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Widerspruch des Betriebsrates zur Kündigungsabsicht: Anfechtungsrecht des Betriebsrates kann nur nach ursprünglichem Verlangen des Arbeitnehmers auf diesen übergehen

KLAUSBACHHOFER

Das Recht auf Kündigungsanfechtung durch den BR setzt ein „Verlangen“ des AN voraus, da das Kündigungsschutzverfahren nicht gegen den Willen des AN eingeleitet werden soll. Dies setzt aber voraus, dass dem BR in irgendeiner Form während der ihm für die Anfechtung zur Verfügung stehenden Frist bekannt wird, dass der AN eine Anfechtung wünscht oder zumindest mit einer solchen einverstanden ist.

SACHVERHALT

Der Kl war ab 1.10.2013 Angestellter der Bekl. Das Dienstverhältnis wurde am 14.5.2018 zum 31.7.2018 gekündigt. Bei diesem Gespräch wurde dem Kl auch mitgeteilt, dass der BR der Kündigung widersprochen habe und er sich an die Vorsitzende des BR wenden könne.

Der Kl wollte die Kündigung jedenfalls anfechten. Ihm war nicht bekannt, dass bei einem Widerspruch des BR vorerst ein ausschließliches Anfechtungsrecht des BR besteht. Er versuchte mehrfach die Vorsitzende des BR telefonisch zu erreichen, da er hoffte, von ihr Gründe für die Kündigung zu erfahren. Hätte er sie erreicht, hätte er ihr mitgeteilt, dass er die Kündigung selbst anfechten möchte. In der Folge wandte er sich an den Klagevertreter, dem er am 22.5.2018 beim ersten Besprechungstermin den Auftrag zur Kündigungsanfechtung erteilte. Kontakt zum BR bestand zu keiner Zeit. Erst während des Verfahrens nahm der Klagevertreter Kontakt zur Vorsitzenden des BR auf, die ihm mitteilte, dass der BR nur Anfechtungen für AN vornehme, wenn diese Gewerkschaftsmitglieder seien, was auf den Kl nicht zutrifft.

Es kann nicht festgestellt werden, dass des dem Kl nicht möglich gewesen wäre, allfällige weitere Betriebsratsmitglieder ausfindig zu machen oder ein E-Mail an die Vorsitzende des BR zu schreiben.

Der Kl ficht die Kündigung wegen Sozialwidrigkeit an. Er habe nicht gewusst, dass er bei einem Widerspruch des BR gegen die Kündigung innerhalb einer Frist von einer Woche ein Verlangen gegenüber dem BR aussprechen müsse, die Kündigung anzufechten. Hätte er dies gewusst, hätte er den BR zur Anfechtung aufgefordert. Hätte dieser mit ihm erörtert, dass der Kl selbst die Kündigung anfechten könne, hätte er sich für eine individuelle Anfechtung entschieden, da er über eine Rechtsschutzversicherung verfüge.

Dass die Kontaktaufnahme mit dem BR innerhalb der Wochenfrist gescheitert sei, sei für die aktive Klagslegitimation letztlich irrelevant. Die Betriebsratsvorsitzende habe während des Verfahrens ausdrücklich erklärt, dass sie bei erfolgter Kontaktaufnahme den Kl, da er kein Gewerkschaftsmitglied sei, an die Arbeiterkammer oder einen Rechtsanwalt weiterverwiesen hätte. 148

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies die Klage ab. Das Anfechtungsrecht des AN setze voraus, dass er den primär anfechtungsberechtigten BR (erfolglos) aufgefordert habe, die Anfechtung vorzunehmen, was im vorliegenden Fall nicht geschehen sei. Das Anfechtungsrecht sei daher nicht auf den Kl übergegangen und die Kündigung für ihn nicht mehr anfechtbar.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl Folge. Bei der Beurteilung, ob ein „Verlangen“ des AN iSd § 105 Abs 4 ArbVG vorliege, lege die Rsp einen großzügigen Maßstab an. Schutzzweck des „Verlangens“ des AN sei, dass ihm ein Kündigungsschutzverfahren nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werde. Durch die Einbindung des BR solle sichergestellt werden, dass dieser auf sein primäres Anfechtungsrecht bestehen könne. Da nach den Feststellungen der BR einem Anfechtungsverlangen des Kl, weil dieser nicht Gewerkschaftsmitglied sei, jedenfalls nicht entsprochen hätte, werde durch die Klage keiner dieser Gesetzeszwecke verletzt. Dass der BR kein Interesse an einer Anfechtung habe, sei schon daraus erkennbar, dass von Seiten des BR niemand mit dem Kl Kontakt aufgenommen habe, um die weitere Vorgangsweise abzuklären. Dem Zweck der Regelung entspreche es daher, das Anfechtungsrecht auch dann übergehen zu lassen, wenn dem AN der Beweis gelinge, dass der BR einem Verlangen auf Anfechtung jedenfalls nicht entsprochen hätte.

