Eine kleine Geschichte der großen Seuchen*

 ANITAZIEGERHOFER (GRAZ)

Die Menschheit wurde immer von Seuchen heimgesucht, die teilweise in Pandemien ausuferten. Warum diese ausgebrochen sind, welche Abwehrmaßnahmen getroffen wurden und welche Folgen Seuchen und Pandemie nach sich zogen, wird in diesem Beitrag kurz dargestellt.

Ende April 2020 ließen österreichische ForscherInnen mit einer Nachricht aufhorchen. Man habe mit einer neuen Methode in österreichischen Kläranlagen erstmals Bruchstücke des Coronavirus Sars-CoV-2 nachweisen können. Dadurch erhoffen sie sich, einen besseren Überblick über die Ausbreitung und den Verlauf der Pandemie zu erhalten; darüber hinaus wollen die ForscherInnen auf diesem Weg ein Monitoring schaffen, um so ein regionales Wiederaufflammen der Epidemie frühzeitig zu erkennen. Diese Nachricht weckt „Erinnerungen“, die uns ins Jahr 1854 nach London führen. Damals stellte der Mediziner John Snow (1813-1858) die These auf, dass die Cholera durch verunreinigtes Wasser übertragen werde. Mit dieser These stand er konträr zu jener, die sich seit Hippokrates durchgesetzt hatte: Man ging davon aus, dass die Auslöser von Infektionskrankheiten Miasmen seien, also giftige Ausdünstungen des Bodens. Mit akribisch genauen Aufzeichnungen über die Orte der Wasserabnahme und der dort ansässigen Bevölkerung konnte Snow nicht nur seine These glaubhaft nachweisen, sondern das Säubern der Wasserhähne und -pumpen führte zum Abklingen der Cholera-Epidemie. Snow gilt heute als Urvater der Epidemiologie und das Auffinden von Corona-Viren in Kläranlagen führt uns somit direkt in die Geschichte der Seuchen und Pandemien.

Aufzeichnungen antiker Historiker und Chronisten wie Thukydides (454-399/96), Herodot (490/80- 430/20) oder Hippokrates von Kos (460-370), und später von Stadtchronisten, Geschichtsschreibern, Pfarrchronisten oder Autobiografen belegen bis in die Gegenwart, dass alle Zivilisationen unter ansteckenden Krankheiten und deren fatalen Folgen zu leiden hatten. Diese Krankheiten wurden von den antiken und frühmittelalterlichen Historikern unter dem Überbegriff „Pest“ zusammengefasst, sodass wir den Begriff schon im 2. Jahrhundert v. Chr. bei den Ägyptern und auch im Alten Testament finden. Da diese Überlieferungen nicht immer genau waren, ist es für MedizinhistorikerInnen heute schwer festzustellen, welche Krankheiten damals eine Epidemie auslösten. So konnte es sich 388 um Masern oder Typhus handeln, um das Dengue-Fieber oder Pocken, aber auch um die Beulenpest oder das Fleckfieber. Die im Mittelmeerraum am häufigsten endemisch (also örtlich begrenzt) auftretende Krankheit war die Malaria, deren Krankheitsbilder, hervorgerufen durch unterschiedliche Malariaparasiten, bereits Hippokrates beschrieb. Die Malaria dürfte am Zerfall Griechenlands, aber auch des Römischen Reiches Anteil gehabt haben. Die Pest brach in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts im Römischen Reich aus. Sie hielt 15 Jahre an und man gab ihr den Namen „Pest von Galen“, benannt nach dem bedeutendsten antiken Arzt, Galen von Pergamon (130 n. Chr.-210 n. Chr.). So soll auch Kaiser Marc Aurel (121-180) in Vindobona dieser schrecklichen Seuche erlegen sein. In der Mitte des 6. Jahrhunderts grassierte die „Pest des Justinian“, die alle Teile des untergegangenen „alten Römischen Reiches“ erfasste und nach Prokop von Cäsarea (500 – ca 565/70) fast die gesamte Menschheit dahingerafft hatte. Sie war aus Äthiopien 542 nach Konstantinopel eingeschleppt worden und durch Seeleute nach Illyrien, Tunesien, Spanien, Italien bis zum Rhein verbreitet worden. 544 verkündete Kaiser Justinian (482-565) das Ende der Seuche und ordnete mittels Dekret an, dass die Preise, wie sie vor Ausbruch der Epidemie gegolten hatten, wieder zur Anwendung kommen werden. Allerdings brach die Pest 557 wieder aus und zwar in Antiocha. Von dort gelangte sie wieder nach Konstantinopel, dann nach Ravenna, Istrien und Ligurien, erreichte 570 den römischen Hafen Ostia, kam dann ins Rhonetal und in die Auvergne. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts sollte sie alle zwölf Jahre für ein bis zwei Jahre als Epidemie wüten, hinterließ verheerende Spuren, um dann wieder abzuklingen. Aus heutiger Sicht kann man diese Pestepidemie als Pandemie der damals bekannten Welt bezeichnen. Fast alle diese Seuchenzüge nahmen ihren Ausgang im Orient und verbreiteten sich durch die Schifffahrt. Neben der Pest kam es auch zum Ausbruch weiterer Krankheiten wie etwa der Pocken – übrigens, der mumifizierte Kopf von Pharao Ramses V. (1145 v. Chr. gestorben) weist Narben auf, die Rückschlüsse auf eine Pockeninfektion zulassen!

