34Beurteilung des Pflegebedarfs und Pflegegeldeinstufung
Beurteilung des Pflegebedarfs und Pflegegeldeinstufung
Das Gericht hat eine diagnosebezogene Einstufung selbst dann vorzunehmen, wenn diese nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war.
Es liegt keine wesentliche Veränderung iSd § 9 Abs 4 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) vor, wenn sich der funktionsbezogene Pflegebedarf verbessert hat, die diagnosebezogene Mindesteinstufung jedoch gleichgeblieben ist.
Der Kl bezog aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom 1.10.2013 seit 1.7.2013 Pflegegeld der Stufe 2. Ab 1.10.2016 setzte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) das Pflegegeld auf Stufe 1 herab. In einem (weiteren) gerichtlichen Vergleich (Vorverfahren 11 Cgs 193/16p des Erstgerichts) vom 28.3.2017 verpflichtete sich die Bekl, dem Kl Pflegegeld der Stufe 1 vom 1.10.2016 bis zum 31.12.2016 und Pflegegeld der Stufe 2 ab dem 1.1.2017 zu gewähren. Dem lag ein funktionsbezogener Pflegebedarf des Kl von 99 Stunden monatlich ab dem 1.1.2017 zugrunde.
Mit dem in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid vom 22.3.2018 setzte die Bekl das Pflegegeld ab dem 1.5.2018 (neuerlich) auf Stufe 1 herab.
Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kl die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 über den 30.4.2018 hinaus.
Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kl die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 über den 30.4.2018 hinaus.
Die Bekl wandte dagegen ein, dass sich der Pflegebedarf des Kl von 99 auf 84 Stunden verringert hätte, sodass nach Ablauf des Monats April 2018 nur mehr Pflegegeld der Stufe 1 gebühre. [...]
Strittig ist im vorliegenden Verfahren daher nur mehr der Zeitraum 1.5.2018 bis 31.7.2018, für den der Kl die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 begehrt. Nicht strittig ist, dass der funktionsbezogene Pflegebedarf des Kl zum Entziehungszeitpunkt nur mehr 84 Stunden monatlich betrug.
Das Erstgericht sprach – in Wiederherstellung des angefochtenen Bescheids – aus, dass dem Kl ab 1.5.2018 Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 157,30 € gebühre; das Mehrbegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 2 wies es ab. Im Umfang der Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 1 erwuchs die Entscheidung des Erstgerichts unangefochten in Rechtskraft.
Da sich der funktionsbezogene Pflegebedarf des Kl von 99 Stunden monatlich im Gewährungszeitpunkt auf nur mehr 84 Stunden monatlich im Zeitpunkt der Entziehung verringert habe, gebühre dem Kl nur mehr Pflegegeld der Stufe 1. [...]
Beim Kl besteht ein Zustand nach Oberschenkelamputation links (02/2012) mit Nachresektion (04/2017) sowie ein Ausfall des rechten Beins. [...] Aus pflegerischer Sicht kommt dies einer vergleichbaren Ausfallserscheinung wie bei einer beidseitigen Vollamputation gleich. [...] „Ob der diagnosebezogene Pflegebedarf über 6 Monate andauert, kann zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht verifiziert werden.“ [...]
Da beim Kl funktionsbezogen ein Pflegebedarf in Höhe der Stufe 1 von mehr als sechs Monaten bestehe, schade der Umstand, dass Vergleichbares für den diagnosebezogenen Pflegebedarf nicht feststehe, nach der Rsp nicht. Auch schade der Umstand nicht, dass der Kl keine Diagnose iSd § 4a Abs 1 BPGG aufweise. Denn beim Kl komme es zu medizinischen Ausfallerscheinungen, die einer beidseitigen Vollamputation vergleichbar seien, sodass § 4a Abs 1 BPGG analog anwendbar sei. Für eine Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 fehle es an der sukzessiven Kompetenz, da Gegenstand des Verfahrens vor der Bekl nur die Herabsetzung von Pflegegeld der Stufe 2 auf Stufe 1 gewesen sei. Aber auch eine Zuerkennung der Stufe 2 komme nicht in Frage, denn die diagnosebezogene Einstufung sei ebenfalls nicht Gegenstand des vorangegangenen Verfahrens bei der Bekl gewesen. Übersehe der Versicherungsträger im Herabsetzungsverfahren bezüglich der Pflegegeldstufen 1 und 2 einen diagnosebezogenen Mindestpflegebedarf, liege ein mangelhaftes Verwaltungsverfahren vor. Dieser Fehler sei gem § 27 Abs 5 BPGG zu korrigieren.