Der Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts wurde vom OGH als zulässig und auch berechtigt erkannt. Er stellte das abweisende Urteil des Erstgerichts wieder her.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Nach § 105 Abs 4 ArbVG kann der Betriebsrat auf Verlangen des gekündigten Arbeitnehmers binnen einer Woche nach Verständigung vom Ausspruch der Kündigung diese beim Gericht anfechten, wenn er der Kündigungsabsicht ausdrücklich widersprochen hat. Kommt der Betriebsrat dem Verlangen des Arbeitnehmers nicht nach, so kann dieser innerhalb von zwei Wochen nach Ablauf der für den Betriebstrat geltenden Frist die Kündigung selbst beim Gericht anfechten.

In der Entscheidung 8 ObA 177/01i wurde ausgeführt, dass diese Bestimmung deutlich mache, dass das Recht, die Anfechtungsklage zu erheben, im Fall eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigung primär dem Betriebsrat, und diesem nur dann zusteht, wenn der Arbeitnehmer von ihm die Anfechtung verlangt habe. Da aber im Fall eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigungsabsicht der Arbeitnehmer selbst nur zur Klage berechtigt sei, wenn der Betriebsrat dem Verlangen auf Anfechtung der Kündigung nicht nachkomme, setze auch das Anfechtungsrecht des Arbeitnehmers voraus, dass der Arbeitnehmer den primär anfechtungsberechtigten Betriebsrat zunächst aufgefordert habe, die Anfechtung vorzunehmen.

An das ‚Verlangen‘ des Arbeitnehmers iSd § 105 Abs 4 ArbVG an den Betriebsrat, die Kündigung anzufechten, sind nach der Rechtsprechung keine besonderen formellen Ansprüche zu stellen. Wesentlich ist, dass aus den Erklärungen des Arbeitnehmers insgesamt hervorgeht, dass er möchte, dass seine Kündigung durch Ausübung des Anfechtungsrechts nach § 105 ArbVG wieder aufgehoben wird (9 ObA 216/00y). Dieser ‚Wunsch‘ kann sich insbesondere in (auch vor ausgesprochener Kündigung erfolgten) Erklärungen und Verhaltensweisen, wie etwa Gesprächen mit dem Betriebsrat und Befassung eines Vertreters der Arbeiterkammer, manifestieren.

Schutzzweck der Regelung, die ein Verlangen des Arbeitnehmers für das Anfechtungsrecht des Betriebsrats voraussetzt, ist nach herrschender Ansicht auch, dass dem Arbeitnehmer nicht gegen seinen Willen ein Kündigungsschutzverfahren aufgezwungen werden soll. […]

In der zitierten Entscheidung 8 ObA 177/01i hat der Oberste Gerichtshof aber auch klargestellt, dass im Fall eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigungsabsicht mangels eines Anfechtungsverlangens des Arbeitnehmers der Betriebsrat zur Erhebung der Anfechtungsklage gar nicht berechtigt ist und daher das Klagerecht auch durch Zeitablauf nicht auf den Arbeitnehmer übergehen kann. Andernfalls hätte es der Arbeitnehmer in der Hand, das primäre Anfechtungsrecht des Betriebsrats durch Unterlassung eines Verlangens auf Anfechtung zu umgehen und in jeden Fall selbst die Klage einzubringen. Dies sei mit dem klaren Konzept des Gesetzgebers nicht vereinbar. Fehle es an einem wie immer gearteten Verhalten des Arbeitnehmers, das als ein Anfechtungsverlangen interpretiert werden könne, habe der Betriebsrat überhaupt erst nach der Einbringung der Klage von dieser erfahren, sei das Klagerecht des Arbeitnehmers zu verneinen.

In einer Glosse zu dieser Entscheidung hat Firlei (ZAS 2002/15) unter Hinweis auf die Funktion des Anfechtungsverlangens, dem Arbeitnehmer nicht gegen seinen Willen ein Kündigungsschutzverfahren aufzuzwingen, vertreten, dass eine Anfechtung auch dann zugelassen werden sollte, wenn eine in plausibler Weise zu vermutende ‚stille‘ Zustimmung des Dienstnehmers zur Anfechtung schlicht aus den vorliegenden Umständen zu erschließen sei. Diese könne sich aus dem hypothetischen Willen des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der gesamten vorliegenden Umstände ergeben, also nicht nur aus Erklärungen und (schlüssigen) Verhaltensweisen. Auch eine bloß aus den Umständen zu vermutende Einwilligung des Arbeitnehmers in die Bekämpfung der Kündigung löse das formelle Anfechtungsrecht des Betriebsrats, subsidiär das des Arbeitnehmers, aus. […]

