§ 1155 ABGB in der COVID-19-Krise
§ 1155 ABGB in der COVID-19-Krise
Die COVID-19-Pandemie bringt unzählige Rechtsprobleme mit sich, deren Klärung noch gänzlich offen ist. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den Fragen der Entgeltfortzahlung und der einseitigen Anordnung von Urlaub iSd § 1155 Abs3 und 4 ABGB.
Als zu Beginn der COVID-19-Krise erste Fragestellungen im Zusammenhang mit der Entgeltfortzahlung bei Betriebsschließungen auftraten, konnte in aller Regel auf § 32 EpidemieG verwiesen werden, der vorsieht, dass AN, die in einem gem § 20 EpidemieG beschränkten oder geschlossenen Unternehmen beschäftigt sind, ein Vergütungsanspruch in Höhe des regelmäßigen Entgelts gemäß EFZG zukommt. § 20 EpidemieG enthielt dabei die Möglichkeit der Betriebsschließung bei Auftreten bestimmter Krankheiten, der wohl auch auf gegenständlichen Fall anzuwenden gewesen wäre.*
Art 8 BGBl I 2020/12BGBl I 2020/12.
Das Inkrafttreten des COVID-19-Maßnahmengesetzes (idF COVID-19-Gesetz) mit 16.3.2020* führte plötzlich zu einer „Belebung“ der Diskussion um die Frage des grundsätzlichen Bestehens einer Entgeltfortzahlung bei (angeordneter) Betriebsschließung oder -einschränkung. Während § 1 COVID-19-Gesetz eine eigene Rechtsgrundlage für ein verordnetes Verbot des Betretens von (bestimmten) Betriebsstätten zum Zwecke des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen und – seit 22.3.2020* – nunmehr auch von Arbeitsorten iSd § 2 Abs 3 ASchG zur Verhinderung der Vertretung von COVID-19 normiert,* regelt § 4 Abs 2 COVID-19-Gesetz nämlich, dass bei Erlass einer solchen auf § 1 leg cit basierenden Verordnung die Bestimmungen des EpidemieG betreffend die Schließung von Betriebsstätten im Rahmen des Anwendungsbereichs der Verordnung nicht zur Anwendung gelangen.
Einige Stimmen der Lehre leiteten daraus ab, dass damit nicht nur der auf § 20 EpidemieG beruhende Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 32 EpidemieG entfalle,* sondern vielmehr gar kein Entgeltfortzahlungsanspruch bei behördlicher Betriebsschließung mehr bestehe, da ein Fall der neutralen Sphäre vorliegen würde.* Damit wären vom Entgeltentfall auch jene AN betroffen gewesen, die (zB wegen einer COVID-19-Erkrankung) arbeitsunfähig gewesen wären.*
Wohl zur Vermeidung von Unsicherheiten entschloss sich der Gesetzgeber infolge dessen zu einer raschen Klarstellung, änderte § 1155 ABGB – erstmals seit 1.1.1917 – auf bestimmte Zeit (nämlich bis 31.12.2020) ab und fügte folgende Absätze hinzu:
„(3) Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl. Nr. 12/2020, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, gelten als Umstände im Sinne des Abs. 1. Arbeitnehmer, deren Dienstleistungen aufgrund solcher Maßnahmen nicht zustande kommen, sind verpflichtet, auf Verlangen des Arbeitgebers in dieser Zeit Urlaubs- und Zeitguthaben zu verbrauchen.(4) Für den Verbrauch gemäß Abs. 3 gilt:
Urlaubsansprüche aus dem laufenden Urlaubsjahr müssen nur im Ausmaß von bis zu 2 Wochen verbraucht werden.
Von der Verbrauchspflicht sind weiters ausgenommen solche Zeitguthaben, die auf der durch kollektive Rechtsquellen geregelten Umwandlung von Geldansprüchen beruhen.