Das Berufungsgericht gab der vom Kl [...] erhobenen Berufung nicht Folge. [...] Mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 geforderten Qualität sei die Revision nicht zulässig.
Gegen diese E richtet sich die außerordentliche Revisiondes Kl, mit der er – inhaltlich – die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 über den 30.4.2018 hinaus anstrebt. [...]
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
[...]
2.1 Der Versicherte darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG eine Klage nur erheben, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. „Darüber“ bedeutet, dass der Bescheid über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch ergangen sein muss. Der mögliche Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist durch den Antrag, den Bescheid und das Klagebegehren dreifach eingegrenzt (10 ObS 117/17d SSV-NF 31/51 ua; RS0105139 [T1]). Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss demnach mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein (10 ObS 125/18g uva).
2.2 Die „Anspruchsvoraussetzungen“ für das Pflegegeld normiert – unter dieser Überschrift – § 4 BPGG. Insb regelt § 4 Abs 2 BPGG die Höhe des Anspruchs auf Pflegegeld abhängig vom monatlichen Pflegebedarf und weiteren Voraussetzungen. § 4 Abs 2 BPGG wird (neben den hier nicht relevanten §§ 43, 44 BPGG, und anders als § 4a BPGG) ausdrücklich in § 65 Abs 1 Z 1 ASGG zitiert.
2.3 Gegenstand des Verfahrens vor der Bekl und deren Entscheidung war die Herabsetzung 367 des ursprünglich in Höhe der Stufe 2 gewährten Anspruchs auf Pflegegeld auf die Stufe 1 ab 1.5.2018. Für die auf Weitergewährung des Pflegegelds in Höhe der Stufe 2 über den Ablauf des 30.4.2018 hinaus gerichtete Klage ist daher die Zulässigkeit des Rechtswegs eröffnet.
2.4 Daran ändert der Umstand, dass die diagnosebezogene Einstufung gem § 4a BPGG im Verfahren vor der Bekl nicht beurteilt worden sein mag, nichts. § 4a BPGG regelt – anders als § 4 BPGG – nicht Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld, sondern sieht – entsprechend den in dieser Bestimmung genannten Diagnosen und Mindestaltersgrenzen – lediglich bestimmte Mindesteinstufungen entsprechend den in § 4 BPGG geregelten Pflegegeldstufen vor. Dies ergibt sich historisch daraus, dass im Zuge der BPGG-Novelle 1998, BGBl I 1998/111, die zuvor in § 8 EinstV enthaltenen Mindesteinstufungen in § 4a BPGG neu geregelt wurden (RS0113912; RS0111678).
2.5 Bei der funktionsbezogenen Einstufung und der diagnosebezogenen Mindesteinstufung handelt es sich daher lediglich um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten, nach denen der allein den Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens bildende Anspruch auf Pflegegeld entsprechend den Voraussetzungen des § 4 BPGG zu beurteilen ist. § 4a BPGG schafft keine (neue) Anspruchsgrundlage neben § 4 BPGG, sondern verweist zur nach dieser Bestimmung vorzunehmenden Mindesteinstufung auf die Anspruchsvoraussetzungen gem § 4 Abs 2 BPGG, nämlich die dort geregelten Pflegegeldstufen. Die Möglichkeit einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung schließt nach § 4a Abs 7 BPGG auch nicht aus, dass ein höheres Pflegegeld zu leisten ist, wenn nach der funktionsbezogenen Einstufung die Voraussetzungen für eine höhere Einstufung vorliegen (10 ObS 7/06m, SSV-NF 20/5 mwH, insb auch auf ErläutRV 1186 BlgNR 20. GP 12 f).
2.6 Zwischenergebnis: Ist der Rechtsweg für ein Klagebegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld unter Beachtung des Antrags, des Bescheids des Versicherungsträgers und des Klagebegehrens zulässig, so hat innerhalb der dadurch gezogenen Grenzen der Rechtswegzulässigkeit die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen im gerichtlichen Verfahren auch dann unter allfälliger Berücksichtigung einer diagnosebezogenen Einstufung zu erfolgen, wenn eine solche nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war.