Warum am Ende des 8. Jahrhunderts die Pest abebbte, ist nicht erklärbar. Jedenfalls schien sie im 14. Jahrhundert aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen verschwunden zu sein, denn ihr neuerlicher Ausbruch überraschte sie vollkommen unvorbereitet. Damals nahm die Krankheit um das Jahr 1340 von Zentralasien ihren Ausgang, gelangte über die Karawanenstraße nördlich des Kaspischen Meeres 1346 nach Astrachan, dann von dort die Wolga stromaufwärts, den Don hinab bis sie 1347 die Hafenstadt Caffa auf der Krim und am Ende des Jahres auch Konstantinopel erreichte. Die Matrosen, die auf den Schiffen schwerkrank überlebten, gingen an Land und infizierten so die Bewohner der Hafenstädte. Bald erreichte der „Schwarze Tod“ – über Genua kommend – am 1.11.1348 Marseilles. Von dort gelangte er in die Provence, wo 50 bis 70 % der Bevölkerung dahingerafft wurden. Am 1.1.1349 erreichte die Pest Pisa und gelangte über Ragusa nach Venedig, wo der „Schwarze Tod“ am 25.1.1349 zu wüten begann. Von hier aus wurde Gesamtkontinentaleuropa verseucht. In weiterer Folge verhängte Venedig für „Pest“schiffe eine Quarantäne von 40 Tagen, um so die Verbreitung zu stoppen. Der demografische Verlust lässt sich für diese Zeit schwer beziffern, aber die Folgen dieses Massensterbens sollten Jahrhunderte währen, bis der demografische Stand von 1347 wieder erreicht war. Man kann annehmen, dass innerhalb von drei oder vier Jahren Europa zwischen einem Drittel und die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hat. Auch in China wütete die Pest, auch hier war die Mortalität entsprechend hoch – in einigen Provinzen lag sie gar zwischen 60 und 70 %. Übrigens, Giovanni Boccaccio (1313-1375) schrieb zwischen 1348-1353 über diese Zeit in seiner Novellensammlung „Das Dekameron“. Es handelt von sieben jungen Frauen und drei jungen Männern, die vor der Pest in Florenz aufs Land geflüchtet waren. Dort versuchten sie, mit Spielen und anderen Unterhaltungen die Zeit zu vertreiben. Nach dem Ende der Pest kehrten alle nach Florenz zurück. Mit dem „Dekameron“ verfasste Boccaccio den ersten erotischen Roman und er weist bereits in die nachfolgende „Renaissance“.

