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Der rollierende (?) Beobachtungszeitraum für Arbeitszeithöchstgrenzen

GEORGGASTEIGER (WIEN)
Art 6, 16 lit b), 17 Abs 2 und Abs 3 sowie 19 RL 2003/88/EG; §§ 7 Abs 1, 9 Abs 4 und Abs 5 AZG
EuGH 11.4.2019 Rs C-254/18Syndicat des cadres de la sécurité intérieure (SCSI)

Die Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) verlangt, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden während jedes beliebigen Sechsmonatszeitraums eingehalten wird. Hängt daher der Beginn und das Ende des Beobachtungszeitraumes an fixen Kalendertagen, muss die rollierende Prüfung durch zusätzliche Mechanismen sichergestellt werden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

[...]

14 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass das Dekret Nr 2002 1279 in der durch das Dekret Nr 2017-109 geänderten Fassung spezielle Regeln für die Arbeits- und Ruhezeiten der Bediensteten der französischen Police Nationale festlegt. Es sieht ua in seinem Art 1 vor, dass die gemessene wöchentliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum [...] während eines Kalenderhalbjahrs 48 Stunden im Durchschnitt nicht überschreiten darf.

15 Am 28.3.2017 erhob das SCSI beim Conseil d‘État (Frankreich) Klage auf Nichtigerklärung dieser Bestimmung. Es macht ua geltend, dass diese Bestimmung gegen die Regeln der RL 2003/88 verstoße, weil zur Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit ein in Kalenderhalbjahren ausgedrückter Bezugszeitraum und nicht ein Bezugszeitraum von sechs Monaten mit zeitlich flexiblem Beginn und Ende herangezogen werde.

[...]

18 Unter diesen Umständen hat der Conseil d‘État (Staatsrat) beschlossen, [...] dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Sind die Art 6 und 16 der RL 2003/88 dahin auszulegen, dass sie einen gleitenden Bezugszeitraum vorschreiben, oder dahin, dass sie den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen einem gleitenden und einem festen Bezugszeitraum überlassen?

  2. Sollten diese Bestimmungen dahin auszulegen sein, dass sie einen gleitenden Bezugszeitraum vorschreiben, bezieht sich dann die durch Art 17 eröffnete Möglichkeit, von Art 16 Buchst b abzuweichen, nicht nur auf die Länge des Bezugszeitraums, sondern auch auf seinen gleitenden Charakter?

Zu den Vorlagefragen

[...]

21 Nach Art 16 Buchst b dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten für die Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit einen Bezugszeitraum von bis zu vier Monaten vorsehen. 22 Abweichend von Art 16 Buchst b der RL 2003/88 darf der Bezugszeitraum gem Art 19 Abs 1 der Richtlinie in bestimmten Fällen [...] bis zu sechs Monate betragen. [...]

23 Den in den Rn 21 und 22 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen ist [...] zu entnehmen, dass es möglich ist, die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit [...] anhand von sogenannten „Bezugszeiträumen“ [zu berechnen], deren Dauer im Rahmen der allgemeinen Regelung bis zu vier Monate und im Rahmen der abweichenden Regelung bis zu sechs Monate betragen kann. [...] Eine gleichmäßige Verteilung der Arbeitszeit über die gesamte Dauer des Bezugszeitraums wird [...] nicht verlangt (Urteil vom 9.11.2017, Maio Marques da Rosa, C-306/16, EU:C:2017:844‚ Rn 43).

24 Den in den Rn 21 und 22 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen lässt sich ferner entnehmen, dass der Begriff des Bezugszeitraums zum einen ein einheitlicher Begriff ist, der im Rahmen der allgemeinen Regelung und der abweichenden Regelung die gleiche Bedeutung hat, und zum anderen ein Begriff, der keinerlei Verweisung auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten enthält und daher als ein autonomer Begriff des Unionsrechts aufzufassen und – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – im gesamten Gebiet der Union einheitlich auszulegen ist, wobei der Wortlaut der fraglichen Vorschriften, der Kontext, in dem sie verwendet werden, sowie die Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu berücksichtigen sind (vgl entsprechend Urteil vom 9.11.2017, Maio Marques da Rosa, C-306/16, EU:C:2017:844‚ Rn 38 und die dort angeführte Rsp).