3.1 Es ist im vorliegenden Fall zwischen den Parteien nicht strittig, dass die beim Kl vorliegende Diagnose ihrem Inhalt und ihren Auswirkungen nach mit einer beidseitigen Beinamputation iSd § 4a Abs 1 BPGG gleichzusetzen ist, sodass diese Bestimmung analog anzuwenden ist (10 ObS 110/00z SSV-NF 14/55 ua; RS0111678 [T2, T4]). Ebenso wenig strittig ist allerdings der bereits vom Erstgericht herausgearbeitete Umstand, dass die sich aus der analogen Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG ergebende Mindesteinstufung in Höhe der Stufe 3 im vorliegenden Fall nicht möglich ist, weil die Bekl nur über eine Herabsetzung des Pflegegelds von der Stufe 2 auf die Stufe 1 ab dem 1.5.2018 entschieden hat, sodass für die Zuerkennung eines höheren Pflegegelds als jenem der Stufe 2 der Rechtsweg nach den vorher dargestellten Grundsätzen nicht zulässig ist. Der Kl hat konsequenterweise auch gar kein Begehren auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 gestellt.
3.2 Eine Addition der bei der funktionellen Betrachtung ermittelten Stundenwerte mit den der Mindesteinstufung zugrundeliegenden Zeitwerten ist nach der Rsp nicht zulässig (10 ObS 7/06mSSV-NF 20/5). Eine Prüfung der Einstufung erfolgt vielmehr sowohl funktionsbezogen als auch diagnosebezogen (also „nebeneinander“, vgl 10 ObS 184/99b; 10 ObS 292/97gSSV-NF 11/103 ua). Funktionsbezogen wäre der Kl ab 1.5.2018 in der Stufe 1 einzustufen, weil ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 95 Stunden monatlich, wie er von § 4 Abs 2 Stufe 2 BPGG verlangt wird, nicht besteht. Dessen ungeachtet ist der Kl diagnosebezogen infolge analoger Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG nach Stufe 3 einzustufen. Schon nach dem Wortlaut von § 4a Abs 1 BPGG ist daher eine Herabsetzung des Pflegegelds nicht gerechtfertigt: Denn bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 4a Abs 1 BPGG (hier in analoger Anwendung) ist „mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen“, daher ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden pro Monat (§ 4 Abs 2 Stufe 3 BPGG). Es fehlt daher an einer wesentlichen Änderung des Pflegebedarfs iS dessen Herabsinkens unter die bisher gewährte Stufe.
3.3 Dieses Ergebnis ist auch zur Vermeidung von sonst unüberbrückbaren Wertungswidersprüchen erforderlich: Hätte etwa ein Pflegebedürftiger vor einer Herabsetzung Pflegegeld der Stufe 3 oder einer höheren Stufe gem § 4 Abs 2 BPGG bezogen und wäre er funktionsbezogen nach einer Besserung seines Zustands nur mehr in Stufe 1 (oder 2) einzustufen, so könnte er in einer vergleichbaren Situation wie jener des Kl weiterhin in analoger Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG zumindest Pflegegeld der Stufe 3 beziehen, weil diesfalls der Rechtsweg zulässig wäre. Es würde eine sachlich nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung darstellen, dass ein Pflegebedürftiger in der Situation des Kl eine Herabsetzung von Stufe 2 auf Stufe 1 hinnehmen müsste, weil in diesem Bereich nur mehr die funktionsbezogene Einstufung greift, während Pflegegeldbezieher höherer Stufen als der Stufe 2 bei einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung vor einer solchen Herabsetzung des Pflegegelds „geschützt“ wären.
3.4 Dem steht auch nicht der Umstand entgegen, dass dem Kl vor der Herabsetzung nur Pflegegeld der Stufe 2 gewährt wurde, während die Mindesteinstufung analog zu § 4a Abs 1 BPGG nach der – hier gar nicht im Verfahren zu behandelnden – Stufe 3 zu erfolgen hätte. Der OGH hat erst jüngst zu den Übergangsbestimmungen der §§ 48b und 48f BPGG entschieden, dass ein vor einer gesetzlichen Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen erworbener Pflegegeldanspruch auch als geschützter Teil eines allenfalls höheren Anspruchs erhalten bleibt. Denn die §§ 48b und 48f BPGG zielen nur auf eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs 368 ab. Ihr Anwendungsbereich ist jedoch nicht am Bezug einzelner Pflegegeldstufen festzumachen, sodass sich ihre Schutzwirkung nicht nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 bezieht (10 ObS 85/18z mwH). Diese Wertungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. Der Revisionswerber führt daher im Ergebnis im konkreten Fall zutreffend aus, dass die vor der Herabsetzung zuerkannte Stufe 2 gewissermaßen in der Stufe 3 „enthalten“ sei. Dies findet – wie bereits ausgeführt – Deckung auch im Wortlaut des § 4a Abs 1 BPGG („ist ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen“), der auf § 4 Abs 2 BPGG verweist.