Insgesamt müssen nicht mehr als 8 Wochen an Urlaubs- und Zeitguthaben verbraucht werden.“
Nunmehr sollen zwar Maßnahmen nach dem COVID-19-Gesetz, die zum Verbot oder zur Einschränkung des Betretens von Betrieben führen, als Umstände iSd § 1155 Abs 1 ABGB „gelten“* und eine Entgeltfortzahlungspflicht des AG auslösen. Scheinbar als „Ausgleich“ dafür wird es AG aber ermöglicht, mit gewissen Einschränkungen einseitig den Verbrauch von Urlaub anzuordnen. Diese Gesetzesgenese erscheint bemerkenswert. Möchte man unterstellen, dass man AN über Umwege „elegant“ ihren eigenen Beitrag zur Krisenbewältigung abverlangen wollte, ist dies gelungen. Man entschloss sich nämlich nicht dazu, die klar geregelte Entgeltfortzahlung nach § 32 EpidemieG wieder einzuführen. Vielmehr basiert diese nun auf § 1155 ABGB, eine Norm, die nicht nur Diskussionen über mögliche Anrechnungen entstehen lassen könnte, sondern als „Gegenleistung“ für 199 die Fortzahlung des Entgelts auch noch einen zwingenden Urlaubsverbrauch vorsieht. Auch wenn damit rein technisch eine Entgeltfortzahlung für einen solchen Fall wieder „eingeführt“ wurde, erfolgt dadurch – zumindest für den Zeitraum des Urlaubs- und Zeitguthabenkonsums – eine Risikoverschiebung zu Lasten der AN. Dabei ist überhaupt fraglich, ob man ohne diese Novellierung tatsächlich einen Entgeltfortzahlungsanspruch unter Verweis auf die neutrale Sphäre verneinen hätte können.
§ 1155 ABGB stellt eine arbeitsrechtliche Sonderbestimmung des Leistungsstörungsrechts dar und umfasst nicht nur die (nachträgliche) Unmöglichkeit der Leistung, sondern auch den Annahmeverzug des AG.* Die Rechtsfolgen des § 1155 Abs 1 ABGB treten dabei ein, wenn die Dienstleistung nicht zustande kommt, der AN zur Arbeitsleistung aber bereit ist und er durch Umstände auf Seiten des AG daran verhindert wird.
Nach den Materialien* sind durch § 1155 ABGB „alle in der Sphäre des DG vorkommenden Zufälle von ihm zu tragen, in dem er trotz Unterbleibens der Dienstleistung das Entgelt zu entrichten hat“. Umstände auf Seiten des AG sind – nach der Lokalisierungstheorie – dann gegeben, wenn ein die Dienstverhinderung des AN auslösendes Ereignis vorliegt, das den unternehmerischen Bereich des AG betrifft und sich auf diesen auswirkt. Es muss also der AG bzw sein Unternehmen, sein Betrieb, gewissermaßen „örtlich“, durch das jeweilige Ereignis getroffen werden, das Ereignis lässt sich also im Betrieb des AG lokalisieren. Dabei ist es – so auch die Materialien – irrelevant, ob das zum Arbeitsausfall führende Ereignis vom AG beeinflussbar ist, im Einflussbereich Dritter liegt, es sich um ein unabwendbares Ereignis handelt oder ob höhere Gewalt vorliegt. Dementsprechend werden Schäden am Betrieb des AG zB durch Brand, Überschwemmungen, Vermurungen oder Erdbeben (also höhere Gewalt) der Entgeltfortzahlungspflicht des § 1155 ABGB unterstellt.*
In der arbeitsrechtlichen Judikatur und Lehre behilft man sich in diesem Zusammenhang mit einer Unterscheidung zwischen der AN-Sphäre, der AG-Sphäre und – siehe hierzu unten – der neutralen Sphäre.
Ein Großteil der Lehre* geht davon aus, dass neben der AN- und der AG-Sphäre auch Umstände vorliegen können, die einer sogenannten neutralen Sphäre zuzuordnen sind. Diese soll – allgemein umschrieben – dann vorliegen, wenn das die Dienstverhinderung auslösende Ereignis derart umfassend ist, dass es neben dem Betrieb oder sonstigen Arbeitsort in vergleichbarer Weise auch die Allgemeinheit betrifft. In diesem Fall soll eine Entgeltfortzahlung ausfallen. Als Musterbeispiel derartiger Fälle werden insb umfassende Naturereignisse, Seuchen oder Kriegsereignisse genannt.*
Gerade am Beispiel der gegenständlichen Krise erscheint es aber zweifelhaft, ob eine neutrale Sphäre im Arbeitsverhältnis überhaupt noch angenommen werden kann.* Zwar mag die vorliegende Pandemie die Allgemeinheit betreffen, eine vergleichbare Betroffenheit erscheint jedoch – insb durch die Maßnahmen des Gesetzgebers – nicht gegeben.* Vielmehr ist diese geradezu eklatant unterschiedlich ausgestaltet. Während einige Betriebe ihre Tätigkeit in den Betriebsräumlichkeiten oder örtlich disloziert im Home- Office nahezu unverändert aufrecht erhalten, Lebensmittelunternehmen davon sogar profitieren, ist das Betreten anderer Betriebe behördlich verboten. Aber auch in diesen Fällen ist eine Arbeitstätigkeit nicht generell untersagt. Selbst wenn nämlich ein Unternehmen Geschäftsräumlichkeiten besitzt, deren Betreten verboten oder eingeschränkt ist, können AN bzw bestimmte AN-Gruppen anderen vertraglich vereinbarten Aufgaben weiterhin nachgehen. Noch klarer werden diese Überlegungen dann, wenn der Handel wieder schrittweise geöffnet wird, oder – in weiterer Zukunft – dann, wenn aufgrund des Auftretens von COVID-19 nur einzelne Betriebe geschlossen werden.* Eine vergleichbare Betroffenheit liegt nicht vor.