25 Daher ist anhand des Wortlauts und des Kontexts der Art 16 und 19 der RL 2003/88 sowie der mit ihr verfolgten Ziele zu klären, ob die Bezugszeiträume als Zeiträume definiert werden können, die an festen Kalendertagen beginnen und enden, also als feste Bezugszeiträume, oder als Zeiträume mit zeitlich flexiblem Beginn und Ende, also als gleitende Bezugszeiträume.

26 Erstens ist festzustellen, dass [...] dem Wortlaut der Art 16 und 19 der RL 2003/88 nicht zu entnehmen ist, ob die Bezugszeiträume fest oder gleitend definiert werden müssen, so dass ihr Wortlaut der Heranziehung keiner dieser Methoden entgegensteht.

27 Zweitens lässt sich [...] diese Frage auch anhand des Kontexts der Art 16 und 19 der RL 2003/88 nicht beantworten.

28 Wie die französische Regierung und die Europäische Kommission [...] zutreffend hervorgehoben haben, hat der Gerichtshof in Bezug auf den „Siebentageszeitraum“ in Art 5 der RL 2003/88, der die wöchentliche Ruhezeit betrifft und vom Gerichtshof als „Bezugszeitraum“ iS dieser Richtlinie eingestuft wurde, festgestellt, dass in diesem Kontext der Bezugszeitraum als fester Zeitraum definiert werden 223 kann, innerhalb dessen eine bestimmte Zahl aufeinanderfolgender Ruhestunden zu gewähren ist, unabhängig davon, wann diese Ruhestunden gewährt werden (Urteil vom 9.11.2017, Maio Marques da Rosa, C-306/16, EU:C:2017:844‚ Rn 43). Die französische Regierung schließt aus der Verwendung des Wortes „fest“ in Rn 43 dieses Urteils, dass der Begriff „Bezugszeitraum“ eher als ein fester Zeitraum zu verstehen sei.

29 Einer solchen Auslegung von Rn 43 des Urteils vom 9.11.2017, Maio Marques da Rosa (C-306/16, EU:C:2017:844), kann jedoch [...] nicht gefolgt werden. Der in diesem Urteil verwendete Begriff „fest“ ist nicht iS eines „Zeitraums, der zwingend mit dem Kalenderjahr übereinstimmt“, zu verstehen, sondern als „Zeiteinheit“, im genannten Urteil als Zeitraum von sieben Tagen.

30 In der Rechtssache, in der das Urteil vom 9.11.2017, Maio Marques da Rosa (C-306/16, EU:C:2017:844), ergangen ist, betraf die vom Gerichtshof geprüfte Frage nämlich nicht den festen oder gleitenden Charakter des Bezugszeitraums, sondern ging nur dahin, ob der in Art 5 der RL 2003/88 vorgeschriebene wöchentliche Ruhetag spätestens an dem Tag zu gewähren ist, der auf einen Zeitraum von sechs aufeinanderfolgenden Arbeitstagen folgt, oder innerhalb jedes Siebentageszeitraums. Der Gerichtshof hat für die letztgenannte Lösung optiert und unter dem Begriff „fester Zeitraum“ einen Zeitraum von bestimmter Dauer verstanden, ohne jedoch zu entscheiden, ob der Beginn und das Ende dieses Zeitraums dem Kalenderjahr oder, allgemeiner, festgelegten Daten, wie denen der Kalenderwoche, entsprechen müssen.

[...]

32 Was drittens die mit der RL 2003/88 verfolgten Ziele anbelangt, soll sie nach stRsp einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der AN gewährleisten, indem sie ua in ihrem Art 6 Buchst b eine Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit vorsieht. Diese Obergrenze stellt eine Regel des Sozialrechts der Union von besonderer Wichtigkeit dar, in deren Genuss jeder AN als Mindestvorschrift zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit kommen muss (Urteil vom 14.10.2010, Fuß, C-243/09, EU:C:2010:609‚ Rn 32 und 33 [...]).

