LangDie verdrängende Betriebsvereinbarung – Änderung arbeitsvertraglicher Regelungen durch Betriebsvereinbarungen und Wiederaufleben der arbeitsvertraglichen Regelungen

Nomos Verlag, Baden-Baden 2018, 365 Seiten, broschiert, € 95,-

DIANANIKSOVA (WIEN)

Beim vorliegenden Werk handelt es sich um eine im Dezember 2017 an der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaften, Hamburg – approbierte Dissertation. Die Autorin setzt sich in ihrer Arbeit mit einer Grundfrage des Arbeitsrechts auseinander, nämlich dem Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarungen und arbeitsvertraglichen Regelungen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob eine Betriebsvereinbarung während ihrer Geltungsdauer eine ungünstigere arbeitsvertragliche Regelung verdrängt und letztere nach der Geltungsdauer der Betriebsvereinbarung wiederauflebt oder ob eine Betriebsvereinbarung eine ungünstigere arbeitsvertragliche Regelung dauerhaft ablöst und damit endgültig vernichtet. Dieses Problem ist auch im österreichischen Recht bislang nicht abschließend geklärt.

Flavia Lang gliedert ihre Untersuchung in fünf Kapitel. Nach der Einleitung in Kapitel 1 (S 23-27) gibt die Autorin in Kapitel 2 (S 28-34) einen kurzen historischen Überblick über das Verhältnis zwischen arbeitsvertraglichen Regelungen und Betriebsvereinbarungen. Danach widmet sie sich in zwei Hauptkapiteln ausführlich der Beantwortung der Ausgangsfrage nach der Verdrängung oder Ablösung einer arbeitsvertraglichen Regelung durch die Betriebsvereinbarung. Dazu untersucht Lang in Kapitel 3 (S 35-249) zunächst „auf erster Stufe“, in welchen Fällen Betriebsvereinbarungen an die Stelle vertraglicher Regelungen treten und setzt sich dabei tiefgründig mit dem Günstigkeitsprinzip im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarungen und arbeitsvertraglichen Regelungen auseinander. Darauf aufbauend analysiert sie in Kapitel 4 (S 250-342) „auf zweiter Stufe“ die Frage nach der Verdrängung oder Ablösung der arbeitsvertraglichen Regelung durch die günstigere Betriebsvereinbarung. Zuletzt fasst die Autorin in Kapitel 5 (S 343-347) die wichtigsten Ergebnisse in zwölf Thesen zusammen.

Besonders interessant ist für österreichische LeserInnen die Beantwortung der Hauptfrage, weil das rechtliche Schicksal von Einzelvereinbarungen, die der Betriebsvereinbarung entgegenstehen, im österreichischen Recht höchstgerichtlich bislang nicht geklärt ist. Lang plädiert im Ergebnis – wie bereits der Titel der Arbeit vermuten lässt – für die verdrängende Wirkung der Betriebsvereinbarung und begründet ihren Lösungsansatz mit systematischen, historischen, teleologischen und verfassungsrechtlichen Argumenten. Dabei untersucht die Autorin auch das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Arbeitsvertrag und zieht aus dem Vergleich zum Tarifvertragsrecht, bei dem im deutschen Recht überwiegend von einer verdrängenden Wirkung ausgegangen wird, konsequent den Schluss der verdrängenden Wirkung auch im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung 288 und Arbeitsvertrag. Voraussetzung für das Wiederaufleben der arbeitsvertraglichen Regelung ist Lang zufolge, dass die Wirkung der Betriebsvereinbarung beendet ist, keine Nachwirkung besteht und die arbeitsvertragliche Regelung nicht auf eine andere Art beendet worden ist.

Aus österreichischer Sicht ist bemerkenswert, dass ein zentraler Aspekt, auf den bei dieser Frage in der österreichischen Literatur abgestellt wird, für Lang nicht ausschlaggebend ist. Im österreichischen Recht differenziert die hA danach, ob die Einzelvereinbarung bei Wirksamwerden der Betriebsvereinbarung bereits bestand oder erst nach Wirksamwerden der Betriebsvereinbarung vereinbart wird. Bestehe die Einzelvereinbarung bereits und werde die günstigere Betriebsvereinbarung erst zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen, werde die ungünstigere Einzelvereinbarung für die Dauer der Betriebsvereinbarung verdrängt, aber nicht endgültig vernichtet. Sie lebe wieder auf, wenn die günstigere Betriebsvereinbarungsregelung außer Kraft trete. Werde hingegen erst nach Wirksamwerden der Betriebsvereinbarung eine ungünstigere Einzelvereinbarung geschlossen, könne diese nach dem überwiegenden Teil der Literatur gar nicht gültig entstehen. In diesem Fall sei die Einzelvereinbarung von Anfang an nichtig (Strasser in Strasser/Jabornegg/Resch [Hrsg], ArbVG § 31 Rz 7; Pfeil in Gahleitner/Mosler [Hrsg], ArbVG, Bd 25 § 31 Rz 23; Kietaibl in Tomandl [Hrsg], ArbVG § 31 Rz 13).

