85Keine Kostenübernahme für Cannabinoid als Außenseitermethode im Falle alternativer schulmedizinischer Methoden
Keine Kostenübernahme für Cannabinoid als Außenseitermethode im Falle alternativer schulmedizinischer Methoden
Eine Kostenübernahme für Außenseitermethoden wird abgelehnt, wenn schon mit schulmedizinischen Methoden das Auslangen gefunden werden hätte können, weil in diesem Fall das Maß des Notwendigen überschritten wird. Es reicht nicht aus, wenn nur eine von mehreren schulmedizinischen Methoden versucht wurde.
Der 1986 geborene Kl leidet an einer mittelgradig depressiven Störung, einer chronifizierten schweren Belastungsreaktion bei emotional instabiler Persönlichkeit und einer nicht organischen Schlafstörung bei stechendem Spannungskopfschmerz sowie Appetitlosigkeit.
Ab 2009 wurden ihm verschiedene Antidepressiva, die im Erstattungskodex (EKO) enthalten sind, verordnet. Die ausgestellten Rezepte hat der Kl zeitweise nicht oder nur teilweise eingelöst. Eine erschöpfende Behandlung mit Wirkstoffen aus dem EKO ist bisher nicht erfolgt.
Im Jahr 2014 wurde dem Kl von seinem behandelten Facharzt für Psychiatrie und Neurologie das Präparat Dronabinol verschrieben, das nicht im EKO enthalten ist und zu den Cannabinoiden zählt. Seit der Einnahme hat sich der Gesundheitszustand des Kl verbessert, und die Behandlung scheint aus medizinischer Sicht zweckmäßig.
Der Kl beantragte bei der zuständigen Gebietskrankenkasse (GKK) die Kostenübernahme für das Präparat Dronabinol, welche diese mit Bescheid vom 4.4.2016 ablehnte.
Der Kl erhob dagegen Klage und brachte vor, es sei ihm nicht zumutbar, sämtliche im EKO aufgelisteten Präparate auszuprobieren. Die GKK wendete ein, der Kl habe die im EKO zugelassenen Therapiemöglichkeiten nicht ausgeschöpft, weshalb eine Behandlung mit Dronabinol nicht notwendig iSd § 133 Abs 2 ASVG sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und begründete dies damit, dass die Anwendung von Außenseitermethoden erst notwendig sei, wenn mit den im EKO erfassten Präparaten keine ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung gewährleistet sei und deshalb die Anwendung der wissenschaftlich nicht gesicherten Methode notwendig ist. Dies sei im vorliegenden Fall nicht gegeben.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Der Kl habe nicht unter Beweis stellen können, dass die schulmedizinischen Behandlungsoptionen vergleichsweise weniger erfolgsversprechend oder aufgrund von Nebenwirkungen unzumutbar wären.
Der OGH hielt die außerordentliche Revision für nicht zulässig und bestätigte damit im Ergebnis das Urteil der Vorinstanzen.
„[…] 2.1 Nach ständiger Rechtsprechung besteht bei der Krankenbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG grundsätzlich ein Vorrang der wissenschaftlich anerkannten schulmedizinischen Behandlungsmethoden. […] Zwar ist bei einer von der Wissenschaft noch nicht anerkannten alternativen Behandlungsmethode (‚Außenseitermethode‘) ein Kostenersatz 172 nicht ausgeschlossen. Er ist jedoch auf Ausnahmefälle eingeschränkt […].
2.3 Dies setzt voraus, dass eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung stand oder eine solche versucht wurde und erfolglos blieb, während die ‚Außenseitermethode‘ beim Versicherten erfolgreich war oder sie sich ex ante gesehen (zumindest) als erfolgversprechend darstellte (RS0083792 [T2]). […]
3. In diesem Sinn lehnt die ständige Rechtsprechung den Ersatz der Kosten für die komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden (‚Außenseitermethoden‘) ab, wenn schon mit schulmedizinischen Methoden das Auslangen gefunden werden hätte können, weil in diesem Fall das Maß des Notwendigen überschritten wird (10 ObS 52/96 SSV-NF 10/30 = DRdA 1997/3, 22 [Mazal] = ZAS 1998/3, 42 [Offenberger]; 10 ObS 2374/96g SSV-NF 10/121; 10 ObS 382/98v SSV-NF 13/65; RS0102470).
4. Für den Anspruch auf Kostenersatz für eine komplementärmedizinische Behandlungsmethode reicht nicht aus, dass nur eine von mehreren schulmedizinischen Methoden versucht wurde (10 ObS 86/09h SSV-NF 23/81 = ZAS 2011/46, 284 [Stadler] = DRdA 2011/43, 440 [Naderhirn]; Felten/Mosler, SV-Komm [23. Lfg] § 133 ASVG Rz 61).