33 Darüber hinaus muss die praktische Wirksamkeit der Rechte, die den AN durch die RL 2003/88 verliehen werden, in vollem Umfang gewährleistet werden, was für die Mitgliedstaaten zwangsläufig die Verpflichtung mit sich bringt, die Einhaltung jeder der darin aufgestellten Mindestvorschriften zu gewährleisten [...]. Diese Auslegung entspricht nämlich als einzige dem Ziel der Richtlinie, einen wirksamen Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der AN zu gewährleisten, indem sie tatsächlich in den Genuss einer Arbeitszeit kommen, die im Durchschnitt die Obergrenze von 48 Stunden pro Woche während der gesamten Dauer des Bezugszeitraums nicht überschreitet (vgl in diesem Sinne Urteile vom 7.9.2006, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-484/04, EU:C:2006:526, Rn 40 und die dort angeführte Rsp, und vom 14.10.2010, Fuß, C-243/09, EU:C:2010:609‚ Rn 51 und die dort angeführte Rsp).

34 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass dieses Ziel impliziert, dass jedem AN ua angemessene Ruhezeiten zustehen müssen, die nicht nur effektiv sein müssen, [...] sondern auch vorbeugenden Charakter haben müssen, indem sie die Gefahr einer Beeinträchtigung der Sicherheit und der Gesundheit der AN, [...] so weit wie möglich verringern (vgl in diesem Sinne Urteil vom 7.9.2006, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-484/04, EU:C:2006:526, Rn 41 und die dort angeführte Rsp).

35 Ferner ist hervorzuheben, dass die durch die Art 16 und 19 der RL 2003/88 gewährte Flexibilität, wie sich aus ihrem 15. Erwägungsgrund ergibt, ua in Bezug auf die Anwendung von Art 6 Buchst b der Richtlinie unbeschadet der Beachtung der Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der AN gilt.

36 Außerdem ergibt sich aus der Rsp des Gerichtshofs, dass die in Art 17 der RL 2003/88 vorgesehenen Abweichungen so ausgelegt werden müssen, dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche begrenzt wird (vgl in diesem Sinne Urteile vom 26.7.2017, Hälvä ua ,C-175/16, EU:C:2017:617, Rn 31, und vom 21.2.2018, Matzak, C-518/15, EU:C:2018:82, Rn 38).

37 Im Licht dieser Erwägungen ist zu klären, ob sowohl die festen als auch die gleitenden Bezugszeiträume mit dem Ziel der RL 2003/88, einen wirksamen Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der AN zu gewährleisten, im Einklang stehen. 38 Hierzu ist festzustellen, dass die festen und gleitenden Bezugszeiträume als solche mit diesem Ziel der RL 2003/88 im Einklang stehen, da sie die Prüfung ermöglichen, dass der AN im Durchschnitt während des gesamten in Rede stehenden Zeitraums nicht mehr als 48 Stunden pro Woche arbeitet und dass die seine Gesundheit und seine Sicherheit betreffenden Erfordernisse somit beachtet werden. [...]

39 Die Auswirkung fester Bezugszeiträume auf die Sicherheit und die Gesundheit der AN hängt jedoch von allen einschlägigen Umständen wie der Art der Arbeit und den Arbeitsbedingungen sowie insb der wöchentlichen Höchstarbeitszeit und der Dauer des vom betreffenden Mitgliedstaat herangezogenen Bezugszeitraums ab. Wie alle Verfahrensbeteiligten anerkannt haben, können feste Bezugszeiträume nämlich im Gegensatz zu gleitenden Bezugszeiträumen zu Situationen führen, in denen das Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der AN möglicherweise nicht erreicht wird.

40 Hierzu ist festzustellen, dass die Methode des festen Bezugszeitraums einen AG dazu veranlassen kann, einem AN während zweier aufeinanderfolgender fester Bezugszeiträume sehr viel Arbeitszeit aufzubürden, so dass er [...] im Durchschnitt die wöchentliche Höchstarbeitszeit während eines Zeitraums überschreitet, der, da er sich auf diese beiden festen Zeiträume verteilt, einem gleitenden Bezugszeitraum von gleicher Dauer entspräche. 224 Eine solche Situation kann nicht eintreten, wenn der Bezugszeitraum auf gleitender Grundlage bestimmt wird, da die gleitenden Bezugszeiträume per definitionem dazu führen, dass die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit laufend neu berechnet wird.

