gleichgeblieben und findet sich heute als Präambel zum AEUV.
Es geht also nur um wirtschaftliche Beschränkungen und um den redlichen Wettbewerb. Fallen Regelungen zur Sanktionierung eines unredlichen, ja rechtswidrigen, Wettbewerbes in diese Kategorie? Können sie geeignet sein, die Marktfreiheiten zu beeinträchtigen? Dabei geht es mir nicht um die „Spürbarkeit“ iSd einschlägigen EuGH-Formel,* sondern um die Bedeutung der Redlichkeit! Redliche Geschäftsleute sind von solchen Normen nicht betroffen. Sie gehen davon aus, keine gesetzlichen Vorschriften zu verletzen und verschwenden ihre 200 Zeit nicht damit, Strafhöhen zu studieren. Das tun nur diejenigen Gewerbetreibenden, die von vornherein den „kalkulierten Rechtsbruch“ in Betracht ziehen.
Vielleicht muss ein ordentlicher Kaufmann mit der Möglichkeit rechnen, dass ausländische Behörden schikanös unberechtigte Strafen verhängen, um inländische Gewerbetreibende zu bevorzugen. Wenn dem so wäre, müsste gegen eine derartige Behördenpraxis vorgegangen werden! Die Rechtslage selbst könnte nur insoweit bedenklich sein, als sie geeignet wäre, einer solchen Behördenpraxis Vorschub zu leisten. Dass „bei hohen Anforderungen auch bei Formalvorschriften schon für Vergehen von geringer Schwere ... hohe Strafen verhängt werden“
* können, dient dem redlichen Wettbewerb, solange diese Anforderungen nicht diskriminieren; überschießende administrative Anforderungen lässt der EuGH ohnedies nicht zu. Auch die in Rn 31-33 der E Maksimovic vorgetragene Argumentation ist nicht geeignet, dieses Ergebnis zu entkräften: Erweist sich eine administrative Anforderung als sachlich gerechtfertigt, also unionsrechtskonform, dann kann – in einem Raum des Rechts – eine Strafdrohung, die deren faktische Einhaltung sichert, die Erbringung von Dienstleistungen nicht behindern. Dass administrative Anforderungen einen Markteintritt „weniger attraktiv“ machen können, begründet logisch nicht, dass Gleiches für Strafdrohungen gilt. Ein redlicher Kaufmann begrüßt Letztere, da sie ihn vor unlauterer Konkurrenz schützen.
Wenn die Bestimmungen des AEUV ausdrücklich nur den redlichen Wettbewerb fördern sollen, dann scheiden mE Strafregelungen als Mittel, die Attraktivität der Dienstleistungsfreiheit zu verringern, von vornherein aus; selbst wenn man sie als wirtschaftliche Beschränkungen ansieht, was mE gleichfalls unrichtig ist. Sie können nur unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbotes geprüft werden, zB wenn sie unterschiedlich hohe Strafen für inländische und ausländische Gewerbetreibende festsetzen würden. Bei Regelungen wie den hier maßgeblichen, die unterschiedslos gelten und auch nicht mittelbar diskriminieren, scheidet dieser Gesichtspunkt aus. Ein Gebot, die gelindeste, gerade eventuell noch zielführende Strafe vorzusehen, ist aus den europäischen Verträgen auch dann nicht ableitbar, wenn man die EuGH-Rsp zur Wirkung der Marktfreiheiten als Beschränkungsverbote teilen würde (siehe dazu Kap 4.2.).