Nicht nur Händler, Seeleute oder Soldaten verbreiteten die Seuche, sondern auch Pilger, die etwa auf dem Weg nach Santiago de Compostela oder Mekka waren. Die Pest erhielt von Beginn an die Bezeichnung „Schwarzer Tod“: Auf der Haut der Erkrankten bildeten sich schwarze Flecken, von denen wir heute wissen, dass es die Gangrän-Zonen um die Flohbisse waren. In der Leistenbeuge und unter den Achseln bildeten sich die Ganglien, Pestbeulen, innerhalb von Stunden konnte man nach Ausbruch der Krankheit sterben. Der „Schwarze Tod“ war begleitet von Naturkatastrophen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Überschwemmungen, Kometen, Heuschreckenplagen oder Hungersnöten. So etwa bewirkte ein Erdbeben im Friaul 1348 einen Bergsturz des Dobratsch, was zu einer Flutwelle und Aufstauung der Gail führte – Überschwemmungen waren die Folge. Die Menschen suchten nach Schuldigen – man dachte, dass ua vergiftete Brunnen die Pest ausgelöst hätten und machten die Juden dafür verantwortlich. Derartige „Pest“pogrome gegen die Juden in Frankreich, der Schweiz und im Deutschen Reich waren die Folge. In den alten Schriften findet man häufig gemeinsam mit der Nennung von Epidemien gewaltige Ratten- und Mäuseinvasionen. Dies verwundert nicht, wenn man sich die Hygienebedingungen der mittelalterlichen Menschen vor Augen führt! Auch ein weiterer Aspekt könnte für die Ausbreitung der Nagetiere und somit der Pest beigetragen haben: In der Mitte des 14. Jahrhunderts war die Katzenpopulation extrem zurückgegangen, da die Kirche die Meinung verbreitete, dass sich der Teufel den Menschen in Form von Katzen zeigen könne.

Man glaubte, dass ein Ausweichen auf einen anderen Ort gegen die Ausbreitung bzw die Ansteckung der Pest helfen würde wie auch die Sperrung von sämtlichen Jahrmärkten, Feierlichkeiten, aber auch Badehäusern. Die Menschen wussten schon im 14. Jahrhundert, dass die Quarantäne die einzige 389Chance war, die Epidemie einzudämmen – teilweise wurde die Isolierung sogar auf sechzig bis achtzig Tage verlängert. Wir alle kennen das Bild des Arztes mit der Schnabelmaske (heute Mund-Nasen-Schutz!) und dem Peststab. Die Ärzte verwendeten Tinkturen, vollzogen Aderlässe oder schnitten die Pestbeulen auf. Zusätzlich wurden Häuser und infizierte Gegenstände verbrannt, Parfumessenzen in geschlossenen Räumen eingesetzt, Kleider und Körper damit besprüht. Die Straßen spülte man mit reichlich Wasser oder man empfahl das Tabakrauchen ab dem 16. Jahrhundert, das in manchen Gegenden sogar zur Pflicht wurde. Durch diese Maßnahmen glaubte man, sich vor den Miasmen schützen zu können. Einige Quellen überliefern, dass man sich eine Ziege in den Wohnraum stellte, um durch den üblen Geruch die Pest zu vertreiben. Übrigens, eine Bedeutung des Wortes Pest lautet schlechte Luft/Gestank! Mehr konnte man damals nicht tun – außer Beten. Dies verwundert nicht, zumal der Alltag der vormodernen Gesellschaft sehr stark von der Kirche geprägt war. Man suchte nach Antworten und oftmals, heute nicht mehr nachvollziehbar, wurden Seuchen als Strafe Gottes betrachtet. Sühneriten wie etwa Psalmengesang oder Bittgottesdienste waren nicht nur in christlichen Ländern üblich, sondern auch in China. Eine weitere Möglichkeit, um die ungeheuerliche emotionale Belastung zu bewältigen, bot die Zuflucht zu Pestheiligen. Diese waren zB der Hl. Rochus, der Hl. Sebastian oder die Hl. Rosalia. Menschen pilgerten aber auch ins niederösterreichische St. Corona/Wechsel, um die Heilige um Schutz gegen (Vieh-)Seuchen zu bitten. Votivgaben und Votivbilder bezeugen vielerorts die Dankbarkeit für eine Heilung und ab dem 17. Jahrhundert errichtete man Pestsäulen, um an das Ende der Seuche zu erinnern.

Im Laufe der Zeit glaubte man nicht mehr nur an die Strafe Gottes oder an ein Teufelswerk, an Brunnenvergifter oder Hexer, sondern verließ sich zB auf die Astrologie. So etwa meinte man, dass Kometen oder Sternschnuppenregen eine Epidemie oder anderes Unheil ankündigen.

Dem großen Sterben Mitte des 14. Jahrhunderts folgten wirtschaftliche Not und Verödung zahlreicher Landstriche. Dennoch ließ sich die Menschheit nicht unterkriegen – das neue Lebensgefühl, sich auf das irdische Leben konzentrieren zu wollen und nicht so sehr im Denken an das Jenseits verhaftet zu sein, fand in der Renaissance, der „Wiedergeburt“, ihren Niederschlag, sie steht am Übergang von Mittelalter in die Neuzeit und ging von Italien aus.