Der allgemeine Kündigungsschutz ist im Rahmen der Betriebsverfassung, eingebunden in die Mitwirkungsbefugnisse der Arbeitnehmerschaft, geregelt. 149

Es handelt sich also um einen kollektivrechtlich geprägten Kündigungsschutz mit dem vorrangigen Ziel der Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmerschaft, wobei jedoch diese Regelung auch stark individualrechtliche Komponenten enthält. Nach der Konzeption des Gesetzes kommt das Anfechtungsrecht im Falle eines Widerspruchs des Betriebsrats zur Kündigung primär und ausschließlich dem Betriebsrat zu. Zusätzlich setzt das Recht auf Kündigungsanfechtung durch den Betriebsrat ein ‚Verlangen‘ des Arbeitnehmers voraus, da das Kündigungsschutzverfahren nicht gegen den Willen des Arbeitnehmers eingeleitet werden soll. Dies setzt aber voraus, dass dem Betriebsrat in irgendeiner Form während der ihm für die Anfechtung zur Verfügung stehenden Frist bekannt wird, dass der Arbeitnehmer eine Anfechtung wünscht oder zumindest mit einer solchen einverstanden ist. […]

Die vom Berufungsgericht angenommene Möglichkeit, im Nachhinein hypothetisch nachzuvollziehen, ob der Arbeitnehmer mit einer Anfechtung einverstanden gewesen wäre bzw ob der Betriebsrat im Fall eines ihm bekannt gewordenen Einverständnisses selbst eine Kündigungsanfechtung vorgenommen hätte, entspricht damit nicht dem Gesetz.

Für den konkreten Fall bedeutet das, da der Kläger weder vor der Kündigung noch nach Ausspruch der Kündigung innerhalb der dem Betriebsrat zur Klagseinbringung zur Verfügung stehenden Frist Kontakt mit einem Mitglied des Betriebsrats hatte und daher kein dem Betriebsrat bekannt gewordenes Verhalten setzte, aus dem auf ein ‚Verlangen‘ der Anfechtung geschlossen werden hätte können, dass weder der Betriebsrat noch in der Folge der Kläger ein Recht auf Anfechtung der Kündigung hatte. […]“

ERLÄUTERUNG

Mit dieser E bleibt der OGH seiner strengen, der historischen Entwicklung des Kündigungsschutzes Rechnung tragenden Linie treu, das Kündigungsanfechtungsrecht des § 105 ArbVG primär als Instrument zur Wahrung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmerschaft zu begreifen. Zugunsten dieses kollektivrechtlichen Verständnisses des Kündigungsschutzes muss die individuelle Rechtsverfolgung einzelner AN in Kauf nehmen, die formellen Vorgaben des Gesetzes genau zu befolgen.

Diese formellen Vorgaben sind vom Gesetzgeber nicht als „Fallgruben“ für den einzelnen AN gedacht, sondern wollen dessen eigenem Willen insofern Vorrang einräumen, als das Anfechtungsrecht des BR vom Verlangen des AN abhängt und daher nur dann ausgeübt werden kann, wenn der einzelne AN dies auch verlangt. Das Unterbleiben des Verlangens als unverzichtbarer Mosaikstein in der Berechtigungskette führt freilich dazu, dass die Klagsberechtigung nicht auf den AN übergehen kann, da sie nie beim BR angekommen ist, auf den AN aber nur von diesem übergehen kann. Die Anfechtungsbefugnis des AN im Falle des Widerspruchs des BR besteht nicht originär, sondern nur derivativ.

Der einzelne AN, dem diese Vorgaben wie im gegenständlichen Fall mangels Rechtskenntnis nicht immer so bewusst sein werden, ist daher gut beraten, im Kündigungsfall unverzüglich Rechtsberatung einzuholen und mit dem BR auf „Tuchfühlung“ zu gehen, um im Falle dessen Widerspruchs das Anfechtungsverlangen unmissverständlich zu deponieren. Im Nachhinein unternommenen Rechtfertigungsversuchen, dass einem Verlangen ohnehin nicht entsprochen worden wäre, da der BR aus bestimmten Gründen gar nicht selbst anfechten hätte wollen, hat der OGH im gegenständlichen Fall damit eine Abfuhr erteilt, als er einen unmissverständlichen Rechtssatz bildet: Das Recht auf Kündigungsanfechtung geht auch dann nicht auf den AN über, wenn sich herausstellt, dass der BR einem (tatsächlich nicht gestellten) Verlangen auf Anfechtung der Kündigung jedenfalls nicht entsprochen hätte.