Aber der EuGH hält auch bei einer Kontrolle des Verwaltungsstrafrechts selbst nicht inne, sondern überprüft auch noch die Kostenregelung. Der Betrag von 20 % der Strafhöhe, der bei völligem Fehlschlagen eines Rechtsmittels als Verfahrenskostenbeitrag anfällt, stellt ja keine Strafe dar. Dass Gerichtskosten im Verhältnis zum „Streitwert“ festgesetzt werden, ist an sich üblich und weit verbreitet. IdR ist dabei allerdings ein degressiver Verlauf vorgesehen, der Prozentsatz sinkt also mit der Höhe des Streitwertes. Man kann also gut über diese Frage diskutieren – aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Marktfreiheiten. Hier ist der Zusammenhang noch weniger erklärbar, als bei den Strafen selbst! Dass ein redlicher Kaufmann seinen Markteintritt gar davon abhängig machen sollte, wie das Kostenregime im Falle eines Einspruchs gegen eine Verwaltungsstrafe aussieht, ist wirklich reine Fiktion.* Will man so weit gehen, empfehle ich unbedingt, auch die Honorarordnung einschlägiger Rechtsvertreter einer europarechtlichen Überprüfung zu unterziehen, aber auch die Gestaltung deren akademischer Ausbildung usw. Solche Faktoren werden einem derartig gründlich den Markteintritt prüfenden Kaufmann weit relevanter sein!
Ursprünglich haben die Verträge über die einzelnen Gemeinschaften, inklusive des EWG-Vertrages, jeweils deren naturgemäß begrenzte „Aufgaben“ beschrieben (und Vereinbarungen zu deren Erfüllung enthalten). Generell wurde dabei die Formel verwendet, dass durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes eine günstige Wirtschaftsentwicklung und Hebung des Lebensstandards, später auch des sozialen Schutzes und der Umwelt erreicht werden sollte. So lange konnte die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die dazu vereinbarten Marktfreiheiten als zentrale Inhalte der Verträge betrachtet werden. Denn diese waren der Kern der vertraglichen Übereinkünfte, die erhofften günstigen Folgen nur in zweiter Linie maßgeblich.
Aber die Zeiten haben sich geändert! Die „Wirtschaftsgemeinschaft“ hat sich zu einer politischen Union weiterentwickelt. Es war ein mühsamer und langjähriger Prozess, der mit dem „Konvent über die Zukunft Europas“ konkret wurde und nach dem Scheitern des von diesem ausgearbeiteten „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ letztlich zum Vertrag von Lissabon führte. Seither hat die EU so etwas wie Verfassungsgrundsätze.* Denn auch wenn der Begriff einer „Verfassung“ aufgegeben wurde, stellt der Vertrag von Lissabon doch die Verwirklichung der materiellen Anliegen des Verfassungsvertrages „mit anderen Mitteln dar“.* Und dessen Grundsätze bzw nun „Werte“ sind keineswegs von den Marktfreiheiten geprägt!
Schon mit dem Vertrag von Amsterdam wurden Grundsätze festgelegt, auf denen die Union beruhe. 201 Im Kern waren es Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte, und nur sie, wurden mit der Sanktion der allenfalls möglichen Suspendierung der Rechte eines sie verletzenden Mitgliedstaates bewehrt.* Die außerordentliche Sanktion bestätigt die Hierarchisierung der Vertragsinhalte: Sie unterstreicht, dass die fraglichen „Grundsätze“ (später „Werte“) Vorrang gegenüber den übrigen, detaillierten Regelungen der Verträge haben und jedenfalls deren Auslegung maßgeblich bestimmen.*
Mit dem Vertrag von Lissabon (2009) werden dann die bisherigen „Aufgaben“ durch „Ziele“ der Union ersetzt (Art 3 EGV). Aber diese sind wesentlich verändert! Ziel ist nämlich nicht mehr die Schaffung eines Binnenmarktes, von dessen günstigen Wirkungen man sich allerlei verspricht. Ziel der Union ist es nunmehr, den Frieden, die Werte der Union und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Darüber hinaus wird eine Reihe von Zielen genannt, vom „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ über den Binnenmarkt, den sozialen Fortschritt und soziale Sicherheit zu Umweltschutz, wissenschaftlichem Fortschritt, Zusammenhalt und Vielfalt.