MaW würde die Annahme einer neutralen Sphäre wohl eine sachlich kaum zu rechtfertigende Gruppenbildung erfordern, um dadurch eine vergleichbare 200 Betroffenheit der derart künstlich abgegrenzten „Allgemeinheit“ zu schaffen.
Dabei könnte die neutrale Sphäre mE schon per se nur AG betreffen, die ihre AN auch bei Betriebsschließung nicht einsetzen können (zB Kosmetikstudios, Physiotherapeuten nach entsprechenden Abschlussarbeiten). Kann ein Teil der AN des Betriebs arbeiten (zB Backoffice), ist die Annahme einer neutralen Sphäre auszuschließen und das Entgelt jedenfalls auch für jene AN fortzuzahlen, die keine Arbeitsleistung erbringen können. Und auch bei jenen AG, die gänzlich schließen müssen, wird man wohl schon im Hinblick auf die teils willkürliche Abgrenzung davon ausgehen müssen, dass von durch höhere Gewalt verursachte Arbeitsausfälle vorliegen, die den unternehmerischen Bereich des AG betreffen und sich auf diesen auswirken. Dabei erscheint es nicht nachvollziehbar, was diesen Fall von einem Schimmelbefall, einem Feuer oder mangelnder Hygiene unterscheiden soll, der dazu führt, dass Betriebe eines Häuserblocks schließen müssen.
Darüber hinaus würde die Annahme einer neutralen Sphäre trotz aufrechtem Arbeitsverhältnis zu einem sofortigen Entgeltverlust und damit Entzug der Existenzgrundlage der AN führen, ein Umstand, der gerade durch Schutzmechanismen wie Kündigungsfristen und Regelungen der Entgeltfortzahlung, insb § 1155 ABGB, verhindert werden soll.*
All diese Überlegungen zeigen, dass die Frage des Bestehens, aber auch des Vorliegens einer neutralen Sphäre – insb auch durch die differenzierte Maßnahmengesetzgebung der Regierung – nur in äußersten Ausnahmefällen, jedenfalls aber nicht im vorliegenden Fall, angenommen werden kann.
Eine Entgeltfortzahlungspflicht des AG ergibt sich somit in der gegenständlichen Krise schon gestützt auf § 1155 Abs 1 ABGB. Dies ist insb auch dann anzunehmen, wenn die Betretungsverbote allgemein aufgehoben und – aufgrund eines vereinzelten Ausbruchs der Krankheit – nur einzelne Betriebe geschlossen werden.
§ 1155 Abs 3 ABGB idF BGBl I 2020/16BGBl I 2020/16normiert, dass Maßnahmen aufgrund des COVID-19-Gesetzes, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, als Umstände gelten, die der AG-Sphäre zuzurechnen sind. Kommt aufgrund solcher Maßnahmen die Dienstleistung des AN nicht zustande, haben diese auf Verlangen des AG in dieser Zeit Urlaubs- und Zeitguthaben im Umfang des Abs 4 leg cit zu verbrauchen.