41 Auch wenn die festen und gleitenden Bezugszeiträume für sich genommen mit dem Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der AN im Einklang stehen, kann die Kombination von zwei aufeinanderfolgenden festen Bezugszeiträumen somit, je nach der wöchentlichen Höchstarbeitszeit und der Dauer des vom betreffenden Mitgliedstaat herangezogenen Bezugszeitraums, zu Situationen führen, in denen dieses Ziel gefährdet werden kann, obwohl die in den Art 3 und 5 der RL 2003/88 vorgesehenen Ruhezeiten eingehalten werden.

42 Im vorliegenden Fall hat die Französische Republik nicht nur den ihr durch die RL 2003/88 gebotenen Spielraum in Bezug auf die wöchentliche Höchstarbeitszeit ausgeschöpft, indem sie diese auf 48 Stunden festgesetzt hat, sondern sie hat auch von der in Art 17 Abs 3 iVm Art 19 Abs 1 der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Bezugszeitraum für die Berechnung des Durchschnitts der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf sechs Monate zu verlängern. [...]

43 In Anbetracht der in den Rn 32 und 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rsp ist jedoch davon auszugehen, dass die Erreichung des Ziels der RL 2003/88 gefährdet wäre, wenn die Heranziehung fester Bezugszeiträume nicht mit Mechanismen verbunden wäre, die gewährleisten können, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden während jedes auf zwei aufeinanderfolgende feste Bezugszeiträume verteilten Sechsmonatszeitraums eingehalten wird.

44 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art 19 Abs 2 der RL 2003/88 ein Tarifvertrag oder eine Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern erforderlich ist, wenn ein Mitgliedstaat den Bezugszeitraum über sechs Monate hinaus verlängern möchte. Ist ein Bezugszeitraum iS von Art 19 Abs 1 der Richtlinie auf fester Grundlage definiert, kann das dazu führen, dass ein AN während eines auf zwei aufeinanderfolgende feste Bezugszeiträume verteilten Sechsmonatszeitraums im Durchschnitt mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten muss, ohne dass es insoweit einen Tarifvertrag oder eine Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern gibt. Diese Überlappung kann somit zu Situationen führen, die eigentlich nur im Rahmen eines Bezugszeitraums iS von Art 19 Abs 2 der Richtlinie möglich wären. Durch ein solches Ergebnis würde die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme ausgehöhlt.

45 Es ist folglich Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung Mechanismen vorsieht, die, wie sich aus Rn 43 des vorliegenden Urteils ergibt, gewährleisten können, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden während jedes auf zwei aufeinanderfolgende feste Bezugszeiträume verteilten Sechsmonatszeitraums eingehalten wird.

[...]

47 Was speziell den Effektivitätsgrundsatz angeht, muss das vorlegende Gericht insb die Wirksamkeit der Rechtsbehelfe prüfen, die den betroffenen AN nach nationalem Recht zur Verfügung stehen, um – gegebenenfalls durch beschleunigte Verfahren oder Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – unverzüglich jede Praxis abzustellen, die den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Umsetzung von Art 6 Buchst b der RL 2003/88 in nationales Recht nicht genügt.

[...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art 6 Buchst b, Art 16 Buchst b und Art 19 Abs 1 der RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, die für die Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit Bezugszeiträume mit Beginn und Ende an festen Kalendertagen vorsieht, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung Mechanismen enthält, die gewährleisten können, dass die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden während jedes auf zwei aufeinanderfolgende feste Bezugszeiträume verteilten Sechsmonatszeitraums eingehalten wird. [...]

ANMERKUNG

Die Besprechung dieser E erfordert es, klar zwischen den europarechtlichen und den innerstaatlichen Auswirkungen zu unterscheiden. Es ist daher zu beachten, dass die Aspekte des ersten Kapitels nicht direkt auf die österreichische Rechtslage übertragen werden können.

1.
Europarechtliche Aspekte

Die vorliegende E zeigt, dass ein Mitgliedstaat zur Begrenzung der durchschnittlichen Höchstarbeitszeit im Anwendungsbereich der Arbeitszeit-(AZ-)RL vereinfacht gesagt zwei Optionen hat: Variante 1 wäre, ein rollierender Beobachtungszeitraum von (zumindest) sechs Monaten. Dies bedeutet etwa, dass die Arbeitszeit in der Kalenderwoche (KW) 26 sowohl dahingehend zu prüfen ist, ob der Durchschnitt von KW 1 bis KW 26 maximal 48 Stunden pro Woche beträgt, als auch, ob dies für den Zeitraum KW 26 bis KW 52 und für alle dazwischen möglichen 26-Wochen-Zeiträume der Fall ist.