Lang zufolge kann jedoch auch während der Geltungsdauer der Betriebsvereinbarung eine ungünstigere arbeitsvertragliche Regelung wirksam geschlossen werden. Diese werde zwar während der Geltungsdauer der Betriebsvereinbarung in ihrer Anwendung verdrängt. Sobald die Betriebsvereinbarung aber ihre Geltung verliere, werde sie anwendbar. Die Begründung dafür findet sich auf S 320 f: Die Betriebsvereinbarung habe gegenüber der arbeitsvertraglichen Regelung zwar Anwendungsvorrang, nicht jedoch Geltungsvorrang. Anwendungsvorrang bedeute, dass die Betriebsvereinbarung die Anwendung der arbeitsvertraglichen Regelung verhindere, nicht jedoch deren Geltung. Die ungünstigere vertragliche Regelung bleibe daher weiterhin wirksam und werde nicht vernichtet; sie dürfe lediglich während der Geltungsdauer der Betriebsvereinbarung nicht angewendet werden. Im Ergebnis ist Lang zufolge daher auch dann von einer verdrängenden Wirkung der Betriebsvereinbarung auszugehen, wenn die arbeitsvertragliche Regelung erst nach Wirksamwerden der Betriebsvereinbarung abgeschlossen wird.

Im österreichischen Recht haben bisher nur Tomandl (Arbeitsrecht 17 [2011] 159 f, 205) und Kietaibl (Arbeitsrecht I10 [2017] 238 f, 294) vertreten, dass unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt die ungünstigere Einzelvereinbarung abgeschlossen wird, stets von einer verdrängenden Wirkung des Kollektivvertrags oder der Betriebsvereinbarung auszugehen ist. Denn die Annahme der Nichtigkeit würde bei Wegfall des Kollektivvertrags oder der Betriebsvereinbarung zu einer Regelungslücke führen (aA Mosing, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht [2018] 386 ff, der unabhängig vom Zeitpunkt des Entstehens des ungünstigeren Regelungsinhaltes für die Nichtigkeit der Einzelvereinbarung plädiert). Im Verhältnis zwischen Kollektivvertrag und Betriebsvereinbarung hat sich erst kürzlich auch der OGH (16.12.2019, 8 ObA 77/18h) der Ansicht von Tomandl und Kietaibl angeschlossen und den Meinungsstreit im österreichischen Recht zugunsten der verdrängenden Wirkung von Kollektivverträgen entschieden. Ob das auch im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Einzelvereinbarung gilt, ist im österreichischen Recht jedoch nach wie vor offen. Obgleich zwischen dem deutschen und österreichischen Kollektivvertrags- und Betriebsverfassungsrecht im Detail zahlreiche Unterschiede bestehen, finden sich in Langs Arbeit überzeugende Argumente für die verdrängende Wirkung von Betriebsvereinbarungen, die auch für das österreichische Recht fruchtbar gemacht werden könnten.

Insgesamt ist es der Autorin sehr gut gelungen, das Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarungen und arbeitsvertraglichen Regelungen umfassend und grundlegend aufzuarbeiten. Neben tiefgründiger Analyse der Judikatur der deutschen Gerichte und der unterschiedlichen Literaturmeinungen untermauert Lang ihre Thesen stets mit eigenständig herausgearbeiteten Argumenten. Die Untersuchung zeugt von dogmatischer Tiefe und hoher wissenschaftlicher Qualität. Da im österreichischen Recht eine ausführliche literarische Abhandlung der Frage nach der verdrängenden oder ablösenden Wirkung von Betriebsvereinbarungen bisher fehlt, ist das Buch nicht nur allen mit deutschem Arbeitsrecht befassten WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen mit Nachdruck zu empfehlen, sondern auch österreichischen ArbeitsrechtlerInnen ans Herz zu legen.