Hamann (Hrsg)Adelheid Popp – Jugend einer Arbeiterin

Picus Verlag, Wien 2019, 158 Seiten, Halbleinen, € 20,–

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Adelheid Popp war ein „role model“, wie man heute sagen würde. Ihr erstes Buch liegt 110 Jahre nach seinem Erscheinen wieder vor. „Eine muss immer die Erste sein“ – unter diesen treffenden Titel stellt die Herausgeberin Sibylle Hamann ihren einleitenden Text. Adelheid Popp hat als Absolventin von gerade einmal drei Jahren Volksschule und als Kind einer Analphabetin mit tschechischer Muttersprache im Alter von 23 Jahren ihre erste Leitungsfunktion im Dunstkreis der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei übernommen (Herausgabe der „Arbeiterinnen-Zeitung“) und war im Jahr 1919 im Alter von 50 Jahren die erste Frau, die in einem österreichischen Parlament eine Rede hielt. Sie wollte kein „dekoratives Versatzstück“ sein, entkam aber gleichwohl nicht den herrschenden – von ihr aber wohl durchschauten – Rollenverhältnissen, nämlich daheim für Kinder und Haushalt, und in der Politik für die „Weibersachen“, nämlich Fürsorge und Sozialpolitik, zuständig sein zu müssen. In einem zweiten einleitenden Essay zeichnet die Historikerin Katharina Prager anhand von Personenstandsbüchern den Weg der Familie der Adelheid Popp als eine durch die Industrialisierung vertriebene Weberfamilie aus Böhmen zunächst nach Wien-Fünfhaus und dann nach Inzersdorf nach.

Der auf diese sehr hilfreichen historischen Überblicke folgende Text von Adelheid Popp ist jener der vierten Auflage aus dem Jahr 1922, die im sozialistischen Vorwärts-Verlag erscheinen durfte, was Popp im Vorwort zur vierten Auflage als die Erfüllung eines „schon immer“ bestandenen Wunsches bezeichnet. Bis dahin war ihr Buch aber international bereits verbreitet und in nicht weniger als elf Sprachen, darunter ins Englische, Französische und Schwedische, übersetzt worden. Auf der Internetplattform ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher) wird eine Originalausgabe aus 1910 angeboten, die aus der Serie von 11.000 bis 15.000 Exemplaren stammt, eine beachtliche Auflage. Adelheid Popp schrieb die „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ als sie bereits Redakteurin der „Arbeiterinnen-Zeitung“ war. Die erste und die zweite Auflage waren aber noch anonym erschienen, erst in der dritten Auflage (1910) gibt Adelheid Popp ihren Namen preis. Das Buch enthält das Geleitwort zur ersten Auflage 1909, geschrieben – wenige Jahre vor seinem Tod 1913 – von keinem geringeren als August Bebel, dem engen Freund Viktor Adlers sowie Mitbegründer und einer der bedeutendsten Führer der deutschen Sozialdemokratie. Er bezeichnet den Text als vorbildhaft für viele Frauen und wünscht ihm große Verbreitung. Schon 1910 war eine dritte Auflage erforderlich geworden. Das Buch wurde zu einem Kultbuch der sozialdemokratischen Frauenbewegung (Rosa Jochmann berichtet davon in ihren Erinnerungen [Sporrer/Steiner, Rosa Jochmann Zeitzeugin [Wien 1983] 55).

Dieser Erfolg ist anhand des Textes gut nachvollziehbar: Sich aus diesen trostlosen, von Hunger und Armut gekennzeichneten Verhältnissen, in denen Adelheid Popp als Absolventin von nur drei Klassen Volksschule aufgewachsen ist, aus eigener Kraft zu befreien und eine Politikerin dieses Formats zu werden, versteht sich alles andere als von selbst. Der Text umspannt die etwas mehr als 30 Jahre von 1872 bis zur Jahrhundertwende mit einem Schwerpunkt ab dem zehnten Lebensjahr der Autorin, als sie nach Abschluss der dritten Klasse Volksschule aufgrund des frühen Todes ihres Vaters vom Schulbesuch befreit wurde, um durch Arbeit zum Familienunterhalt beizutragen. Was das sozialpolitische Umfeld betrifft, sei daran erinnert, dass es zum damaligen Zeitpunkt noch keine allgemeine KV gibt; wie Popp schildert, musste von dem wenigen verdienten Geld, das nicht reichte, um vor dem Hungern zu schützen, noch etwas gespart werden, um Arzt und Apotheke bezahlen zu können. Die Mutter betet um einen raschen Tod ihres siechenden zweiten Ehemanns, da das Geld für seine ärztliche Versorgung nicht reicht. Solche und noch erschütterndere Einblicke gibt das Buch in das Leben des Proletariats im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Wien.