Von einem Vorrang oder einer zentralen Bedeutung der Regeln zum Binnenmarkt und den Marktfreiheiten kann seither keine Rede mehr sein, diese sind nur mehr ein Mittel unter vielen anderen zum Erreichen der Zwecke einer politischen Gemeinschaft. Das wird auch in der, als Teil des Vertrages von Lissabon beschlossenen EU-Grundrechtecharta gut sichtbar: Drei Marktfreiheiten kommen dort in Art 15 Abs 2 als Teil der Berufsfreiheit vor und haben keinerlei anderen Status, als etwa die dem Kapitel „Solidarität“ zugeordneten Rechte auf Unterrichtung und Anhörung, Kollektivverhandlungen, soziale Unterstützung udgl. Der Sonderstatus der Marktfreiheiten ist vorbei.* Eine „Wirtschaftsgemeinschaft“ hat sich auch vertraglich zu einer politischen Union entwickelt.
Leider hat der EuGH diesen grundlegenden Wandel bisher nicht zur Kenntnis genommen. Seine Rsp reflektiert den Paradigmenwechsel nicht, die alten Prüfschemata werden unverändert weiter angewendet. Dabei sind sie nun bereits im Ansatz verfehlt:
Der EuGH hat die zum Schutz der Marktfreiheiten vereinbarten Diskriminierungsverbote allmählich zu Beschränkungsverboten weiterentwickelt:* Er prüft stets, ob eine Maßnahme, die eine der Marktfreiheiten auch nur „weniger attraktiv“ macht, durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist. Die fragliche Maßnahme muss geeignet sein, das in Betracht kommende Allgemeininteresse zu fördern, aber auch die gelindeste Maßnahme* zur Erreichung dieses Zieles darstellen. Das wurde schon seinerzeit scharf (und mE zu Recht) kritisiert.* Heute hat die Auslegung der Verträge aber vor allem die radikal veränderten Ziele (und Werte) zu beachten. Auch ein gemeinsamer Markt ist nicht notwendigerweise ein deregulierter oder doch nur minimal regulierter (nur sachlich zwingende Regelungen) Markt. Eine solche, marktradikale Gestaltung ist möglich, müsste aber ausdrücklich vereinbart sein. Derartiges ist jedoch niemals in den Verträgen gestanden. Dieses Ergebnis im Wege der Interpretation herbeizuführen, wäre allenfalls dann denkbar, wenn die Werte und Ziele der Union einen scharfen Wirtschaftsliberalismus zum Inhalt hätten. Wie gerade dargestellt, ist – jedenfalls nunmehr – das Gegenteil der Fall!
Der AEUV differenziert deutlich zwischen den Marktfreiheiten: Ausschließlich beim Kapital- und Zahlungsverkehr sind im Grundsatz alle Beschränkungen aufgehoben. Beim Warenverkehr sind nur „Abgaben gleicher Wirkung“ untersagt, was bekanntlich dennoch der Ausgangspunkt der fraglichen Rsp war.* Bei der AN-Freizügigkeit, wie auch dem Niederlassungsrecht und der Dienstleistungsfreiheit wird ausdrücklich die Liberalisierung einzelnen Schritten im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vorbehalten, eine „Beschränkung“ letzterer ist nur hinsichtlich der BürgerInnen anderer Mitgliedstaaten untersagt.* Dafür wird in diesen Bereichen ein Diskriminierungsverbot formuliert, das explizit gilt, solange die Beschränkungen nicht aufgehoben wurden (zB Art 61 AEUV).* Denn die Vertragspartner sind sich der Gefahren, die mit der Liberalisierung verbunden sind, durchaus bewusst; wie etwa Art 60 AEUV (freiwillige Liberalisierung von Dienstleistungen, „soweit ... die Lage des betroffenen Wirtschaftszweiges das zulässt“), Art 46 lit d AEUV (Vermeidung von Gefährdungen des Beschäftigungsstandes) und auch Art 32 AEUV (ernsthafte Störungen im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten vermeiden) deutlich zeigen. Schon der Wortlaut, umso mehr noch die durch die Werte und Ziele der Union vorgegebene Auslegung lassen eine Deutung der genannten Marktfreiheiten als 202 Beschränkungsverbot keinesfalls (mehr) zu. Der Gerichtshof müsste mE daher seine Rsp aufgeben und zu einem Verständnis dieser Regelungen als reine Diskriminierungsverbote zurückkehren.