Die Pest kehrte nach einer Verschnaufpause von knapp 300 Jahren als Pandemie wieder: Sie hinterließ grauenvolle Spuren 1629 in Mailand (Alessandro Manzoni widmete diesem schrecklichen Ereignis ein Kapitel in seinem Roman „Die Verlobten“, 1827 erschienen). 1654 wütete der „Schwarze Tod“ in Barcelona und 1665/66 in London. In seinem Buch „A Journal of the Plague Year“, 1722, beschreibt Daniel Defoe ua, dass die Spitäler die Infizierten nicht mehr aufnehmen konnten. Daher wurden diese in ihre Häuser weggesperrt und Gesundheitsinspektoren ernannt, die die „verseuchten“ Häuser in regelmäßigen Abständen inspizierten und Krankheitsverdachtsfälle melden mussten. Vor diesen Häusern standen Wachmänner, um jedermann am Betreten oder Verlassen des Hauses zu hindern. Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Defoes Buch war in Marseilles die Pest ausgebrochen: Erste Fälle wurden am 21.6.1720 gemeldet, am 1.8. zählte man bereits 100 Tote und Mitte September war der Place de la Tourette ein einziges Totenfeld. Erst als ein neuer Oberbefehlshaber Ordnung und Sauberkeit wiederherstellte, ging das Massensterben zurück – er ließ Sperrstunden einführen, Behelfslazarette in Zelten einrichten, Spelunken schließen und die Straßen räumen. Ende Oktober konnten die Pesthäuser schließen.

In der Neuzeit trat die Pest nur mehr ortsweise auf, so auch 1679 in Wien, wo der Legende nach der „liebe Augustin“ (1643-1685) lebendig einem Pest-Massengrab entstieg und bis zu seinem Tod die Wiener mit dieser Geschichte aufheiterte. Über seine Existenz berichtet der populäre Prediger Abraham a Santa Clara (1644-1709). Der Pater hielt übrigens 1685 im Zuge der Einweihung der Pestsäule auf dem heutigen Karmeliterplatz in Graz eine gewaltige Bußpredigt. Die Pest war damals von Kaiser Leopold I. in die Steiermark gebracht worden, als dieser mit seinem Gefolge aus Wien nach Mariazell floh, um so vor der Pest sicher zu sein. Der letzte große Pesteinbruch in Österreich erfolgte in den Jahren 1713/14, allein in Wien starben 9.000 Menschen. Anfang des 19. Jahrhunderts kam die Pest auch wieder aus dem Osten nach Europa, erreichte 1816 Bari, 1819 Mallorca und schlug 1828 in Odessa zu. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam sie entlang der Hotspots des internationalen Handels: 1894 Hongkong, 1896 Bombay, 1897 Suez, 1899 Südafrika, 1899 San Francisco, und 1920 Paris und Marseille. 27 Jahre später verfasste Albert Camus (1913-1960) sein Werk „Die Pest“, das zur gar nicht so fröhlichen Zeit „fröhliche Urständ“ feiert!

Als Maßnahme gegen die Pest erließ zB Kaiser Franz Josef 1901 und 1902 das Ein- und Durchfuhrverbot von gewissen Waren aus Konstantinopel und Odessa in die Länder der Monarchie. Dieses Verbot wurde per Verordnung des Ministeriums des Innern, Handels und der Finanzen 1903 wieder aufgehoben (RGBl 1903/12).

