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Unterbleiben der Pensionsanpassung für hohe Gesamtpensionseinkommen nicht unionsrechtswidrig

FLORIAN J.BURGER

Eine gestaffelte Pensionsanpassung, die die Kaufkraft von geringeren Pensionen besonders erhält und als Gegenfinanzierung die Kaufkraft von Höchstpensionen nicht anpasst,169stellt keine mittelbare Diskriminierung dar. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein weiter Entscheidungsspielraum zu.

SACHVERHALT

Mit Bescheid vom 5.2.2018 sprach die bekl Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft aus, dass im Jahr 2018 die Alterspension des Kl nach dem GSVG nicht erhöht werde, weil sein Gesamtpensionseinkommen mehr als € 4.980,- monatlich betrage.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Der Kl begehrte die Erhöhung seiner Alterspension nach dem GSVG mit dem Anpassungsfaktor um 1,6 % auf rund € 2.722,- monatlich ab 1.1.2018. Er brachte vor, dass er wegen seines Geschlechts als Mann mittelbar diskriminiert sei. Dies länge daran, dass Männer überwiegend höhere Pensionen hätten, in concreto würde das Unterbleiben der Pensionsanpassung zu 84,7 % Männer betreffen. Dies würde einen Verstoß gegen die Gleichbehandlungs-RL darstellen. Eine sachliche Rechtfertigung sei nicht gegeben, insb kein sozialpolitischer Grund. Zudem sei die Ermittlung des Gesamtpensionseinkommens willkürlich.

Dem hielt die Bekl entgegen, dass die Anpassung auch soziale Komponenten enthalte, was ein anerkanntes Ziel europäischer Sozialpolitik darstelle. Der überproportionale Anteil von Männern bei den höheren Pensionen sei ein Ergebnis der deutlich höheren Arbeitsentgelte von Männern.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt, weil auch bei höheren Pensionen die Kaufkraft zu erhalten sei. Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung ab, indem es die zugesprochene Anpassung zurücknahm. Höchst-Pensionen könnten demnach auch Null-Anpassungen verkraften. Eine Revision wurde für nicht zulässig erklärt.

Der OGH ließ die Revision dennoch mit dem Argument zu, dass noch keine Judikatur zur sachlichen Rechtfertigung des Unterbleibens der Pensionsanpassung 2018 ab einem bestimmten Gesamtpensionseinkommen noch nicht vorhanden sei.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 3. Der Verfassungsgerichtshof […] E 106/ 2019-11 […] verwies auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und hielt im Hinblick auf das Argument einer mittelbaren Diskriminierung von Männern mit hohem Pensionseinkommen fest, dass das Unionsrecht – mit Ausnahme der Grundrechte-Charta der Europäischen Union – keinen Maßstab für die Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof darstelle.

[…] 4.1 Das System der jährlichen Pensionsanpassung nach österreichischem Recht fällt in den Geltungsbereich der Richtlinie 79/7/EWG […]. Diese RL ist […] anwendbar, […] auch auf das in Österreich geltende System der jährlichen Pensionsanpassung […].

4.2 Nicht in Frage steht, dass durch § 369 GSVG keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gegeben ist, weil der Gesetzgeber nicht danach unterscheidet, ob die Pension einem Mann oder einer Frau gebührt.

4.3 […] zu einer mittelbaren Diskriminierung des Klägers […] führen kann, weil diese Regelung zwar neutral formuliert ist, tatsächlich aber in einem wesentlich höheren Prozentsatz die Angehörigen eines Geschlechts – die Männer – benachteiligt. Die Frage, ob sich Männer als Angehörige der dominanten Mehrheit bzw der in besserer Position befindlichen Gruppe überhaupt auf mittelbare Benachteiligung berufen können, wenn sie durch Maßnahmen bzw Regelungen betroffen sind, die sich zu ihren Lasten auswirken (dies verneinend BVwG Z W 178 2205461- 1/4E), wird hingegen von den Parteien nicht angesprochen, sodass darauf nicht einzugehen war.

5. Mögliche Rechtfertigung

5.1 Nach der Rechtsprechung des EuGH kann der Mitgliedstaat bei mittelbar diskriminierend wirkenden Vorschriften darlegen, dass die von ihm geschaffene Vorschrift einem legitimen Ziel seiner Sozialpolitik dient, dass dieses Ziel nichts mit einer Diskriminierung zu tun hat und dass er vernünftigerweise annehmen durfte, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind (EuGH 20.10.2011, C-123/10, Brachner, Rz 70 mwN).