Variante 2 wäre ein fester (also kalendarisch fixierter) Beobachtungszeitraum. In diesem Fall bedarf es jedoch zusätzlicher „Mechanismen“, die dafür sorgen, dass quasi automatisch die Vorgaben aus Variante 1 ebenfalls erfüllt werden. Obwohl der EuGH seine E inhaltlich auf den Schutz der AN stützt und in Rn 39 auch andere Risikofaktoren aufzählt (zB die Art der Arbeit), beziehen sich die „Mechanismen“ damit ausschließlich auf das Arbeitszeitausmaß. Andere Vorschriften (zB arbeitsmedizinische Überprüfungen udgl) können diese somit nicht ersetzen. Welche Mechanismen wären also denkbar? 225

Eine Verkürzung des festen Beobachtungszeitraumes hätte keinen ausreichenden Effekt, da immer „Wellenberge“ an das Ende des einen und den Beginn des nächsten festen Zeitraumes gelegt werden können und so zu einer Überschreitung bei rollierender Betrachtung führen. Zur Veranschaulichung denke man etwa an ein Beachvolleyballturnier. Auch wenn jedem Team eine große und eine kleine Person angehören muss, kann dadurch nicht verhindert werden, dass beim gemeinsamen Gruppenfoto zwei große Personen nebeneinanderstehen (rechnerische Ausführungen siehe bei Klein, 48 Stunden als Höchstgrenze der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit – Rechtsfragen der Durchschnittsbildung, in FS Marhold [2019] 3). Ein möglicher „Mechanismus“ wäre hingegen das Ausmaß der erlaubten Arbeitszeit im festen Beobachtungszeitraum zu verringern (so bereits zutr Klein in FS Marhold 2). Dies würde jedoch eine deutliche Reduktion erfordern. So wäre etwa bei einem vierwöchigen festen Beobachtungszeitraum höchstens ein Durchschnitt von 44,5 Wochenstunden möglich, wenn jede Einzelwoche wie bisher mit 60 Stunden begrenzt werden soll (§ 9 Abs 1 AZG; weitere Besprechung siehe Klein in FS Marhold 4 f).

Zu beachten ist überdies, dass der EuGH den rollierenden Prüfungszeitraum ausdrücklich mit sechs Monaten festlegt, obwohl die Grundregel des Art 16 lit b) AZ-RL eigentlich von vier Monaten spricht. Die Ausdehnung war hier jedoch Teil der (diesbezüglich unionsrechtskonformen) Gesetzeslage im Ausgangsverfahren. Da der EuGH überdies die Dauer des Beobachtungszeitraumes ausdrücklich als Belastungsfaktor hervorhebt (Rn 39), dürfen die sechs Monate nicht als absolute Zahl (iSe Grundregel) verstanden werden. Vielmehr beträgt der ergänzend zu prüfende rollierende Beobachtungszeitraum maximal vier Monate, wenn nicht sämtliche Voraussetzungen für eine Verlängerung erfüllt sind.

2.
Innerstaatliche Auswirkungen
2.1.
Richtlinienkonforme Interpretation?

Welche Auswirkungen hat die E des EuGH nun auf österreichische Arbeitsverhältnisse? Die dabei relevanten innerstaatlichen Bestimmungen finden sich primär in §§ 7 Abs 1 und 9 Abs 4 AZG. Judikatur des OGH liegt zur Frage fester/rollierender Beobachtungszeiträume bisher – soweit ersichtlich – nicht vor. In der Literatur dürfte die wohl hM, mit unterschiedlicher Argumentation, davon ausgehen, dass sich der österreichische Gesetzgeber für feste, nicht für rollierende Durchrechnungszeiträume entschieden habe (so etwa Felten in Felten/Trost [Hrsg], Arbeitszeitrecht neu [2018] 110 f; Klein in FS Marhold 5, 9; Schrank in Schrank, AZG5 § 9 Rz 12, 19; im Ergebnis ebenso Auer-Mayer in Auer-Mayer/Felten/Pfeil, AZG4 § 9 [Stand 1.3.2019, rdb.at] Rz 8; differenzierend hingegen Glowacka, Die Rolle der BV im Zusammenhang mit Überstunden, ZAS 2019, 203 [209]; aA mit unterschiedlichen Ergebnissen etwa Gleissner, Aktuelle Entwicklungen im Arbeitszeitrecht, DRdA 2019, 190 [193]; Rauch/Ihradska/Noga in ASoK-Spezial AZG Neu, 1.4.4.).