Wer sich mit der Entwicklung der Anfänge des Arbeits- und Sozialrechts im 19. Jahrhundert beschäftigt hat, wird in diesem Text keinen Niederschlag davon finden: Es ist die weitgehend unregulierte Macht des Faktischen, die aus dem Text der Popp über einen hereinbricht. Der Alltag einer Arbeiterin hatte nichts im Entferntesten mit den ohnehin nur rudimentären Ansätzen eines AN-Schutzes zu tun, der damals immerhin schon auf dem Papier stand. Kinderarbeit war die Regel, nicht etwa die Ausnahme. Kaiser, Hof und Unternehmerverbände achteten darauf, dass bescheidene Versuche einer Einschränkung von Kinderarbeit (üblich ab dem zehnten Lebensjahr) verhindert oder rückgängig gemacht wurden (vgl Püringer, Die Entwicklung des Arbeitsrechts in Österreich [2014] 29 ff und im Detail Ebert, Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich [1975] 82 ff). Sofern die Kinder überhaupt das für die Arbeit erforderliche Alter erreichten: Die durchschnittliche Kindersterblichkeit lag im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bei etwa 50 %, im Proletariat allein war sie wohl noch höher. Man kann aus den in unserer Zeit wieder aufgelegten Reportagen von Max Winter (Das schwarze Wienerherz, ÖBV 1982) und Emil Kläger (Durch die Quartiere der Not und des Verbrechens, Hannibal-Verlag) über die Elendsquartiere der Ziegeleiarbeiter nur Standbilder des damaligen proletarischen Elends gewinnen; der Text der Adelheid Popp entrollt hingegen eine Art Film, der den zeitlichen Verlauf dieses Elends einer Arbeiterfamilie über die Jahrzehnte vor Augen führt.

Der auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Umstand, dass der Text zwar biographisch angelegt ist, man aber so gut wie nichts über die politischen Funktionen und das persönliche politische Umfeld der Autorin erfährt (sie wurde zB sehr von Emma Adler, der Frau von Victor Adler gefördert und unterstützt), ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die beiden ersten Auflagen anonym erschienen waren. Der Text bleibt örtlich und zeitlich daher immer im Ungefähren – das gilt auch für den Bericht über Popps Haftzeit im Jahre 1895 wegen kritischer Äußerungen über die katholische Ehe, 393 aus dem man zB nicht erfährt, dass sie diese als verantwortliche Redakteurin der „Arbeiterinnen-Zeitung“ erlitten hat, wohl aber, dass sie im Arrest wissenschaftliche Bücher und heimlich das von ihrem Ehemann zugesteckte Parteiblatt gelesen hat. Obwohl sie sich in der dritten Auflage erstmals zu ihrem Text bekennt, hat sie an diesem – der Herausgeberin zufolge – nur wenige Änderungen vorgenommen. Sie wollte weiterhin bloß „die Fabrikarbeiterin“ sein, als die sie uns im Buch entgegentritt, allerdings ergänzt um eine sehr berührende Erzählung über ihren Ehemann Julius Popp, die sie vorerst naturgemäß hatte aussparen müssen.

Einmal mit dem Lesen begonnen, legt man das Buch nicht so schnell wieder aus der Hand: Man erfährt von der Vorliebe der pubertierenden 12-Jährigen für „Schundromane“, die sie geradezu verschlungen hat, damit aber auch ihr Lesen trainierte und eine gewisse sprachliche Geschicklichkeit erwarb. Durch die Schinderei in der Arbeit eine eher unklare Gemütskrankheit entwickelnd (heute würden wir ein frühes Burn-Out-Syndrom vermuten), erleben wir die 14-Jährige in einer Anstalt für Geisteskranke, in der sie aber immerhin durch Vermittlung eines freundlichen Arztes „höhere Literatur“, wie Schiller und Daudet, kennenlernt.