Ganz generell ist ferner bei jeglichem Konflikt nationaler Regelungen mit einer Bestimmung der Verträge zu prüfen, ob die fragliche Regelung nicht zur Erfüllung eines der Ziele der Union beiträgt. Ist das der Fall, liegt ein Zielkonflikt vor: Dann ist – wie stets – die Förderung einer der Vertragsziele mit einem geeigneten (keineswegs dem gelindesten) Mittel gegen das beeinträchtigte Ziel gleichrangig abzuwägen. Eine derartige, gleichrangige Abwägung ist etwas ganz Anderes als die „Rechtfertigung“ einer vorab als vertragswidrig beurteilten Regelung!
Bei der Verfolgung der Ziele der Union haben die Mitgliedstaaten somit einen breiten Spielraum, etwa so, wie innerstaatlich innerhalb der Grenzen der Verfassung. Denn es gilt auch umgekehrt: Wird durch die Anwendung einer Marktfreiheit gegen die Werte oder Ziele der Gemeinschaft verstoßen, gilt die Marktfreiheit insoweit nicht (Vorrang der Vertragsziele; im österreichischen Interpretationssystem: teleologische Reduktion). Ob es zB den Zielen der Union besser entspricht, Dienstleistungen zu forcieren oder einzuschränken, ist eine Frage jedes Einzelfalles. Die Klimakrise etwa zeigt sehr deutlich, dass ein stetes Ausweiten von Produktion und Dienstleistungen dem „Wohlergehen der Völker“ der Union nicht entsprechen wird.
Schon damit erweisen sich auch die vielfältigen Eingriffe des EuGH in Regelungen, für die vertraglich überhaupt keine Unionszuständigkeit besteht, als unzulässig; wie etwa im Anlassfall in das Verwaltungsstrafrecht (ausgenommen dessen Prüfung an der GRC). Der EuGH hat sich aber auch in viele andere Rechtsbereiche unter dem Gesichtspunkt einer Auswirkung auf die Marktfreiheiten eingemischt: So hat er noch 2017 ein staatliches Monopol betreffend die Aufbewahrung von Urnen (!) aufgehoben.* Ist es in einer Union, „die sich durch Pluralismus ... auszeichnet“ (Art 2 EUV) und die nationale Identität der Mitgliedstaaten (Art 4 Abs 2 EUV) und deren Rechtsordnung (Art 67 Abs 1 AEUV) achtet, tatsächlich zulässig, die bisher untersagte gewerbliche Aufbewahrung von Urnen zu erzwingen? Oder die Frage der „richtigen“ Sanktion für die weitaus verspätet erfolgte Abgabe des Nachweises der Erfüllung der Regeln eines Doppelbesteuerungsabkommens:* Ist sie wirklich europäisch geregelt?
Diese skurrilen Fälle belegen, dass der EuGH die Bedeutung des durch den Reformvertrag von Lissabon 2009 vorgenommenen Wandels der Gemeinschaft zu einer politischen Union bislang nicht berücksichtigt, sondern seine langjährigen Entscheidungslinien unverändert fortschreibt. Wie Grimm* richtig und pointiert beschreibt, werden dadurch die faktischen Gewichte der Rechtsentwicklung von der Politik zu den Gerichten verlagert, weil der EuGH alle nationalen Regelungen, die er für marktabträglich hält, schlicht aufhebt. Korrekturen und Gegengewichte benötigen aber jeweils eine Einigung meist aller, jedenfalls aber der Mehrheit der Mitgliedstaaten und erfolgen daher weit seltener und langsamer. Das Ergebnis ist „eine fortschreitende Asymmetrie zwischen nationaler Deregulierung und europäischer Regulierung, die strukturell den Liberalismus begünstigt“
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Das aber untergräbt tendenziell sogar den Bestand der Union, jedenfalls aber deren weitere Entwicklung. Wenn etwas den sonst sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten politisch (noch) gemeinsam ist, dann sind das wohl die traditionellen europäischen Werte, also Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Menschenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit (vgl die Präambel zum EUV); ich füge Solidarität und Laizismus (durchaus unter Wahrung der christlich/jüdischen Werte) hinzu. Wer deren Vorrang ignoriert bzw sie unter den Vorbehalt von Marktfreiheiten stellt, verlässt das einzig tragfähige Fundament einer europäischen Union.