Nun sind innerstaatliche Vorschriften grundsätzlich so weit als möglich richtlinienkonform zu interpretieren. Diese Verpflichtung endet erst dort, wo dem der klare und nicht auslegungsbedürftige Wortlaut der Regelung eindeutig entgegensteht (vgl Vcelouch in Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 288 AEUV [Stand 1.11.2017, rdb.at] Rz 60 mwN).

Die wohl hM scheint trotz unionsrechtlicher Überlegungen bisher dennoch zu festen Beobachtungszeiträumen zu tendieren. Zu beachten ist dabei allerdings, dass sich in Bezug auf diese Frage bisher – soweit ersichtlich – nur Klein eingehend mit den Folgen der hier gegenständlichen E auseinandergesetzt hat. Gestützt wird die wohl hM etwa auf die enge Auslegung von Strafnormen (Klein; Schrank) oder den Vergleich mit anderen Bestimmungen des AZG (Auer-Mayer; Felten). Klein stützt seine Rechtsansicht zusätzlich auf § 26 Abs 1 AZG, welcher als klare Festlegung des Gesetzgebers auf feste Beobachtungszeiträume zu verstehen sei. Er verweist auf die Gesetzesmaterialien (IA 408/A 20. GP 38), welche ausdrücklich festhalten, dass § 26 Abs 1 leg cit auch für die durchschnittliche Höchstarbeitszeit nach § 9 Abs 4 AZG gelten soll.

Zu diesen Argumenten kommt mE zwar noch hinzu, dass „eine RL für sich alleine [...] nicht die Wirkung haben [kann, ...] strafrechtliche Verantwortung [...] festzulegen oder zu verschärfen“ (EuGH 11.11.2004, C-457/02, Niselli, Rn 29). Allerdings entwickelte sich dieser Grundsatz aus einem Fall heraus, in welchem die Strafbarkeit ausschließlich auf die RL gestützt wurde (EuGH 26.9.1996, C-168/96, Luciano Arcaro, Rn 19). Gegen die hM spricht überdies, dass eine richtlinienkonforme Interpretation so weit als möglich vorzunehmen ist und eben erst am (äußerst möglichen) Wortlaut des Gesetzes scheitert. Der Wortlaut des § 26 Abs 1 AZG ließe es jedenfalls zu, unter „einem Durchrechnungszeitraum“ nur flexible Arbeitszeitmodelle zu verstehen (vgl Pfeil in Auer-Mayer/Felten/Pfeil, AZG4 § 26 [Stand 1.3.2019, rdb.at] Rz 3). Die Verwendung des Wortes „eines“ legt dies mE sogar nahe, da die durchschnittliche Höchstarbeitszeit – bis auf wenige Ausnahmen – stets zu beachten ist. Auch die Erläuterungen zu § 26 AZG sind eben gerade nicht Teil des Gesetzes selbst. Zusätzlich kommt noch hinzu, dass Ausnahmen von der AZ-RL eng auszulegen sind, so „dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche begrenzt wird“ wie der EuGH einmal mehr hervorhebt (Rn 36). Dieser Grundgedanke wird wohl bei (unzulässigen) Abweichungen ebenfalls zu beachten sein.