1817 kam eine weitere Krankheit auf Europa zu, die arabische und europäische Seefahrer verbreiteten: die Cholera, der Gallenfluss. Dabei handelte es sich um eine stark ansteckende Durchfall-Erkrankung, begleitet von heftigem Erbrechen und hohem Fieber – die Menschen starben einen langen und qualvollen, aber auch plötzlichen Tod durch Austrocknen. Die Cholera gelangte über Indochina nach China und erreichte 1821 Persien. 1826 brach sie erneut in China und Russland aus, um dann in Deutschland und Frankreich zu wüten. Paris war vorgewarnt, als dort am 25. März 1832 drei Cholera-Erkrankte gemeldet wurden. Man nahm diese Meldung nicht ernst, witzelte darüber und meinte, dass in einem so sauberen Land wie Frankreich eine derartige Seuche nicht ausbrechen 390 könne. Bald sollte sich dies als Irrglaube herausstellen, täglich stieg die Zahl der Neuzugänge in den Spitälern, jedoch negierte die Presse zunächst diese Meldungen. Schließlich veröffentlichte eine Zeitung nicht nur die Todesanzeigen, sondern auch eine Gesundheitsstatistik: Ab dem 2.4. starben täglich 100 Menschen. Die Behörden waren machtlos, man kam mit den Beerdigungen nicht mehr nach – Massengräber mussten ausgehoben werden. Victor Hugo hat diesen Zustand von Paris während der Cholera in „Les Miserables“ 1862 beschrieben. Im Wiener „Abendblatt der Presse“ vom 10.9.1855 befindet sich auf der ersten Seite die Mitteilung, dass in Verona die Cholera als erloschen betrachtet werden könne. Auf Seite zwei wird das Ausmaß der Krankheit plastisch vor Augen geführt. Unter der Auflistung der Toten befanden sich unzählige Cholera-Tote: Darunter eine Haushälterin, ein Schneidergeselle, ein Tischlergesellens-Sohn, eine Milchmeiers-Gattin, ein Drechslergesell, ein Weißgerber, eine bürgerliche Leinwäschhändlers-Gattin oder ein k. u. k. Regierungsrat. Der Tod machte vor niemandem Halt, traf Menschen in jeder Altersgruppe vom Kind bis zum Greis und aller sozialen Gruppen. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts baute Österreich einen Cordon sanitaire an den Grenzen zum Osmanischen Reich und dem Balkan als Absperrung gegen die Seuchen. Man reagierte 1856 etwa mit einer Anordnung, dass Witwen und Waisen von Ärzten, Wundärzten und Krankenwärtern, die in Ausübung ihres Amtes an Cholera verstorben waren, Anspruch auf Pensionen, Provisionen und Erziehungsbeiträgen hätten (RGBl 1856/113), oder mit dem Erlass einer Verordnung des Ministeriums des Innern und Handels. Darin waren Maßnahmen festgesetzt, welche Vorkehrungen man im Fall des Ausbruchs einer Cholera-Epidemie zu treffen hätte (RGBl 1892/154). Demnach durfte man in einem Zeitraum von vier Wochen aus einem kontaminierten Gebiet keine Lebensmittel ausführen noch „Hadern“ sammeln. Derlei Verordnungen gibt es ab nun viele, bemerkenswert ist eine Verordnung aus dem Jahr 1995 (!), womit man versuchte, das Einschleppen der Cholera aus Albanien zu verhindern (BGBl 1995/355).

Im Gegensatz zu den Pestepidemien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit begannen nun im 19. Jahrhundert die Regierungen, ihre Gesundheitsvorschriften aufeinander abzustimmen. Die Staaten hatten erkannt, dass eine internationale Zusammenarbeit auf dem Sektor der Gesundheit notwendig geworden war. So hatte man 1839 in Konstantinopel einen „Obersten Gesundheitsrat“ installiert, der zunächst nur aus osmanischen Beamten bestand. Später konnte jedoch auch der Westen die Aufnahme eigener Mitarbeiter durchsetzen. Gemeinsam mit dem Gesundheitsrat von Tanger (1840) und dem Quarantänerat Ägyptens (1843) entwickelte er sich zu einem wichtigen Informationsinstrument für den gesamten Mittelmeerraum. 1851 organisierte man in Paris eine internationale Gesundheitskonferenz, bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden weitere diesbezügliche Konferenzen organisiert und bald waren Vertreter aller fünf Kontinente anwesend. Allerdings demonstrieren uns deren Beschlüsse ein hohes Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Expertisen, womit man viel kostbare Zeit in der Bekämpfung von Epidemien und Seuchen verschwendete. Begriffe wie „Ansteckung“, „Epidemie“ oder „Übertragung“ wurden nicht diskutiert, die Staatenvertreter wollten lediglich die Quarantänebestimmungen angleichen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden internationale Übereinkommen geschlossen, dem auch die damalige österreichische Monarchie beitrat: 1893 unterzeichnete Kaiser Franz Joseph das „Internationale Übereinkommen über gemeinsame Maßregeln zum Schutze der öffentlichen Gesundheit in Zeiten des epidemischen Auftretens der Cholera“ gemeinsam mit Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Montenegro, den Niederlanden, Russland und der Schweiz (RGBl 1893/69). Dabei ging es darum, dass sich die Konventionsstaaten laufend über den Stand der Einschleppung unterrichteten, über Ein- und Durchfahrverbote oder um die Desinfektionen auch für Reisende an den Grenzübergängen. Weiters trat die k. u. k. Monarchie dem „Internationalen Sanitäts-Übereinkommen“ vom 19.3.1897 bei, an dem viele europäische Staaten, aber auch Persien, das Osmanische Reich und Russland teilnahmen (RGBl 1897/13). Darin ging es um eine Benachrichtigungspflicht aller Konventionsstaaten, um Maßnahmen für Pilgerschiffe, Regelungen zur Verhinderung der Einschleppung von Krankheiten zu Lande, Quarantäne, Desinfektionen usw. Diese Konvention war übrigens eine von vielen, denen die Republik Österreich im Vertrag von St. Germain verpflichtend beitreten musste. Da eine übergeordnete Instanz, die die Tätigkeiten dieser Institutionen effizient koordinierte, fehlte, gründete man 1910 den Weltgesundheitsrat. Aus ihm ging die Gesundheitsorganisation des Völkerbundes hervor und nach 1945 die uns heute bekannte WHO.

