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Fehlende Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur Frage des anwendbaren Sozialversicherungsrechts bei grenzüberschreitendem Sachverhalt

SOPHIAMARCIAN

Der Revisionswerber ist handelsrechtlicher Geschäftsführer eines Bauunternehmens. Im Rahmen einer Kontrolle einer Baustelle des Unternehmens durch die Finanzpolizei wurde festgestellt, dass die dort tätigen AN nicht zur österreichischen SV angemeldet waren. Der Revisionswerber bekämpfte das Straferkenntnis beim Verwaltungsgericht (VwG) Wien und brachte in seiner Beschwerde vor, dass zwei der drei AN nicht für die D-GmbH, sondern für ein slowakisches Subunternehmen auf der Baustelle tätig waren und von diesem bereits bei der slowakischen SV gemeldet waren (hinsichtlich des dritten AN wurde keine Beschwerde erhoben).

Das VwG gab der Beschwerde des handelsrechtlichen Geschäftsführers nicht statt und stellte fest, dass die betroffenen AN bereits seit einigen Wochen Hilfsarbeiten auf der Baustelle verrichteten und auch schon früher, auf anderen Baustellen, für die D-GmbH gearbeitet haben. Im Zeitpunkt der Kontrolle lagen jedoch keine Anmeldungen zur österreichischen SV vor, und es konnten auch keine A1-Bescheinigungen über eine Entsendung des slowakischen Unternehmens vorgezeigt werden. Das VwG war der Ansicht, dass die AN zum Zeitpunkt der Kontrolle für die D-GmbH tätig waren und daher von dieser auch die Meldung zur österreichischen SV hätte erstattet werden müssen. Würde man dem Vorbringen des Revisionswerbers, die AN seien für das slowakische Unternehmen tätig, folgen, sei dennoch die D-GmbH verpflichtet gewesen, die Sozialversicherungsmeldung vorzunehmen. In diesem Fall sei von einer Arbeitskräfteüberlassung iSd § 3 Abs 3 dritter Satz ASVG auszugehen und die D-GmbH träfe als DG iSd § 35 Abs 2 ASVG – unabhängig von der Sozialversicherungsmeldung im Sitzstaat des ausländischen Überlassers – eine Meldeverpflichtung, da die AN in Österreich der Pflichtversicherung unterlägen.

Gegen das Erk des VwG wurde eine außerordentliche Revision erhoben, mit der Begründung, es fehle Rsp dazu, ob § 16 Arbeitskräfteüberlassungsgesetz (AÜG) entgegen der Regelung des § 16a AÜG auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte im EWR anwendbar ist.

Der VwGH erachtete die außerordentliche Revision als zulässig und berechtigt. Dem VwGH zufolge fehlten ausreichende Tatsachenfeststellungen des VwG. So argumentierte der Revisionswerber im erstinstanzlichen Verfahren, das slowakische 186 Unternehmen sei die DG der AN, und diese seien daher dem slowakischen Sozialversicherungsrecht unterstellt, da sie nur als vorübergehende Arbeitskräfte der D-GmbH zur Verfügung gestellt worden waren. Diesem Bestreitungsvorbringen des Revisionswerbers kommt, entgegen der Ansicht des VwG, sehr wohl entscheidende Bedeutung zu. Das VwG hätte prüfen müssen, ob die AN zum Tatzeitpunkt ein Dienstverhältnis mit der D-GmbH oder mit dem slowakischen Unternehmen hatten, so der VwGH. Diesem Bestreitungsvorbringen des Revisionswerbers kommt entgegen der Ansicht des VwG sehr wohl entscheidende Bedeutung zu, und es muss geprüft werden, ob die AN zum Tatzeitpunkt ein Dienstverhältnis mit der D-GmbH oder mit dem slowakischen Unternehmen hatten. Mit seiner Anknüpfung an die Regelung des § 3 Abs 3 dritter Satz ASVG, wonach auch Personen, die gem § 16 AÜG bei einem inländischen Betrieb beschäftigt werden, als im Inland beschäftigt gelten, ließ das VwG bei seiner Entscheidung außer Acht, dass diese Regelungen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten durch die zwingenden Koordinierungsvorschriften des Unionsrechts verdrängt werden, was auch in § 16a AÜG zum Ausdruck kommt. Geht es daher – wie hier – um grenzüberschreitende Beschäftigungen zwischen Mitgliedstaaten der EU, so gelten in erster Linie die Bestimmungen der VO 883/2004, die festlegen, welchem der beteiligten Staaten bei einer grenzüberschreitenden Überlassung von Arbeitskräften das Versicherungsrecht zukommt.