Selbst wenn sich somit auch ohne diese Sonderregelung eine Entgeltfortzahlung alleine gestützt auf Abs 1 leg cit ergeben hätte, werden AN nunmehr durch diese Bestimmung verpflichtet, in gewissen in Abs 4 leg cit normierten Grenzen auf Anordnung Urlaubs- und Zeitguthaben zu verbrauchen. Diese Verpflichtung unterliegt mE aber klaren Grenzen:
Eine Anordnung, Urlaubs- und Zeitguthaben zu verbrauchen, ist nur dann zulässig, wenn AN trotz des Verbots oder der Einschränkung des Betretens des Arbeitsorts/Betriebs theoretisch keine anderen Arbeiten für den AG verrichten können. Dabei wird im jeweiligen Einzelfall zu prüfen sein, ob AN im Rahmen des Arbeitsvertrags zu anderen Tätigkeiten herangezogen werden können, so ihre Kerntätigkeit aufgrund des Betretungsverbots nicht ausgeübt werden kann. Enthält der Vertrag somit einen Versetzungsvorbehalt, ist zu prüfen, ob der AN für einen vorübergehenden, zB 13 Wochen nicht überschreitenden Zeitraum auch für andere, gegebenenfalls sogar geringfügigere Tätigkeiten eingesetzt werden kann. Wird diese Frage bejaht, der AN aber dennoch nicht eingesetzt, ist dieses Nichtzustandekommen der Dienstleistung nicht auf Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Gesetzes zurückzuführen, sondern auf die unternehmerische Entscheidung des AG, wodurch ein Urlaubsverbrauch einseitig in diesem Fall auch nicht angeordnet werden kann.
Darüber hinaus müssen sich die Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Gesetzes auf den Betrieb bzw Arbeitsort des eigenen AG beziehen. Eine „mittelbare“ Betroffenheit (zB eines AN eines Bewachungsunternehmens, das die AN nicht mehr an ihrem Einsatzort, zB dem Einzelhandel, einsetzen kann, weil diese Betriebe geschlossen sind) reicht nicht aus. Das allfällige Unterbleiben der Dienstleistung dieser Bewachungsmitarbeiter liegt iS von schwankenden Auftragszahlen im alleinigen (typischen) unternehmerischen Risiko des AG. Es wäre in keiner Weise gerechtfertigt, Abs 3 leg cit auch auf solche Fälle anzuwenden, dies nicht zuletzt deswegen, weil die Vertragsbeziehung und der Geldfluss zwischen AG und Kunden ebenso nicht unverzüglich einer Beendigung herbeigeführt werden kann.
Diese Schlussfolgerung ergibt sich mE klar aus der Konstruktion des § 1155 Abs 3 ABGB. Satz 2 steht dabei in untrennbarem Zusammenhang mit Satz 1, da dieser das Recht auf Anordnung des 201 Urlaubs- und Zeitguthabenverbrauchs ausdrücklich mit der Entgeltfortzahlung nach § 1155 Abs 1 iVm Abs 3 ABGB verknüpft. Eine einseitige Anordnung von Urlaubs- und Zeitguthabenverbrauch ist somit nur für jene AN zulässig, die in Betrieben arbeiten, dessen Betreten aufgrund von Maßnahmen auf der Grundlage des COVID-19-Gesetzes eingeschränkt oder verboten ist und die aufgrund dieses Umstands keine Dienstleistung mehr erbringen können.
Fraglich ist auch, ob und wie sich § 1155 Abs 3 und 4 ABGB auf bzw bei bereits vereinbarten/m Urlaub auswirken. Nach Abs 4 leg cit kann der AG vom laufenden Urlaubsjahr lediglich Urlaub im Ausmaß von bis zu zwei Wochen anordnen (Z 1 leg cit), insgesamt können nicht mehr als acht Wochen an Verbrauch von Urlaub und/oder Zeitguthaben angeordnet werden (Z 3 leg cit).
Zu beachten sind zB Fälle, in denen AN neben ihrem aktuellen Jahresurlaub noch über zwei Wochen Alturlaub aus dem vorangegangenen Urlaubsjahr verfügen und mit dem AG vor der COVID-19-Krise eine zweiwöchige Urlaubsvereinbarung für den Sommer getroffen haben. Haben AG und AN schon bisher Urlaub durchwegs auf den ältesten Urlaubsanspruch angerechnet, ist den Parteien zu unterstellen, dass sie dies auch mit der Vereinbarung hinsichtlich des Sommerurlaubs getan haben. Ausgehend davon kann sich das Anordnungsrecht des AG mE aber nur mehr auf den aktuellen Jahresurlaub im Ausmaß von maximal zwei Wochen beziehen. Eine einseitige Anordnung eines Urlaubsverbrauchs im Ausmaß von vier Wochen scheitert an der für den AN in diesem Fall günstigeren betrieblichen Praxis und zuvor getroffenen Vereinbarung zwischen AG und AN.