Mittlerweile hatten die Staaten auch erkannt, dass sie die Errungenschaften der Medizin im Kampf gegen die Seuchen berücksichtigen müssen. Alexandré Yersin (Yersinia pestis) entdeckte 1894 den verantwortlichen Bazillus, der die Pest verursachte, 1898 wies Paul-Louis Simond die Trägerrolle des Flohs nach und 1897 wurde von Waldemar Haffkine ein erster wirksamer Impfstoff gegen die Pest entwickelt. Filippo Pacini gelang bereits 1854 die Isolierung des Choleravibrions, die Vernichtung dieser Krankheit konnte er auch nicht bewirken, sie tritt noch heute vielerorts auf. Obwohl die Grippe damals schon eine gut erforschte Infektionskrankheit war, trat sie spätestens seit dem 19. Jahrhundert als Pandemie auf – von China ausgehend erfasste sie bald die gesamte Welt und wütete von 1889 bis 1892, schätzungsweise erkrankten damals 40 % der Weltbevölkerung.

In den letzten 200 Jahren konnten die Infektionskrankheiten deshalb eingedämmt werden, weil etwa durch Trockenlegung von Sümpfen Hygiene und Sauberkeit ins alltägliche Leben Einzug fanden, die Siedlungs- und Wohnweisen sich änderten, es zu einer besseren Ernährung der Menschheit kam und ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Medizin entsprechende Fortschritte machte. Trotz 391 dieser Fortschritte brachen auch im 20. Jahrhundert viele Pandemien aus. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges und danach wütete die „Spanische Grippe“ 1918/19. Der Patient Null war kein Spanier, sondern ein amerikanischer Farmer und Soldat. Da Spanien als einziges Land trotz des Krieges keine Pressezensur hatte, konnte es darüber berichten – daher leitet sich der Name der Grippe ab. Die „Spanische Grippe“ forderte weltweit je nach Schätzungen 25 bis 100 Millionen Tote! Die meisten Todesopfer hatten Asien und Indien zu beklagen. Die Grippe verlief in Schüben, wobei die dritte Welle, die in der ersten Septemberhälfte 1918 in Mittel- und Westeuropa eingesetzt hatte, die heftigste war. Am 8.10. brachte das Wiener (Neuigkeits-) Welt-Blatt einen Artikel mit dem Titel „Die Grippe in Wien. Eine amtliche Stellungnahme zu den beunruhigenden Gerüchten – Eventuelle Sperrung der Vergnügungslokale“. Darin empfahl man den Menschen, dass Selbstschutz das Wichtigste sei, den Verkehr mit Grippeerkrankten möglichst zu vermeiden, bei Erkrankung gleich zu Hause oder im Bett zu bleiben und möglichst bald den Arzt zu rufen. Einige Tage nach der Entfieberung sollte man das Bett oder wenigstens das Zimmer hüten, um sich so vor einem Wiederaufflackern der Krankheit zu schützen. Gleichzeitig hatte man für acht Tage die Schulen und Kindergärten in Wien geschlossen. Damals war das der Anfang einer großen Influenzawelle, die Österreich und schließlich die gesamte Welt heimsuchte. Ihr fielen mehr Menschen zum Opfer als durch den Ersten Weltkrieg.