3.5 Letztlich ergibt sich das hier erzielte Ergebnis vor allem aus dem in § 1 BPGG normierten Zweck des Pflegegelds, in Form eines Beitrags, pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten (RS0106555) und pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern (RS0106398). § 1 BPGG ist nicht nur als programmatische Erklärung zu verstehen, sondern bildet gegebenenfalls auch eine – vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgegebene – Leitlinie für die Anwendung des BPGG. Daraus folgt insb, dass im Zweifelsfall, dh bei sonstiger „Gleichwertigkeit“, grundsätzlich jener Interpretation der Vorzug gegeben werden muss, die dem Zweck des Pflegegelds am ehesten gerecht wird (RS0106237). Das Pflegegeld muss diesem Zweck unabhängig davon dienen, ob sich der Pflegebedarf im Einzelfall aus einer funktionsbezogenen oder einer diagnosebezogenen Einstufung ergibt (zur diagnosebezogenen Einstufung vgl RS0106389).
3.6 Ergebnis: In einem Verfahren über die Neubemessung von Pflegegeld durch Herabsetzung ist auch dann, wenn sich der funktionsbezogen ermittelte Pflegebedarf in rechtlich relevantem Ausmaß iSd § 9 Abs 4 BPGG verbessert hat, eine unabhängig davon vorliegende diagnosebezogene Mindesteinstufung iSd § 4a BPGG für die Beurteilung der Frage, ob eine wesentliche Veränderung iSd § 9 Abs 4 BPGG eintritt, zu beachten.
4. Ausgehend davon war der Revision Folge zu geben. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iSd § 9 Abs 4 BPGG liegt ab 1.5.2018 nicht vor, weil beim Kl analog § 4a Abs 1 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mindestens 120 Stunden pro Monat entsprechend der Stufe 3 anzunehmen ist. Es fehlt daher an der wesentlichen Voraussetzung der (relevanten) Verringerung des Pflegebedarfs für eine Herabsetzung des dem Kl bis dahin gewährten Pflegegelds der Stufe 2 (RS0123144). Dem Klagebegehren war daher stattzugeben und dem Kl auch für den – im Revisionsverfahren allein noch relevanten – Zeitraum von 1.5.2018 bis 31.7.2018 weiter Pflegegeld der Stufe 2 unter Einrechnung der bereits aus dem Titel des Pflegegelds geleisteten Beträge infolge des rechtskräftigen Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 1 zuzuerkennen. [...]
Gegenstand der vorliegenden E ist die Einstufung einer pflegebedürftigen Person innerhalb der gesetzlichen Pflegegeldstufen. Grob umrissen ging es um die Herabsetzung des Pflegegeldes von der Stufe 2 auf Stufe 1, weil sich der funktionsbezogene Pflegebedarf von 99 Stunden auf 84 Stunden verringerte. Nach einer diagnosebezogenen Einstufung wäre die pflegebedürftige Person gem § 4a BPGG analog in die Pflegegeldstufe 3 einzuordnen. Der diagnosebezogene Pflegebedarf war jedoch nicht Gegenstand des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens, sodass dafür der Rechtsweg für ein Klagebegehren unzulässig wäre.
Inhaltlich hatte sich der OGH im Wesentlichen mit zwei Fragen auseinanderzusetzen: (1.) Ist bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld die diagnosebezogene Einstufung zu berücksichtigen, wenn diese nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war? (2.) Liegt bei Verbesserung des funktionsbezogenen Pflegebedarfs, aber Gleichbleiben des diagnosebezogenen, eine wesentliche Änderung vor, die eine Herabsetzung des Pflegegeldes rechtfertigt?