Ebenso unzulässig ist mE ein Rücktritt von einer bereits getroffenen Urlaubsvereinbarung. Zu denken wäre dabei an Fälle, in denen vor dem Unterbleiben der Dienstleistung im obigen Sinne eine Vereinbarung über die Konsumation des gesamten noch offenen Jahresurlaubs getroffen wurde, sodass eine einseitige Anordnung in den Grenzen des § 1155 Abs 3 und 4 ABGB nicht mehr möglich ist. Ein Rücktritt von der Urlaubsvereinbarung durch den AG ist nur bei Vorliegen eines besonders wichtigen, die Aufrechterhaltung der Vereinbarung unzumutbar erscheinen lassenden Grundes zulässig. Dies ist insb dann anzunehmen, wenn die dienstliche Inanspruchnahme den AN gerade für den Zeitraum, in welchem Urlaub vereinbart ist, unumgänglich notwendig macht und diese Gründe den Interessen des AN an der Konsumation des Urlaubs überwiegen.* Gerade dann aber, wenn der Rücktritt lediglich dem Zweck der Schaffung eines offenen Urlaubsanspruchs dient, dessen Verbrauch sodann einseitig während dem Unterbleiben der Dienstleistung nach § 1155 Abs 3 ABGB einseitig angeordnet werden kann, liegen derartige Gründe nicht vor. Abgesehen davon, dass dies die Risikoverteilung abermals zu Lasten der AN verschieben würde, hätte der Gesetzgeber – so eine solche Konsequenz gewünscht gewesen wäre – dies auch ausdrücklich im Zusammenhang mit den Grenzen nach Abs 4 leg cit geregelt.*
§ 1155 Abs 3 und 4 ABGB sind mit BGBl I 2020/16BGBl I 2020/16, das am Samstag, 21.3.2020 kundgemacht wurde, rückwirkend mit 15.3.2020 in Kraft getreten.* Offenbar wollte der Gesetzgeber damit rückwirkend die einseitige Anordnung des Urlaubsverbrauchs zulassen.* Die Zulässigkeit dieser Rückwirkung ist aber mehr als fraglich, wobei dies sowohl (1) den Fall der einseitigen Anordnung des Urlaubsverbrauchs durch den AG vor Einführung der Novelle als auch (2) den Fall der rückwirkenden Anordnung des Urlaubsverbrauchs nach Kundmachung des BGBl betrifft.
In Variante (2) ist insb zu beachten, dass die Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB die Leistungsbereitschaft des AN voraussetzt. Arbeitsbereitschaft während des Urlaubs ist aber mit dem Urlaubszweck generell unvereinbar.* Sind die AN daher arbeitsbereit gewesen, was in der Woche zwischen 15.3.2020 und 20.3.2020 unter Beachtung der derzeitigen Situation wohl in aller Regel anzunehmen sein wird, kann schon aus diesem Grund ein Urlaubsverbrauch rückwirkend nicht angeordnet werden.
Aber auch Variante (1) erscheint rechtswidrig. Hat der AG vor 21.3.2020 einseitig Urlaubsverbrauch angeordnet, widersprach diese Anordnung jedenfalls dem Gesetz und ist daher nichtig; es ist somit davon auszugehen, als hätte der AG diese Weisung nie gesetzt. Eine nichtige Weisung kann aber nicht durch eine rückwirkend in Kraft gesetzte Regelung wieder aufleben; vielmehr bleibt diese rechtsunwirksam. 202
Schlussendlich ist darauf hinzuweisen, dass der Urlaub nach hA* eindeutig und klar dem Zweck der Erholung der AN dienen soll, diesen also jenen Freiraum gewähren soll, der für die Wiederherstellung bzw Erhaltung der Arbeitskraft, für die körperliche und geistige Erholung sowie für die Aufrechterhaltung der Gesundheit notwendig ist. Fraglich ist, ob gerade in der vorliegenden Situation ein Urlaubsverbrauch jenen Erholungszweck mit sich bringt, der dadurch sichergestellt werden soll.*
Dieser Umstand wird sich zwar auf Fälle des angeordneten Urlaubsverbrauchs nach § 1155 Abs 3 ABGB – zumindest im Hinblick auf das UrlG – nicht auswirken, da § 1155 Abs 3 ABGB wohl als diesbezügliche lex specialis anzusehen ist. In diesen Fällen wird man aber prüfen müssen, ob § 1155 Abs 3 ABGB in den unionsrechtlich gesicherten Urlaubsanspruch (auch der Vorjahre) eingreift und somit ein Verstoß gegen die Arbeitszeit-RL 2003/88/EG vorliegt, so man den Erholungszweck tatsächlich verneint. Dabei ist zu beachten, dass das Unionsrecht zwar Regelungen, die den Verlust des unionsrechtlich gesicherten Urlaubsanspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums beinhalten, nicht per se ausschließt. AN müssen aber die Möglichkeit haben, den Urlaub bis dahin tatsächlich in Anspruch zu nehmen.* Durch die sogar rückwirkende Einführung der einseitigen Anordnung des Urlaubsverbrauchs ist diesem Umstand aber – zumindest für den Alturlaub – nicht ausreichend Rechnung getragen worden.