Epidemische Seuchen traten während der Zwischenkriegszeit und auch im Zuge des Zweiten Weltkrieges in Form von Typhus, Malaria, Syphilis, Keuchhusten, Masern oder Scharlach, Diphterie und Lungentuberkulose auf. 1957 suchte die Asiatische Grippe die Welt heim, sie ging von China aus und hatte als Erreger das Geflügelpestvirus. 1978 und 1980 trat die Hongkong-Grippe auf, die vermutlich von Schweinen auf Menschen übertragen wurde. Seit den 1980er-Jahren leidet die Menschheit unter Aids (HIV), SARS, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Ebola und jetzt Corona. Wie bereits angeklungen, kam es durch diese Epidemien in der Gesellschaft zu demografischen Veränderungen: Menschen starben, zogen fort oder wanderten aus. Vielerorts brach Massenhysterie und -panik aus – man suchte nach Schuldigen, und fand sie: Landstreicher, infizierte Menschen, aber auch Juden. Sie machte man für die Brunnenvergiftung während der Zeit des „Schwarzen Todes“ verantwortlich. Seuchen bewirkten und bewirken eine Spaltung der Gesellschaft in ein „wir“ und die „Anderen“. Dieses othering ist auch heute erkennbar, so werden, Medienberichten zufolge, AfrikanerInnen in China diskriminiert, da man sie als potenzielle Verbreiter der Infektion betrachtet. Nicht so drastisch diskriminierend sind auch die Grenzen, die zwischen Immunisierten und Infizierten gezogen werden ...

Viren und Bakterien haben die Menschheit seit jeher in Atem gehalten, sie kennen keine Grenzen, weder territoriale noch soziale, schon gar nicht politische. Vor allem ab dem Zeitpunkt der Vernetzung der Welt ab Ende des 19. Jahrhunderts stieg auch die Verbreitung von (ansteckenden) Krankheiten. Eine wesentliche Aufgabe des modernen Verfassungs- und Industriestaates war ab dem 19. Jahrhundert die Bekämpfung des Seuchenwesens geworden. Staaten begannen damals die Seuchenbekämpfung als Merkmal ihrer Leistungsfähigkeit zu demonstrieren: Leprosen-, Hospital- und Seuchenordnungen, Gesetze gegen Pocken und Syphilis wurden verfasst und die Impfpflicht für StaatsbürgerInnen eingeführt. An einigen Orten wurden Erkrankte gezwungen, sich erkennen zu geben und wurden sozial ausgegrenzt. Bereits im Zuge des „Schwarzen Todes“ wurden Pestbriefe erstellt, heute diskutiert man die Corona-App! So bilden Information und Isolation bis in die Gegenwart die Säulen des Seuchenrechts. Übrigens, Österreich verfügt seit 1913 (RGBl 1913/67) über ein „Gesetz über die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“, das 1950 als „Epidemiegesetz“ wiederverlautbart (BGBl 1950/186) und bis heute mehrmals novelliert wurde. Krisen, die durch eine Pandemie ausgelöst werden, konnten und können Staatengefüge in ihren Grundfesten erschüttern. Durch sie wird die Fragilität von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sichtbar. Manche Staats- und Regierungschefs nutzen die derzeitige Corona-Krise, um den Parlamentarismus zu untergraben, wie es zB in Ungarn geschieht.

Bei all diesen Entwicklungen zeigt sich ein Wettlauf zwischen Viren und Medizinforschung, diese hinkt immer einen Schritt hinterher. Unter dem Druck der Epidemien hat der Mensch manch traditionelle Lebensgewohnheit aufgegeben: Er verbesserte seine Wohnverhältnisse, Nahrungsgewohnheiten sowie Hygiene und Sauberkeit. Epidemien veränderten seinen Umgang mit der Umwelt. Auch die Arbeitswelt ändert sich durch Pandemien drastisch – sie führt jetzt zur verstärkten Digitalisierung, zum home-office, zu kreativen Ideen und wenn es sich „nur“ um die Herstellung von Mund-Nasen-Masken handelt. ... Ein Phänomen, das wir auch in der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie beobachten. Reinhard Kosellek meinte Ende der Sechziger-Jahre, dass Krisen einen geschichtsimmanenten Übergangsbegriff darstellen, der nichts darüber aussagt, ob dieser Übergang zum Besseren oder Schlechteren führt. Möge die gegenwärtige Corona-Krise einen Übergang zum Besseren bringen!392