Der VwGH hielt in seiner Entscheidung zudem fest, dass aufgrund des Fehlens einer A1-Bescheinigung zwar einerseits keine (durch solche Bescheinigungen bewirkte) bindende Feststellung bestehe, dass die AN dem slowakischen Sozialversicherungsrecht unterlegen seien, dass daraus aber umgekehrt auch nicht zwingend abzuleiten sei, dass das slowakische Sozialversicherungsrecht nicht anzuwenden sei. Es bedürfe hierfür einer eigenständigen Prüfung durch das Gericht.

Nach Art 11 Abs 1 VO 883/2004 sind auf eine Person, für die die VO gilt, stets nur die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats anwendbar, wobei dies –vorbehaltlich der vorgesehenen Ausnahmen – grundsätzlich jener Staat ist, in dem die Person eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt (vgl Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004; Beschäftigungsstaatprinzip). Es kommt dabei auf den Ort an, wo die betreffende Person die mit der Tätigkeit verbundenen Handlungen tatsächlich konkret ausführt; indes ist unerheblich, in welchem Staat sich der Wohnsitz des AN bzw des Selbständigen oder der Sitz des AG befindet. Eine Ausnahme vom Beschäftigungsstaatprinzip gilt nach Art 12 der VO 883/04 im Falle einer Entsendung, sofern die voraussichtliche Dauer der Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und die Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.

Die wesentlichsten Grundsätze für die Anwendung der Ausnahmeregelung sind in Art 14 der VO 987/2009 sowie im Beschluss A2 der Verwaltungskommission vom 12.6.2009 und im (auf Basis der Z 7 des Beschlusses A2 ausgearbeiteten) Praktischen Leitfaden der Verwaltungskommission zusammengefasst: Demnach muss insb der entsendende DG im Entsendestaat unter Würdigung sämtlicher von ihm ausgeübter Tätigkeiten nennenswerte geschäftliche Tätigkeiten fortgesetzt entfalten, die nicht bloß in rein internen Verwaltungstätigkeiten bestehen dürfen, und er muss derartige Tätigkeiten zwangsläufig bereits vor der ersten Entsendung für einige Zeit ausgeübt haben. Auch der entsandte DN muss ein Naheverhältnis zum Entsendestaat aufweisen, indem er dessen Rechtsvorschriften schon unmittelbar vor dem Beginn der Entsendung unterlegen ist, sei es auf Grund eines Dienstverhältnisses mit demselben oder mit einem anderen DG (wobei das Dienstverhältnis auch nur zwecks Entsendung eingegangen worden sein kann), sei es aus einem anderen Grund (etwa selbständige Erwerbstätigkeit, Bezug von Arbeitslosengeld, Studium etc); die Zugehörigkeit zum Entsendestaat soll – um Missbrauch zu vermeiden – mindestens einen Monat lang gedauert haben; bei kürzeren Zeiträumen erfolgt eine Bewertung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände.

Fehlt es an der Erfüllung auch nur einer der Voraussetzungen des Art 12 Abs 1 VO 883/2004, so unterliegen entsandte Arbeitskräfte nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats, sondern kommt das Beschäftigungsstaatsprinzip und damit die Rechtsordnung dieses Staats zur Anwendung.

Das VwG hat daher im zweiten Verfahrensgang hinreichende Feststellungen dazu zu treffen, ob die Voraussetzungen des Art 12 Abs 1 VO 883/2004 erfüllt sind. Sollte das erkennende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass das österreichische Sozialversicherungsrecht anzuwenden ist, wird die strittige DN-Eigenschaft der D-GmbH anhand des § 35 Abs 1 iVm § 4 ASVG zu prüfen sein. Erst im Anschluss daran wird beurteilt werden können, ob dem Revisionswerber – als Geschäftsführer und damit zur Vertretung nach außen Berufener der GmbH – eine Verletzung der Meldepflichten anzulasten ist oder nicht. 187