Liegt kein Fall der Anordnung des Urlaubsverbrauchs vor, sondern vielmehr eine Vereinbarung, die noch dazu dem AN vom AG aufgedrängt wurde, muss die Frage des Erholungszwecks im Einzelfall genau geprüft werden. Gerade alleinstehende Personen in kleinen Wohnungen, die sie nur zu wenigen Aktivitäten verlassen dürfen, gegebenenfalls noch mit psychischen Vorbelastungen, erscheinen geradezu prädestiniert dafür, dass bei diesen der Erholungszweck eines derart aufgedrängten Urlaubsverbrauchs verneint werden müsste.
§ 1155 ABGB regelt jene Fälle der Entgeltfortzahlung, die der Sphäre des AG zuzurechnen sind, somit Fälle, in denen ein die Dienstverhinderung des AN auslösendes Ereignis vorliegt, das den unternehmerischen Bereich des AG betrifft und sich auf diesen auswirkt. Ausgehend davon ist es fraglich, ob Fälle, in denen der Betrieb des AG nicht durch Maßnahmen aufgrund des COVID-19-Gesetzes beschränkt ist, sehr wohl aber die Bewegungsfreiheit eines AN, sodass diese den Betrieb nicht mehr erreichen, noch von § 1155 ABGB erfasst sein können. Zu denken ist dabei an Fallkonstellationen, in denen AN in Quarantänegebieten wohnen, ihr AG sich aber außerhalb dieser Gebiete befindet. Da der novellierte § 1155 Abs 3 ABGB gerade für Fälle der COVID-19-Krise eine Entgeltfortzahlung sicherstellen wollte, gehen gewichtige Stimmen der Lehre davon aus, dass auch solche Fälle von dieser Regelung umfasst sind. ME wird man aber wohl eher davon ausgehen müssen, dass ein Entgeltfortzahlungsanspruch des AN auf § 1154b Abs 5 ABGB (§ 8 Abs 3 AngG) gestützt werden muss,* da sich das die Dienstverhinderung auslösende Ereignis nicht auf den unternehmerischen Betrieb bzw Bereich des AG auswirkt. Für die auf § 1154b Abs 5 ABGB gestützte Entgeltfortzahlung ist es auch irrelevant, ob die Dienstverhinderung als Massenphänomen eine Vielzahl an AN betrifft.* Auch wenn – im Hinblick auf die gesetzlich geregelte Dauer („verhältnismäßig kurze Zeit“) – von der Lehre hierbei als Richtwert eine Frist von einer Woche pro Anlassfall herangezogen wird, ist in dieser besonders berücksichtigungswürdigen Situation davon auszugehen, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch den Zeitraum der Quarantäne anzudauern haben wird.*
Dies wird im Übrigen auch für AN zu gelten haben, die sich urlaubsbedingt im Ausland aufgehalten haben und nur zeitverzögert nach Österreich zurückreisen konnten. Ein für den Entgeltfortzahlungsanspruch relevantes Verschulden wird man diesen Personen schon im Hinblick auf die Unübersichtlichkeit der Lage und die Komplexität der Situation nicht anlasten können.
Die Einführung von § 1155 Abs 3 und 4 ABGB hat die Rechtsposition der AN in der aktuellen COVID-19-Krise nach der oben vertretenen Ansicht verschlechtert. Rechtspolitisch ist es jedenfalls begrüßenswert, dass durch diese Novelle zumindest Klarheit geschaffen wurde. Dennoch sind die sehr allgemein gehaltenen Formulierungen genau zu überprüfen und so zu interpretieren, dass eine einseitige Anordnung des Urlaubsverbrauchs in der derzeitigen Situation nicht grenzenlos, sondern nur in klar vordefinierten, engen Grenzen möglich ist. 203