[…] 5.4 Während vor dem PensionsharmonisierungsG BGBl I 2004/142BGBl I 2004/142 die Anpassung der Pensionen zum Erhalt deren inneren Werts die (zu erwartende) Lohnentwicklung widerspiegelte, soll die Pensionsanpassung nunmehr lediglich die Kaufkraft der Pensionen im Hinblick auf die Entwicklung der Verbraucherpreise erhalten, um Kaufkraftverluste der Pensionisten zu verhindern. Der zuständige Bundesminister hat durch Verordnung den Anpassungsfaktor so festzusetzen, dass seine Auswirkungen die Pensionen in dem Ausmaß erhöhen, dass dadurch die durchschnittliche Veränderung der Verbraucherpreise in den letzten 12 Kalendermonaten vor dem Juli des der Anpassung vorangegangenen Jahres ausgeglichen wird. Dieses System wurde in den letzten Jahren durch jeweils befristete Regelungen durchbrochen und für höhere Pensionen nur mehr ein Teil des Kaufkraftverlusts ausgeglichen; für die Jahre 2012 und 2014 wurde der Anpassungsfaktor generell vermindert (vgl Tomandl, Grundriss des österreichischen Sozialrechts7 [2019] Rz 301).

5.5 Auch nach der Absicht des Gesetzgebers der Pensionsanpassung 2018 sollte für dieses Jahr eine nach dem Gesamtpensionseinkommen abgestufte Pensionserhöhung vorgenommen werden, die eine soziale Komponente in sich trägt (ErläutRV 1767 170 BlgNR 25. GP 1). Es sollte das Ziel der Kaufkrafterhaltung und auch der Kaufkraftstärkung von Pensionist/ inn/en erreicht werden. In den Gesetzesmaterialien wird dazu ausgeführt, dass bei Menschen mit niedrigem Einkommen und Pensionen die alltäglichen Kosten (beispielsweise für Leben und Wohnen) im Vordergrund stehen und diese Kosten in den letzten Monaten stärker gestiegen seien. Gerade kleine und mittlere Pensionen seien von den überdurchschnittlich steigenden Lebensmittel- oder Lebenshaltungskosten im engeren Sinn betroffen; dies solle berücksichtigt und ausgeglichen werden (Vorblatt und Wirkungsorientierte Folgenabschätzung 1767 BlgNR 25. GP 1).

5.6 Dass die Ziele des Kaufkrafterhalts bzw der Kaufkraftstärkung von Beziehern kleiner Pensionen als sachlich und legitim zu qualifizieren sind, wird auch vom Revisionswerber nicht angezweifelt, ebenso wenig, dass die dieses Ziel umsetzenden Vorschriften den – dem nationalen Sozialgesetzgeber offen stehenden – weiten Spielraum nicht überschreiten und auf den ersten Blick nichts mit einer Diskriminierung nach dem Geschlecht zu tun haben. Der Revisionswerber erachtet es aber zur Erreichung dieses Ziels als nicht erforderlich, dass ‚im Gegenzug‘ über der monatlichen ASVG-Höchstbeitragsgrundlage 2017 liegende Ruhe- und Versorgungsgenüsse nicht im Ausmaß der Inflationsrate erhöht werden, wodurch deren Kaufkraft sinkt.

5.7 Der damalige Sozialminister hat sich in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung darauf berufen, dass es keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz der gleichmäßigen Anpassung aller Pensionen gebe und in der Sozialversicherung auch bei Pensionsanpassungen immer die Beachtung sozialer Aspekte zu Tage trete. Diese Aspekte könnten sowohl zu überproportionalen Erhöhungen niedriger Pensionen wie zu keinen Anpassungen bei hohen Pensionen führen (13312/AB BlgNR 25. GP).

5.8 In diese Richtung geht auch das von der beklagten Partei im vorliegenden Verfahren vorgetragene Rechtfertigungsargument, der Gesetzgeber habe bei seiner politischen Entscheidung ab einem Einkommen über der Höchstbeitragsgrundlage keinen Stützungsbedarf mehr gesehen, sodass eine Pensionsanpassung für 4.980 € monatlich übersteigende Pensionen unterbleiben habe können.

5.9. Bei der Beurteilung, ob diese aus sozialen Aspekten vorgenommene Differenzierung nach verschiedenen Gruppen von Pensionsbeziehern unsachlich ist, ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten bei der Wahl geeigneter Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele über einen weiten Entscheidungsspielraum verfügen. Dieser Entscheidungsspielraum ist nur dadurch begrenzt, dass tragende Grundsätze des Unionsrechts nicht ausgehöhlt werden dürfen (EuGH 9.2.1999, C-167/97, Seymour- Smith und Perez, Slg 1999, I-666, Rz 74, 76; EuGH 20.10.2011, C-123/10, Brachner, Rz 74, 75). 5.10 Insbesondere vor dem Hintergrund des relativ weiten Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers zur Erreichung seiner sozialpolitischen Ziele ist die sachliche Rechtfertigung der gesetzgeberischen Maßnahme zu bejahen. Würde man der Rechtsansicht des Klägers folgen, würde sich die Kluft des Pensionseinkommens zwischen Männern und Frauen langfristig nicht verringern, sondern vergrößern und damit die mittelbare Diskriminierung fortgeschrieben werden. Die Gleichstellung von Männern und Frauen in Bezug auf das Entgelt und auch die Pensionen als ein langfristiges und wesentliches Ziel des Unionsrechts wäre nicht erreicht.