Streitigkeiten in Sozialrechtssachen werden entweder durch die ordentlichen Gerichte oder durch die Verwaltungsbehörden entschieden. Bescheide in Leistungssachen werden jedoch nicht innerhalb des Instanzenzugs der Verwaltungsgerichtsbarkeit bekämpft, sondern gem § 354 ASVG iVm § 65 ASGG im Zuge der sukzessiven Kompetenz vor den ordentlichen Gerichten. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Klage gegen die Herabstufung des Pflegegeldes von Stufe 2 auf Stufe 1 um eine Pflegegeldklage. Da der Klageumfang durch den Gegenstand des im vorgegangenen Verwaltungsverfahren ergangenen Bescheids begrenzt ist (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld [2017] 332; stRsp, vgl RS0105139), ist dem OGH zuzustimmen, dass einer Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes als jenem der Stufe 2 der Rechtsweg verwehrt ist. Das Gericht erster Instanz sprach sich jedoch auch gegen das Gewähren des Pflegegeldes der Stufe 2 aus und bestätigte damit den angefochtenen Bescheid, weil sich der funktionsbezogene Pflegebedarf verbessert habe und die diagnosebezogene Einstufung nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens gewesen sei.
Das Gericht erster Instanz war demnach der Ansicht, dass es an die Nichtberücksichtigung der diagnosebezogenen Einstufung durch den Versicherungsträger bei der Entscheidung über die Herabsetzung gebunden ist. Für die Beurteilung des Pflegebedarfs stehen zwei Arten zur Auswahl: Einerseits die funktionsbezogene Einstufung gem § 4 BPGG, welche als Grundkonzept des BPGG auf die individuell erforderlichen Betreuungs- und Hilfemaßnahmen abstellt (vgl Gruber/Pallinger, BPGG-Kommentar § 4 Rz 59). Hier geht es vor allem um das zeitliche Ausmaß des Pflegebedarfs, für welches sich an den Pauschalwerten, die in der Einstufungsverordnung für die einzelnen typischen Pflegeleistungen festgelegt sind, zu orientieren ist. 369 Andererseits die diagnosebezogene Beurteilung gem § 4a BPGG, die unter bestimmten Voraussetzungen Mindesteinstufungen normiert. Erfasst werden Personen mit Behinderung, die eine bestimmte Diagnose erhalten haben. Einer diagnosebezogenen Einstufung hat eine funktionsbezogene zu folgen, weil aufgrund dieser uU eine höhere Einstufung vorzunehmen ist (§ 4a Abs 7 BPGG).
Das Gericht hat betreffend die Frage des Pflegebedarfs eine vollkommen neue Entscheidung in der Sache selbst zu fällen, weil mit Klageerhebung der Bescheid im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft tritt (vgl Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich [1994] 280; Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 389; stRsp RS0085721). Daher obliegt dem Gericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung die Feststellung des Pflegebedarfs (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 365). Dem OGH ist daher vollinhaltlich zuzustimmen, wonach das Sozialgericht berechtigt ist, innerhalb der Zulässigkeit des Rechtswegs eine diagnosebezogene Einstufung durchzuführen, obwohl der Versicherungsträger diese unterlassen hat.
Ob es für eine Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 3 an der sukzessiven Kompetenz mangelt, ist in diesem Fall unerheblich, weil es kein entsprechendes Klagebegehren gab und auch in Sozialrechtssachen das Gericht gem § 405 ZPO an das Klagebegehren gebunden ist.
Durch die PVA wurde das Pflegegeld des Kl herabgesetzt. Voraussetzung für eine Neubemessung (Erhöhung oder Herabsetzung) des Pflegegeldes ist gem § 9 Abs 4 BPGG der Eintritt einer für die Höhe des Pflegegeldes wesentlichen Änderung. Die Änderung muss tatsächlicher Natur sein, eine abweichende rechtliche Beurteilung alleine genügt für eine Neubemessung nicht (vgl zuletzt OGH 19.12.2006, 10 ObS 173/06y).
Die Änderungen können den Pflegebedarf oder die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen betreffen. In der vorliegenden E ging es um erstere. Der Pflegebedarf kann sich grundsätzlich durch die Veränderung des Gesundheitszustandes, der Wohnverhältnisse bzw Wohnausstattung oder durch die Gewöhnung an Leidenszustände modifizieren (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 96 ff).
Bezüglich einer Änderung des Pflegebedarfs iSv § 9 Abs 4 BPGG ist – ausgehend von den nunmehrigen tatsächlichen Umständen – zu beurteilen, ob sich die objektiven Voraussetzungen, die die vorherige Einstufung begründeten, so wesentlich gewandelt haben, dass nunmehr der Anspruch für eine andere Pflegegeldstufe erfüllt ist (vgl Pfeil, BPGG § 4 Erl 3.2.1; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 96; stRsp RS0123144). Es sind nicht nur das Zustandsbild des Pflegebedürftigen, sondern auch Änderungen im Pflegebedarf zueinander in Beziehung zu setzen, um die Wesentlichkeit der Änderung zu bewerten (stRsp RS0123144).
