BechtolfDie unions- und völkerrechtlichen Anforderungen an den Kündigungsschutz von Arbeitnehmern mit Behinderungen
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2019, 242 Seiten, € 82,20
BechtolfDie unions- und völkerrechtlichen Anforderungen an den Kündigungsschutz von Arbeitnehmern mit Behinderungen
Eines gleich vorweg: Der Titel des hier zu besprechenden Buchs ist mE etwas irreführend. Den Leser erwartet nämlich keine schwerpunktsetzende Darstellung und Auswertung von kündigungs(schutz)rechtlichen Vorgaben aus supra- bzw internationalen Rechtsakten in ihrer Wirkungsweise gegenüber AN mit Behinderungen, sondern dem Autor geht es im Kern um eine Überprüfung der Regelung von § 2 Abs 4 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auf deren Kompatibilität mit einschlägigen Vorgaben aus dem Unions- bzw Völkerrecht. Denn § 2 Abs 4 AGG erweist sich als eine problembefrachtete Norm. Indem diese Bestimmung Kündigungen vom Geltungsbereich des AGG ausnimmt, scheint im deutschen Rechtsbereich kein spezieller Schutz vor diskriminierenden Kündigungen gegeben zu sein. Dies betrifft dann auch AN mit Behinderungen, denen insb die EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (RL 2000/78/EG) und die UN-Behindertenrechtskonvention (Art 27 Abs 1 lit a) die Garantie geben, vor behinderungsbedingt ausgesprochenen Beendigungserklärungen geschützt zu sein. Diese normative Aussage des AGG nimmt der Autor zum Anlass, um § 2 Abs 4 AGG mit den aus den beiden vorhin genannten internationalen Rechtsquellen abzuleitenden Anforderungen zu konfrontieren.
Die Arbeit beginnt mit einer Klärung des Begriffs „Behinderung“. Richtigerweise gibt der Autor dem mittlerweile eingetretenen Paradigmenwechsel im Verständnis des Behinderungsbegriffs entsprechend Raum. Nicht mehr das auf die bestehenden körperlichen bzw geistigen Defizite fokussierende medizinische Modell, sondern das die gesellschaftlichen Kontextfaktoren in den Blick nehmende soziale Modell von Behinderung ist seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention nunmehr als relevant anzusehen. Dementsprechend können sich auch Änderungen in der rechtlichen Betrachtungsweise ergeben, die etwa hinsichtlich von krankheitsbedingten Kündigungen bereits manifest geworden sind, was auch von Bechtolf für den deutschen Rechtsbereich insofern bestätigt wird, als er auf die Bedeutung der Versagung von angemessenen Vorkehrungen hinweist, die seiner Meinung nach von der deutschen Rsp im Kontext von krankheitsbedingten Kündigungen noch nicht hinreichend gewürdigt worden sei.
Im zentralen Teil der Arbeit untersucht Bechtolf dann detailliert, welche Anforderungen die EU-Gleichbehandlungsrahmen- RL und die UN-Behindertenrechtskonvention an die Ausgestaltung eines diskriminierungsfreien Kündigungsschutzes für AN mit Behinderungen stellen. Bechtolf kommt speziell in Bezug auf das Unionsrecht dabei zum Ergebnis, dass § 2 Abs 4 AGG sowohl gegen die EU-Gleichbehandlungsrahmen-RL als auch gegen das Unionsprimärrecht (Art 21 Abs 1 und 26 GRC) verstößt, sodass als Folge davon § 2 Abs 4 AGG unangewendet bleiben müsse. Auch hinsichtlich der Umsetzung des Konzepts der angemessenen Vorkehrungen in die deutsche Rechtsordnung ortet Bechtolf – mE zu Recht – ein Defizit. Aus österreichischer Sicht mutet bereits die explizite Nichtumsetzung der Vorgabe von Art 5 EU-Gleichbehandlungsrahmen-RL in das AGG befremdlich an. Diese Irritation verstärkt sich, wenn man bedenkt, dass auch die UN-Behindertenrechtskonvention Deutschland als deren Vertragsstaat verpflichtet, sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden (Art 27 Abs 1 lit i). Dementsprechend ist es wenig verwunderlich, dass Bechtolf den Finger in die Wunde legt und dem deutschen Recht das wenig schmeichelhafte Zeugnis ausstellt, kontextuell hinter den supra- und konventionsrechtlich geforderten Standards zurückzubleiben.
Die von Bechtolf an mehreren Stellen seiner Arbeit aufgezeigten Defizite des deutschen Rechts werfen naturgemäß die Frage auf, wie diese zu beheben sind und damit eine unions- und konventionskonforme Rechtslage hergestellt werden kann. Dieser Aufgabe stellt sich Bechtolf am Schluss seiner Arbeit. Insb zeigt der Autor dabei die Potenziale eines postkategorial programmierten Antidiskriminierungsrechts, das sich auch für das Konzept der angemessenen Vorkehrungen gut operationalisieren lässt. Beachtung verdient weiters auch die Kritik von Bechtolf an der Entfaltung des Behinderungsbegriffs durch den EuGH. Anhand der drei vom EuGH entschiedenen Rs Z, Glatzel und Kaltoft zeigt Bechtolf, dass sich der EuGH nur pro forma am sozialen Modell von Behinderung orientiert, der Sache nach diesen Entscheidungen aber nach wie vor ein defizitorientiertes Verständnis zugrunde legt, was wiederum mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht in Einklang zu bringen wäre, die in der Tat dem sozialen Modell von Behinderung folgt.
Auch für den österreichischen Rechtsbereich zeigen sich mögliche Erträge dieser Arbeit. So wendet sich Bechtolf überzeugend gegen eine starre Übertragung der aus dem nationalen Recht stammenden Sechsmonatsgrenze (§ 2 Abs 1 SGB IX bzw § 3 BEinstG) – als zeitliche „Erheblichkeitsschwelle“ für den Behinderungsbegriff – in den Bereich des Antidiskriminierungsrechts, da weder die EU-Gleichbehandlungsrahmen-RL noch die UN-Behindertenrechtskonvention starre zeitliche Vorgaben normieren, sondern vielmehr Raum für eine den jeweiligen Einzelfall Rechnung tragende, flexible Betrachtungsweise eröffnen. Hinsichtlich der Frage, ob die von der EU-Gleichbehandlungsrahmen-RL vorgesehene Beweiserleichterung (Art 10) auf alle Tatbestandsmerkmale der Diskriminierung zu beziehen ist, plädiert Bechtolf dafür, die Beweiserleichterung sowohl auf die Benachteiligung an sich als auch auf den Benachteiligungsgrund zu erstrecken und untermauert diese Ansicht mit der Notwendigkeit, die strukturellen Nachteile, mit denen AN konfrontiert sind, wenn sie einen Diskriminierungsprozess führen, zu kompensieren. 291