5.11 Dient das Unterbleiben der Pensionsanpassung für 2018 für 4.980 € übersteigende Pensionen einem legitimen Ziel der Sozialpolitik des nationalen Gesetzgebers, hat dieses Ziel nichts mit einer Diskriminierung zu tun. Der Gesetzgeber durfte vernünftigerweise annehmen, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind. Die behauptete Unionsrechtswidrigkeit ist daher nicht zu erkennen.

6. Soweit der Revisionswerber noch geltend macht, § 369 Abs 2 letzter Satz GSVG stelle deshalb keine sachgerechte Regelung dar, weil infolge der darin enthaltenen Anknüpfung an das Sonderpensionenbegrenzungsgesetz (SpBegrG) nur bestimmte Pensionsleistungen (Sonderpensionen) erfasst werden und andere Pensionsleistungen – seiner Rechtsansicht nach zu Unrecht – unberücksichtigt bleiben, entfernen sich seine Ausführungen vom festgestellten Sachverhalt. Nach diesem bezieht der Revisionswerber zwei gesetzliche Pensionen, die sein Gesamtpensionseinkommen bilden (§ 369 Abs 2 erster Satz GSVG), er erhält aber keine Sonderpension iSd SpBegrG.

7. Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.“

ERLÄUTERUNG

Mit dieser grundlegenden E spricht der OGH über die Wirkung von EU-Richtlinien und Unionszielen im Zusammenhang mit Pensionsanpassungen und deren Wirkungen auf den Gender Pension Gap ab. Gegenstand des Verfahrens ist eine nach der Höhe des Gesamtpensionseinkommens gestaffelte Pensionsanpassung.

Das Höchstgericht wirft dabei treffend die Frage auf, die für zukünftige Verfahren zu berücksichtigen sein wird, ob Angehörige der dominanten Mehrheit sich überhaupt auf mittelbare Benachteiligung berufen können. Dies erscheint im Lichte des Art 7 B-VG maßgeblich.

Aber selbst, wenn diese Gruppe diskriminiert werden könnte, verbleibt auch europarechtlich eine Rechtfertigungsmöglichkeit. Einerseits ist seit der Umstellung der Pensionsanpassung (ab dem Jahr 2005) von der Lohnentwicklung auf die Inflation die starke Bindung zur Entwicklung der (geschlechtsspezifischen) Beitragsgrundlagen entfallen, andererseits kam auch die gesetzliche Automatik kaum zur Anwendung. Weil also die Wertsiche- 171rung der Pensionen nunmehr auf die allgemeine Geldentwertung und nicht mehr auf das Lohn- und Gehaltswachstum abstellt (bei dem es durchaus geschlechterspezifische Unterschiede geben könnte), entfällt auch die enge Bindung an den inneren, dh den aus dem Erwerbseinkommen abgeleiteten Wert der Pension. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren seinen relativ weiten Entscheidungsspielraum wahrgenommen und von der Anpassungsautomatik (nämlich mit der Inflation) abweichende Lösungen normiert.

So ist auch für die Pensionsanpassung 2018, die erstmals die Bildung eines Gesamtpensionseinkommens und neue Ansätze zur Gewichtung der Stufen vorsah, eine soziale Komponente im Gesetzestext verankert. Kleinere Pensionen sollen demnach in ihrer Kaufkraft gestärkt werden, auch zur finanziellen Abfederung der solcherart erzielten Armutsvermeidung sollte die Anpassung bei Höchst-Pensionen nicht erfolgen. Der OGH erblickt für derartige Entscheidungen des Gesetzgebers einen weiten Entscheidungsspielraum.

Das wird insb durch das Unionsziel, die Unterschiede in Einkommen und Pension von Männern und Frauen zu verringern, unterstrichen. Würden nämlich keine differenzierten Anpassungen vorgenommen werden dürfen, wäre es deutlich schwerer die Gleichstellung zu erreichen. Die gesetzlichen Vorgaben waren daher geeignet und erforderlich. Das Höchstgericht findet klare Worte: Mit dem Ziel der Diskriminierung haben solche Normen nichts zu tun.