Die Beurteilung des Pflegebedarfs und damit verbunden die Einstufung in die entsprechende Pflegegeldstufe erfolgt anhand einer funktionsbezogenen und/oder diagnosebezogenen Einstufung.
In der vorliegenden E hat sich der funktionsbezogene Pflegebedarf wesentlich verändert, weil nach dieser Betrachtung der Anspruch für eine andere Pflegegeldstufe (Stufe 1 statt 2) begründet wurde. Aus funktionsbezogener Sicht wäre die Herabsetzung des Pflegegeldes daher gerechtfertigt. Jedoch blieb der diagnosebezogene Bedarf unverändert, sodass sich die Frage stellt, ob eine Verbesserung der funktionsbezogenen Beurteilung trotz des Gleichbleibens der diagnosebezogenen das Wesentlichkeitskriterium der Änderung gem § 9 Abs 4 BPGG erfüllt.
Der OGH hat diese nunmehr beantwortet: Besteht die diagnosebezogene Einstufung gem § 4a BPGG analog in die Pflegegeldstufe 3, führt die Verbesserung der funktionalen Einstufung nicht zu einer wesentlichen Änderung iSd § 9 Abs 4 BPGG, die eine Herabsetzung rechtfertigt. Dem Ergebnis ist vollinhaltlich zuzustimmen.
Der OGH argumentierte einerseits, dass – aufgrund der analogen Anwendung der Mindesteinstufung – ein Pflegebedarf von mindestens 120 Stunden pro Monat und nicht nur von 84 Stunden pro Monat anzunehmen ist. Andererseits begründet er seine Entscheidung mit dem Zweck des Pflegegeldes, wonach pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten sind.
Es spricht jedoch noch ein weiteres Argument für das Ergebnis des OGH:
Das Wesentlichkeitskriterium ist vor allem dann erfüllt, wenn die Änderung zur Begründung des Anspruchs in eine andere Pflegegeldstufe führt (vgl Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 301). Diese ist meist vom (zeitlichen) Pflegebedarf abhängig. Der Pflegebedarf wird sowohl funktions- als auch diagnosebezogen bewertet (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 115).
Wird aufgrund einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung ein bestimmter Pflegebedarf festgestellt, so ist zusätzlich eine funktionsbezogene Einstufung durchzuführen. So weisen sowohl die Materialien (ErläutRV 1186 BlgNR 20. GP 14) zum BPGG als auch das Gesetz selbst (§ 4a Abs 7 BPGG) darauf hin, dass eine diagnosebezogene Mindesteinstufung eine Erhöhung des Pflegegeldes aufgrund einer zusätzlich funktional festgestellten Behinderung nicht ausschließt. Der Umkehrschluss, dass eine Herabsetzung zulässig wäre, wenn die funktionale Einstufung einen geringeren Pflegebedarf als die diagnosebezogene ergibt, ist unzulässig. Bei den diagnosebezogenen Beurteilungen handelt es sich um Mindesteinstufungen, die nicht unterschritten werden dürfen. Das muss konsequenterweise auch für deren analoge Anwendung gelten. Wäre das Unterschreiten der Mindesteinstufungen durch die funktionsbezogene Einstufung erlaubt, würde es sich nicht um eine Mindesteinstufung handeln.
Von einer „wesentlichen Änderung“ iSd § 9 Abs 4 BPGG ist nur dann auszugehen, wenn sich der Pflegebedarf sowohl funktionsbezogen als auch diagnosebezogen verändert. Davon ausgenommen 370 ist der Fall, dass sich der Pflegebedarf nur diagnosebezogen erhöht, dadurch eine andere Mindesteinstufung und damit verbunden eine höhere Pflegegeldstufe erreicht würde. Dann liegt jedenfalls eine wesentliche Änderung, die eine Neubemessung rechtfertigt, vor.
Insofern ist jene Art der Pflegebedarfseinstufung zu wählen, deren Ergebnis die höhere Pflegegeldeinstufung zur Folge hat. Konsequenterweise ist der Pflegebedarf neben der funktionsbezogenen Prüfung immer dann zusätzlich diagnosebezogen zu beurteilen, wenn tatsächliche Umstände gegeben sind, die eine diagnosebezogene Einstufung rechtfertigen.