Die Schrift gewährt aber auch einen Einblick in das Fürsorgewesen der damaligen Zeit. Als man sie nicht weiter für behandlungsbedürftig erachtet, findet sie sich zunächst in einem Armenaltersheim wieder, wo sie offenbar auf Fürsorgekosten untergebracht wurde und wo sie die Vergangenheit als Angehörige einer Zuwandererfamilie einholt: Als damals noch Minderjährige ist sie plötzlich bedroht von einer Abschiebung in die „Heimatgemeinde“ der Mutter nach Böhmen, deren Sprache sie nicht einmal konnte. Man kommt nicht umhin, Parallelen zur Flüchtlingsproblematik der Gegenwart zu erkennen. Sie stellt sich später „mit Erbitterung“ die Frage, was als knapp 15-Jährige aus ihr geworden wäre, hätte man sie in diese Heimatgemeinde gebracht. Einem „denkenden Beamten“ fällt das Kind auf. Er spricht es an, stellt dadurch fest, dass die Mutter in Inzersdorf wohnt und sorgt dafür, dass das Kind wieder zu seiner Mutter kommt. Die Mutter investiert Lehrgeld für eine Lehrstelle für Weißnäherei bei einer Zwischenmeisterin (Lehrgeld musste dem Lehrherrn für die Lehre gezahlt werden – dieses noch aus dem Zunftwesen stammende Rechtsinstitut war noch in § 92 GewO 1859 und in § 99 GewO idF der GewO-Novelle 1889 bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts als Inhalt des Lehrvertrages vorgesehen und wurde de facto erst durch die Einführung einer unabdingbaren Lehrlingsentschädigung [§ 100b iVm § 100d Abs 1 GewO idF BGBl 1922/451] abgeschafft, vgl aber noch OGH9 ObA 249/89). Von dieser Zwischenmeisterin wird Adelheid Popp aber um die Lehre betrogen: Statt ausgebildet zu werden, wird sie als Haushälterin und Kindermädchen ausgebeutet und schließlich zugunsten eines anderen Mädchens entlassen.

Adelheid Popp beginnt Leitartikel in Zeitungen zu lesen. Sie wendet sich von der Kirche ab, verfolgt interessiert die Anarchistenprozesse und kommt so zur Sozialdemokratie. Sie liest das Parteiblatt, geht häufig in Versammlungen und erzählt das dort Gehörte zunächst nur ihren politisch passiven Arbeitskolleginnen in der Fabrik. Ein Beitrag mit dem Titel „Das Weib im XIX. Jahrhundert“ ist für sie gleichsam ein „Erweckungserlebnis“ und Motivation, sich mit der Frauenfrage zu beschäftigen. Sie erkennt ihr eigenes und das Schicksal vieler anderer Frauen, denen sie auf ihrem leidvollen Weg durch Kindheit und Jugend begegnet war. Eines Tages besteigt sie in einer der zahlreichen Versammlungen, die sie besucht, im Anschluss an einen Vortrag zur Diskussion das Podium und spricht erstmals vor einem vollen Saal. Und sie wird daraufhin gebeten, ihren ersten Zeitungsartikel: „Zur Lage der in den Fabriken beschäftigten Arbeiterinnen“ zu schreiben. Einladungen zu zahlreichen Vorträgen folgen. Sie entfremdet sich immer mehr von der katholischen und schicksalsergebenen Mutter, die nicht einmal ein Besuch zweier politischer Größen dieser Zeit, Friedrich Engels und August Bebel beeindrucken kann, die sich für Adelheid Poppins Zeug legen und ihrer Mutter zu vermitteln versuchen, welch politisch wichtigen Weg ihre Tochter geht.

War die „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ (wie das Buch hieß) als Autobiografie gedacht oder als eine politische Agitationsschrift? Schon aufgrund der anfänglichen Anonymität trifft eher letzteres zu. Die biographischen Erlebnisse, die von der Autorin geschildert werden, sind exemplarisch für die Zeit und stellen durch die Erzählerin für die Leserin einen persönlichen Bezug her. An dieser Folie entfaltet sich die Aufforderung zur politischen Aktivität von Frauen als deutliches Gebot zur Erlangung einer besseren Zukunft.

PoppsText wird am Ende des vorliegenden Buches durch einen weiteren sehr lesenswerten Essay von Sibylle Hamann, „Adelheid Popp und wir“, abgerundet, in dem sie den Text Popps analysiert und Parallelen zur aktuellen politischen Lage in Europa zieht. Und sie mündet in dem „Zauberbegriff“, den Adelheid Popp schon 1911 in einem „Mädchenbuch“ vermitteln wollte: die Solidarität der arbeitenden Menschen untereinander.

Man muss Sibylle Hamann, Katharina Prager und dem Picus-Verlag gratulieren, diesen Text aus Anlass des 150. Geburtstages Adelheid Poppsund 110 Jahre nach seinem Entstehen aus den Archiven gehoben und mit begleitenden Erläuterungen einer breiteren Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht zu haben. Kritisch wäre nur anzumerken, dass man sich in den Begleitbeiträgen mehr Details aus dem Leben von Adelheid Popp gewünscht hätte (vgl etwa https://www. geschichtewiki.wien.gv.at/Adelheid_Popphttps://www. geschichtewiki.wien.gv.at/Adelheid_Popp). Aber dazu gibt‘s ja das Internet.

An diesem – noch dazu sehr wohlfeilen – Buch sollte kein politisch interessierter Mensch vorbeigehen: Das ist diesmal nicht als Routineempfehlung für ein spannendes Buch zu verstehen, sondern durchaus als ein Herzensanliegen des Rezensenten.