ME sprechen daher im Ergebnis starke Argumente dafür, auch innerstaatlich von einem rollierenden Beobachtungszeitraum auszugehen. Dennoch wird erst die Rsp oder der Gesetzgeber Klarheit schaffen können. Gerade letzterer wäre iSd Rechtssicherheit aller Betroffenen gut beraten, dies so rasch als möglich umzusetzen. 226

2.2.
Innerstaatliche Alternativen (Staatshaftung, Ablehnungsrecht)

Folgt man dennoch der oben skizzierten hM und geht von festen Beobachtungszeiträumen im AZG aus, so wäre eine weitere Vorgabe der AZ-RL nicht umgesetzt (ebenso Klein in FS Marhold 6). Dennoch scheidet eine direkte Wirkung gegenüber privaten AG mE aus (vgl Vcelouch in Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 288 AEUV [Stand 1.11.2017, rdb.at] Rz 72). Der EuGH hat zwar zuletzt zum Urlaubsanspruch unter Verweis auf Art 31 Abs 2 Grundrechtecharta (GRC) eine solche horizontale Wirkung bejaht (EuGH 6.11.2018, C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft = DRdA 2019/37, 419 [Mair]). Für die hier gegenständliche Frage findet sich mE jedoch keine ausreichende Rechtsgrundlage im Primärrecht, insb in der GRC, da diese in Art 31 lediglich „eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit“ verlangt. Eine so komplexe Rechtsauslegung, wie jene der Lage von Beobachtungszeiträumen, auf eine so allgemeine Regelung zu stützen, wäre wohl gewagt (ähnlich schon EUArbR/Schubert, GRC Art 31 Rn 15, 24, 27; offener hingegen EuArbR/Gallner, RL 2003/88/EG Art 6 Rn 4).

Nun können fehlerhaft oder nicht vollständig umgesetzte Richtlinien – bei Vorliegen aller sonstigen Voraussetzungen – zu einer Staatshaftung der Mitgliedstaaten führen (siehe dazu Vcelouch in Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 288 AEUV [Stand 1.11.2017, rdb.at] Rz 80 ff mwN). Denkbar wäre zB eine Kündigungsentschädigung eines AN, der Arbeitsleistungen verweigert, welche über die europarechtskonform errechnete – also rollierende – Grenze hinausgehen und deshalb entlassen wird. Ebenso Gesundheitsschäden infolge hoher Arbeitsbelastung, so ein ausreichender Kausalzusammenhang nachgewiesen werden kann.

Ergänzend sind mE die Ablehnungsrechte der §§ 6 Abs 2, 19d Abs 3 AZG richtlinienkonform zu interpretieren. Die Leistung von Mehr- oder Überstunden, welche die Grenzen der AZ-RL überschreiten, können so berechtigt verweigert werden (für ein unionsrechtskonformes Aufladen der Fürsorgepflicht des AG siehe bereits EUArbR/Schubert, GRC Art 31 Rn 26). Dem stehen mE weder die Argumente aufgrund der sonst drohenden Verwaltungsstrafe, noch der Wortlaut des Gesetzes entgegen.

2.3.
Entgeltpflichtige Abwesenheiten (Urlaub, Krankenstand, etc)

Obwohl die vorliegende E keine Ausführungen zum Umgang mit entgeltpflichtigen Abwesenheitszeiten enthält, möchte ich kurz auf diese, in der Praxis äußerst wichtige Frage, eingehen: Die AZ-RL sieht vor, dass „Jahresurlaub“ und „Krankheitszeiten“ bei der Berechnung des Durchschnitts unberücksichtigt oder neutral bleiben. Auch wenn andere entgeltpflichtige Abwesenheitsgründe nicht explizit aufgezählt werden, macht die wohl hM auch bei diesen richtigerweise keinen Unterschied (Klein in FS Marhold 6; Schrank in Schrank, AZG5 § 9 Rz 13). Der Vollständigkeit halber sei jedoch eine E des OGH (15.4.1999, 8 ObA 273/98z) erwähnt, welche die in Folge eines Feiertages ausgefallene Arbeitszeit nicht in die Höchstarbeitszeit der einzelnen Woche gem § 9 Abs 1 AZG eingerechnet hat. Die Frage, ob diese Zeiten dagegen nach § 9 Abs 4 AZG sehr wohl zu berücksichtigen sind, war – soweit ersichtlich – bisher nicht Gegenstand eines Verfahrens.