Was heißt das alles nun für die derzeitige österreichische Rechtslage? Entscheidungen des EuGH sind nicht in jenem Sinn verbindlich, wie es vergleichbare Entscheidungen österreichischer Höchstgerichte (insb des VfGH) wären. Der EuGH darf gar nicht über die Vereinbarkeit von nationalem mit europäischem Recht urteilen!* Es erfolgt keine „Aufhebung“ österreichischer Normen, wie das oft in der Presse dargestellt wird, sondern eine Auslegung jener EU-Regelungen, die einschlägig sind. Daraus haben die nationalen Gerichte und Behörden zu erschließen, wie das nationale Recht EU-konform auszulegen ist bzw welche Inhalte gegebenenfalls unangewendet zu bleiben haben.
Andererseits ist von der EuGH-Rsp auszugehen, auch wenn man diese für verfehlt ansieht. Ich gehe bei der nachstehenden Prüfung daher nicht von meiner grundsätzlichen Kritik (Kap 3., 4.) aus. Zu berücksichtigen ist aber, was in Kap 2. über die Missverständnisse des Gerichtshofes betreffend den Inhalt des österreichischen Rechtes gesagt wurde: Nur Aussagen des EuGH zum EU-Recht sind verbindlich. Wenn er nationale Normen „wie die im Ausgangsverfahren“ falsch darstellt, müssen seine Hinweise auf der Grundlage des tatsächlich bestehenden nationalen Rechts verwertet werden. Bei Unklarheiten können die nationalen Gerichte gem Art 104 der VerfO-EuGH jederzeit* den Gerichtshof erneut anrufen.203
Das Erkenntnis Maksimovic spricht klar aus, dass grundsätzlich die Festsetzung einer Strafhöhe pro betroffenem AN korrekt ist, also gegen die in Österreich hoch umstrittene „Strafkumulierung“ keine Einwände bestehen (Rn 41). Es wendet sich aber gegen den starren Mindestsatz bzw dagegen, dass keinerlei Höchstgrenze besteht. Damit darf die „Strafkumulation“ weiter erfolgen und muss es auch, weil inzwischen die Durchsetzungs-RL in Kraft getreten ist* und nicht kumulierte LSD-BGStrafen sicher nicht abschreckend wären (Art 20 RL 2014/67/EU)! Eine Höchststrafe von maximal € 20.000,– im Anlassfall zahlt Andritz aus der Portokasse. Es ergibt sich aber auch daraus, dass nach Art 5 Abs 2 lit a der RL 2009/52/EG* für den (insb mit der Sanktion gem § 28 Abs 1 Z 1 AuslBG) vergleichbaren Fall der illegalen Beschäftigung Drittstaatsangehöriger die Sanktionen ausdrücklich unter Berücksichtigung der Zahl der illegal Beschäftigten ansteigen müssen.
Daher ist die gegenteilige Ansicht des VwGH* mE für zukünftige Fälle als europarechtswidrig nicht zu beachten. Unerklärlich ist aber (auch in dessen Anlassfall), warum der VwGH ausgerechnet das vom EuGH außer Streit gestellte „Kumulationsprinzip“ nicht mehr anwenden will, während er die ausdrücklich kritisierten Mindeststrafsätze aufrechterhält. Dadurch erfolgt der weitestgehende, europarechtlich gar nicht gebotene Eingriff in die nationale Rechtslage: Wie der VwGH selbst richtig festgestellt hat (Pkt 27 der E), lässt sich die Konformität mit der EuGH-E auch durch Beachtung einer Höchstgrenze herstellen. EU-konform und zugleich der viel geringere Eingriff in die österreichische Rechtsordnung ist es, die Mindeststrafsätze insoweit nicht anzuwenden, als eine insgesamt unverhältnismäßige Strafe die Folge ihrer Anwendung wäre.* Damit ist dem Vorrang des EU-Rechts und der Pflicht zur Beachtung der ergangenen E gänzlich Rechnung getragen und auch die Übereinstimmung mit Art 49 GRC gesichert.* Grundsätzlich vertritt auch der VwGH, dass stets der geringstmögliche Eingriff vorzunehmen ist.*
Zu § 52 VwGVG vertritt der VwGH die Auffassung, die Norm wäre weiter anwendbar, weil der EuGH sie nur iVm den unverhältnismäßigen Strafen des Anlassfalls für europarechtswidrig beurteilt.* Korrekter wäre es wohl gewesen, dies in einem erneuten Vorabentscheidungsverfahren zu klären. ME spricht aber viel für diese Sicht, da aus der E in der Tat eine grundsätzliche Ablehnung eines, in einem Prozentsatz zur Strafe festgelegten Prozesskostenbeitrags nicht zu entnehmen ist.
