GreveDas „System Sauckel“ – Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine 1942-1945

Wallstein-Verlag, Göttingen 2019, 491 Seiten, gebunden, SU, € 41,10

KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

In den zahlreichen historischen Studien über den ZwangsarbeiterInnen-Einsatz des NS-Regimes wird der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ als 394 zentrale arbeitsmarktpolitische NS-Institution immer wieder thematisiert. Allein fehlte es an einer Monografie, die sowohl Friedrich Sauckel wie auch seine Funktion innerhalb des Herrschaftsgefüges des NS-Staates umfassend behandelt. Wie gestaltete sich das Verhältnis des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ zum nationalsozialistischen Arbeitsministerium? Wie funktionierte die Rekrutierung von zivilen Zwangsarbeitern für die Rüstungsindustrie des „Dritten Reiches“? Wer war dieser Fritz Sauckel, der 1946 von den Alliierten in den „Nürnberger Prozessen“ zum Tode verurteilt wurde und als NS-Multifunktionär nicht nur „Gauleiter der NSDAP“ in Thüringen war, ein riesiges Rüstungskonglomerat („Wilhelm Gustloff-Werke“) kontrollierte, sondern überdies für die Rekrutierung von Millionen ziviler Zwangsarbeiter verantwortlich zeichnete? Die Historikerin Swantje Greve geht diesen Fragen nun in einer hervorragenden Studie nach, die im Rahmen der umfangreichen Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Reichsarbeitsministeriums entstanden ist.

Die Autorin gliedert ihre Arbeit in zwei Abschnitte: Im ersten behandelt sie den Aufstieg des Thüringer Gymnasiasten Fritz Sauckel in der Staats- und Parteihierarchie und die Übernahme der Funktion des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. Der zweite Teil erklärt die „Arbeitskräftepolitik“ des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz am Beispiel der Rekrutierung von zivilen ukrainischen AN für die deutsche Rüstungsindustrie 1942 bis 1945.

Als 33-Jähriger wurde Fritz Sauckel 1927 als Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei-(NSDAP-)Gauleiter für Thüringen von Hitler ernannt, nachdem er bereits 1923 der damals verbotenen NSDAP beigetreten war und sich durch intensive Agitation für die Partei bis zum „Gaugeschäftsführer“ emporgearbeitet hatte. Thüringen wurde 1929 bis 1931 von einer Koalition aus bürgerlichen und deutschnationalen Parteien und der NSDAP regiert. Der spätere nationalsozialistische Reichsinnenminister Wilhelm Frick übernahm das Innen- und Volksbildungsressort. Sauckel wurde als Gauleiter auch Fraktionsführer der NSDAP im Landtag. Martin Bormann, der spätere „Sekretär des Führers“, begann seine Parteikarriere in Thüringen, was für die Karriere Sauckels später von Vorteil sein sollte. Nach einem kurzen Intermezzo einer bürgerlich-linken Landesregierung gewann die NSDAP 1932 bei den Landtagswahlen über 42 %. Fritz Sauckel übernahm nun auch die Regierungsgeschäfte und formte mit Brutalität und Skrupellosigkeit gegenüber Sozialisten, Kommunisten und Juden das Land zu einem nationalsozialistischen „Muster Gau“. Seine Politik in Thüringen in diesen Jahren wird denn auch als „Probelauf“ und „Experimentierfeld“ für die reichsweite Machtübernahme der Nazis 1933 angesehen. Er enteignete („arisierte“) den größten Rüstungsbetrieb des Landes und gründete die „Wilhelm Gustloff-Stiftung“ (die übrigens 1938 auch die Hirtenberger Patronenfabrik enteignete). Die Landesvertretung in Berlin, das „Thüringerhaus“, wurde neu erbaut und mit Vertrauten besetzt. Sauckels „Thüringersche und Berliner Clique“ und seine Beziehungen zu den höchsten Regierungsund Parteistellen sowie zu Hitler persönlich sollten für seine weitere Karriere entscheidend sein: Als sich im Herbst des Jahres 1941 durch Einberufungen zur Wehrmacht der Mangel an einheimischen Arbeitskräften für die deutsche Kriegsmaschinerie verschlimmerte, wurde von der Wehrmacht, der Industrie und Ministerien der verstärkte Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener und ziviler Arbeitskräfte gefordert. Gestützt auf eine Anordnung Hitlers befahl das Oberkommando der Wehrmacht Ende Oktober 1941 die „Ausnutzung der Arbeitskraft russischer Kriegsgefangener durch ihren Großeinsatz für die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft“. Hermann Göring, als „Beauftragter für den Vierjahresplan“ für Entwicklung und den Ausbau der NS-Wirtschaft zuständig, errichtete eine eigene aus den leitenden Beamten des Reichsarbeitsministeriums bestehende Arbeitsgruppe und ordnete den Einsatz russischer Zivilarbeitskräfte an. Der organisatorische Aufbau der Anwerbekommissionen in der besetzten Ukraine, die Klärung von Zuständigkeiten, Verfahrensabläufen und Transportkapazitäten nahm Zeit in Anspruch. Dadurch und infolge eines durch Hunger und Krankheiten hervorgerufenen Massensterbens in den deutschen Kriegsgefangenenlagern in Russland konnten in den ersten Monaten des Jahres 1942 nur vergleichsweise wenig ukrainische Kriegsgefangene und ZivilarbeiterInnen in das „deutsche Reich“ gekarrt werden. Im Rüstungsministerium und anderen Dienststellen wurde der Ruf nach einer zentralen Bündelung aller mit dem Arbeitseinsatz ausländischer Arbeitskräfte und Kriegsgefangener zusammenhängender Maßnahmen erhoben. Im März 1942 wurde schließlich der Thüringer Gauleiter, der von der NS-Hierarchie infolge seiner Rücksichtslosigkeit in der Durchsetzung regimekonformer Maßnahmen sehr geschätzt wurde, von Hitler als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz bestellt. Fritz Sauckel wurden damit auch die entsprechenden Abteilungen des Reichsarbeitsministeriums direkt unterstellt. Mit diesem Beamtenapparat, ergänzt durch Vertraute aus seinem thüringerschen Netzwerk, setzte Sauckel eine Organisation in Gange, die ohne Skrupel aus allen von den Deutschen besetzten Ländern Arbeitskräfte vorerst freiwillig, dann mit brutalem Zwang zu rekrutieren suchte.