Die AZ-RL erlaubt also Neutralisierung oder Nichtbeachtung. Der Unterschied liegt vereinfacht gesagt darin, dass Neutralisierung im Wesentlichen die Einrechnung fiktiver Arbeitszeiten (nach welchem „Ausfallsprinzip“ auch immer) vorsieht. Dagegen führt die Nichtbeachtung entweder zu einer Veränderung des Teilers (zB wird bei einer Urlaubswoche die gesamte Arbeitszeit durch 25 statt durch 26 Wochen dividiert) oder zu einer Ausdehnung des Beobachtungszeitraumes (zB wird statt einer Urlaubswoche eine 27. Woche miteinbezogen).

Das AZG äußert sich weder zur einen noch zur anderen Variante, weshalb eine richtlinienkonforme Interpretation möglich und auch erforderlich ist. Außerhalb des AZG findet sich dazu in § 3 Abs 4a KA-AZG eine vergleichbare Regelung. Diese sieht vereinfacht gesagt vor, dass die geplante (fiktive) Arbeitszeit anzusetzen ist, falls bereits ein Dienstplan erstellt wurde, andernfalls kommt es zu einer Reduktion des Teilers. Es wird nun vertreten, dass die Methode des KA-AZG auch auf andere Bereiche auszudehnen sei (Felten in Felten/Trost [Hrsg], Arbeitszeitrecht neu 112 f), aber auch, dass dem AG alle Methoden freistünden, ohne an die Voraussetzungen des KA-AZG gebunden zu sein (so etwa Klein in FS Marhold 9; Schrank in Schrank, AZG5 § 9 Rz 13, 16, wobei beide eine Ausdehnung des Bezugszeitraumes unter Verweis auf die festen Bezugszeiträume ablehnen).

ME kann die sogenannte „Nichtberücksichtigung“ nur im Rahmen eines umfassenden Systems zweckmäßige Ergebnisse liefern, da tage- oder gar stundenweise Abwesenheiten zu nicht mehr sinnvoll auflösbaren Problemen führen, wie sich bereits an einfachsten Beispielen zeigt: Man denke etwa an einen Krankenstand, welcher von Montag bis Freitag andauert, wobei Samstag und Sonntag ohnedies arbeitsfrei sind. Entfernt man die gesamte Kalenderwoche, reduziert sich der Teiler von 26 auf 25. Entfernt man hingegen lediglich die Krankenstandstage, reduziert sich der Teiler von 26 auf 25,29. Eine solche Diskrepanz passt nicht dazu, dass Ausfallszeiten den Wochenschnitt gerade nicht senken sollen (EuArbR/Gallner, RL 2003/88/EG Art 16 Rn 4; Stärker, EU-Arbeitszeit-Richtlinie (2006) Art 16 Erl 6). Der Ursprung dieses Rechenproblems liegt mE in normalen, also nicht entgeltpflichtigen, arbeitsfreien Zeiten. Sie sind ein notwendiger Teil des Lebens, der bei Urlaub oder Krankenstand nicht „mit ausfällt“. Da überdies nicht nur die gesetzliche Mindestruhezeit frei zu sein hat (Stichwort: Höchstarbeitszeit), wäre es auch fast unmöglich, jeder Arbeitsstunde einen Anteil an Freizeit zuzurechnen.

Diese Probleme stellen sich bei der Neutralisierungsmethode hingegen nicht. ME wäre es daher sinnvoll, dieser den Vorzug zu geben. Leider finden sich dafür keine Anhaltspunkte im AZG oder in der AZ-RL. Daher werden wohl am ehesten die Bestimmungen 227 des KA-AZG analog anzuwenden sein (so bereits Felten in Felten/Trost [Hrsg], Arbeitszeitrecht neu 113).

3.
Exkurs: Praktische Lösung

Die E des EuGH lässt vermuten, dass in Zukunft komplexe mathematische Berechnungen erforderlich sein werden, welche nur eine Software liefern kann. Tatsächlich mag dies auf die Planung komplexer Zeitmodelle zutreffen, nicht jedoch auf die laufende Kontrolle: Es genügt nämlich, von der jeweils aktuellen Woche sechs Monate in die Vergangenheit zu rechnen. Wird dies von Anfang an jede Woche laufend durchgeführt, werden automatisch sämtliche rollierende Zeiträume geprüft und AG und AN haben jederzeit eine gewisse Einschätzung für das noch verfügbare Arbeitszeitvolumen. Gerade für kleinere Unternehmen könnte dies eine Alternative zu teuren Softwareprodukten sein.