5. Von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung weichen die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht ab: 5.1.1 Nach den Tatsachenfeststellungen sind im Fall des Klägers die von der Wissenschaft anerkannten Behandlungsmethoden nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern teils noch gar nicht versucht worden.
5.1.2 Bei Lösung der Rechtsfrage, ob die alternative Behandlung unentbehrlich bzw unvermeidbar ist, um die medizinisch notwendige Versorgung zu gewährleisten oder ob diese Behandlung eine zu vermeidende unnötige Maßnahme darstellt, haben die Vorinstanzen im Sinn der bisherigen Rechtsprechung auch das Maß der Betroffenheit des Klägers berücksichtigt […]. Was die unerwünschten (erheblichen) Nebenwirkungen der schulmedizinischen Behandlungsmethoden betrifft, waren solche weder bei den bislang verordneten (schulmedizinischen) Präparaten objektiv feststellbar, noch steht fest, dass derartige Nebenwirkungen beim Kläger auftreten werden, wenn bisher noch nicht gewählte schulmedizinische Behandlungsmethoden angewandt werden sollten. […] Die Beurteilung, dass die Verschreibung dieses Präparats das Maß des Notwendigen iSd § 133 Abs 2 ASVG überschreite, ist nicht zu beanstanden. […]
6. Da sich die Entscheidung des Berufungsgerichts in allen vom Kläger relevierten Fragen an der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs orientiert, war die außerordentliche Revision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.“
Unter Außenseitermethoden werden in der Medizin solche Behandlungen verstanden, deren Wirksamkeit in der Wissenschaft nicht allgemein anerkannt ist. Die Arzneimittel, für die von der SV die Kosten übernommen werden, finden sich im EKO, der vom Dachverband der Sozialversicherungen herausgegeben wird.
Gem § 133 Abs 2 ASVG muss die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der OGH hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass eine Kostenübernahme für „Außenseitermethoden“ in Ausnahmefällen gewährt wird, wenn die Voraussetzungen des § 133 Abs 2 ASVG gegeben sind.
Hierfür hat der OGH bereits in verschiedenen Entscheidungen Kriterien herausgearbeitet. Es besteht grundsätzlich ein Vorrang der anerkannten wissenschaftlichen Behandlungsmethoden bzw bei der Erstattung von Medikamenten ein Vorrang der im EKO genannten Arzneimittel. Dieser Vorrang kann nur durchbrochen werden, wenn entweder keine geeignete wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode zur Verfügung steht, eine solche bereits erfolglos durchgeführt wurde oder erhebliche Nebenwirkungen gezeigt hat. Gleichzeitig muss die Außenseitermethode entweder bereits erfolgreich versucht worden sein oder zumindest nach der bisherigen Erfahrung erfolgsversprechend sein.
Im vorliegenden Fall ist die Behandlung mit Dronabinol zwar zweckmäßig und wohl auch ausreichend, übersteigt aber nach den Feststellungen des OGH das Maß des Notwendigen. Der Kl wurde zwar bereits mit im EKO enthaltenen Arzneimitteln behandelt, jedoch stehen noch weitere zur Verfügung, die noch nicht ausprobiert wurden.
Der OGH wiederholt auch, dass eine Behandlung mit nur einer von mehreren möglichen anerkannten Methoden nicht ausreicht, um eine Außenseitermethode notwendig iSd § 133 Abs 2 ASVG zu machen.
In diesem Zusammenhang ist offen bzw zu hinterfragen, wie viele verschiedene zur Verfügung stehende Methoden tatsächlich ausprobiert werden müssten, damit eine Außenseitermethode gewährt wird bzw ob alle anerkannten Methoden versucht werden müssten. In seiner E vom 10.11.2009, 10 ObS 86/09h, hat der OGH dazu ausgeführt, dass schulmedizinische Methoden allgemein vorrangig anzuwenden sind. Es wird aber wohl auf den jeweiligen Einzelfall ankommen. Wenn bereits mehrere schulmedizinische Methoden erfolglos ausprobiert wurden oder erhebliche Nebenwirkungen gezeigt haben, zugleich aber eine Außenseitermethode versucht wurde, die medizinisch zweckmäßig ist, wäre es einem Versicherten wohl nicht zumutbar, anstelle einer bereits wirksamen Methode weitere aufgrund der bisherigen Erfahrungen wahrscheinlich unwirksame Methoden auszuprobieren. 173