Bei § 16 VStG (Ersatzfreiheitsstrafen) ist schon nach dem Wortlaut unklar, ob die – mangels einer Regelung im Materiengesetz geltende – Höchstgrenze von idR zwei Wochen sich nicht ohnedies auf die kumulierte Gesamtstrafe bezieht. Jedenfalls ist ein solches Verständnis vom Wortlaut nicht ausgeschlossen und es kann schon auf diesem Weg die EU-Rechtskonformität hergestellt werden. Die Auffassung des VwGH, Ersatzfreiheitsstrafen seien nicht mehr zulässig,* ist mE weit überschießend. Vor allem aber hat der VfGH ohnedies festgestellt, dass alle hier einschlägigen Strafnormen lediglich eine Berechnungsmethode enthalten, die zu einem ähnlichen Ergebnis führt wie das Kumulationsprinzip,* aber § 22 VStG nicht einschlägig ist. Somit wird nur eine Strafe verhängt, weshalb die Ersatzfreiheitsstrafe gem § 16 VStG ohnedies maximal zwei Wochen beträgt.
Eine Sicherheitsleistung gem § 34 LSD-BG darf erst für einen Zeitpunkt vorgeschrieben werden, zu dem die Fälligkeit des fraglichen Teiles des Werklohns eingetreten wäre. Ferner ist bei der Festsetzung der Höhe der Sicherheitsleistung zu berücksichtigen, ob irgendwelche Umstände eingetreten sind, die den Auftraggeber zu einer Verminderung des ursprünglich vereinbarten Werklohnes berechtigen. Der (ausländische) Unternehmer ist vor der Festsetzung zu hören und hat Parteistellung. Das Bedenken, dass er erst verspätet sein Entgelt erhalten kann, ist mE nur durch den Zusammenhang mit den übrigen, unbegründeten Einwendungen gegen den Inhalt der Regelung zu verstehen und daher bei deren Wegfall nicht mehr beachtlich. Zudem hat der EuGH die Einjahresgrenze des § 34 Abs 9 LSD-BG übersehen. Es steht daher einer weiteren Anwendung des § 34 LSD-BG, unter Beachtung der nationalen Rsp, nichts im Wege.*
Die Regelungen über den Zahlungsstopp sind ebenfalls ganz unverändert anwendbar,* weil der 204 EuGH nicht ausgesprochen hat, dass eine nationale Provisorialmaßnahme mit dem Inhalt eines lediglich auf drei Arbeitstage und vier Wochen beschränkten Zahlungsverbotes unzulässig wäre. Ein unionsrechtswidriger, weil unbefristeter Zahlungsstopp existiert im österreichischen Recht ohnedies nicht.
Der Gesetzgeber hat eigentlich keinen zwingenden Handlungsbedarf. Die Rechtslage könnte, eine korrekte Auslegung der fraglichen Bestimmungen durch die Gerichte und Verwaltungsbehörden vorausgesetzt, auch unverändert bleiben. Leider hat jüngst der VfGH undifferenziert und fast begründungslos entschieden, einschlägige Normen seien generell unanwendbar.*
Somit sind legistische Änderungen oder eine erneute Befassung des EuGH wohl doch unvermeidbar!