Die Autorin analysiert am Beispiel der Ukraine die unheilvolle Zusammenarbeit, aber auch die Konflikte zwischen dem kleinen Stab des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, den Dienststellen des Reichsarbeitsministeriums im besetzten Gebiet, der deutschen Zivilverwaltung, dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, der Wehrmacht und Schutzstaffel sowie den permanent unter Androhung von Repressionen stehenden einheimischen Ortsverwaltungen. Wurden am Beginn der Anwerbung noch Prospekte verteilt, die den UkrainerInnen eine freiwillige Arbeitsleistung in Deutschland anpriesen, so gingen die „Werbekommissionen“ bald zur gewaltvollen Rekrutierung von Arbeitskräften über. Für die Bevölkerung wurde eine Melde- und Arbeitspflicht erlassen. Unter Strafandrohung mussten die Ortsobrigkeiten Personen zur Verfügung stellen, die sich den deutschen Arbeitseinsatzstäben zu unterwerfen hatten. Mit menschenverachtenden Methoden – durch Razzien, Inhaftierungen, das Niederbrennen von Häusern und der „Aushebung ganzer Jahrgänge“ – wurden UkrainerInnen gezwungen, als – nach der NS-Rassendoktrin – „rassisch minderwertige Arbeitskräfte“ im „Deutschen Reich“ für die NS-Kriegswirtschaft zu arbeiten.

Im „Deutschen Reich“ kooperierte der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz mit den Ministerien, den Gauleitern und Reichsstatthaltern sowie mit den regionalen Behörden. Als ab 1944 infolge des Vormarsches der Alliierten kaum noch ausländische ZwangsarbeiterInnen 395 rekrutierbar waren, unterstützte SauckelJoseph Goebbels, der von Hitler zum „Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“ ernannt worden war. In enger Zusammenarbeit mit Rüstungsminister Albert Speer befürwortete er den Einsatz von KZ-Häftlingen, die von der Schutzstaffel zur Verfügung gestellt wurden. In „seinem Gau“ Thüringen trieb er als Gauleiter die Errichtung von KZ-Nebenlagern, den Todesfabriken der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie, voran.

Zwischen 1939 bis 1945 wurden über 8 Millionen ausländische ZwangsarbeiterInnen zur Dienstleistung im „Deutschen Reich“ verpflichtet. Die Mehrzahl wurde durch die Organisation des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz nach Deutschland deportiert. Die ausgezeichnete Studie von Frau Swantje Greve gibt am Beispiel des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, seiner Organisation und seinen Kooperationen mit den Dienststellen des „Dritten Reiches“ sowie seiner menschenverachtenden Rekrutierungs- und Arbeitseinsatzpraxis in der von den Deutschen besetzten Ukraine einen instruktiven Einblick in die barbarische (Zwangs-) Arbeitskräftepolitik des NS-Regimes.