Hofmann/Kreiml/Weiss (Hrsg)Umbrüche. Umdenken – Arbeit und Gesellschaft aus wissenschaftlicher und betrieblicher Perspektive

Verlag des ÖGB, Wien 2019, 236 Seiten, kartoniert, € 29,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

In diesem Sammelband werden wesentliche Umbrüche in der Gesellschaft thematisiert. Es geht um Auswirkungen von Veränderungen in der Arbeitswelt, in den Lebensläufen der Beschäftigten, um die soziale Situation von AN und um deren Wahrnehmungen, Erwartungen, Sichtweisen, Weltbilder und Einstellungen zu gesellschaftlich relevanten Themen.

Ziel des Buches ist ein Dialog zwischen betrieblicher Praxis und wissenschaftlicher Forschung. Ausgangspunkt der Publikation war eine beispielhaft vorbildliche Lehrveranstaltungskooperation zwischen dem Institut für Soziologie der Universität Wien und der GPA-djp. Die Konzeption dieser Kooperation war es, Forschung und betriebliche Erfahrungen zusammenzubringen und wissenschaftliche Analysen sowie betriebliche Erfahrungen auszutauschen. Im Rahmen der Kooperation haben Bachelor-Studierende der Soziologie über 500 Angestellte in den Branchen Banken und Handel zu ihren Arbeitserfahrungen und gesellschaftspolitischen Einstellungen befragt. Dabei war es auch ein Ziel, die unterschiedlichen Befunde gegenüberzustellen. Der Handel ist dadurch charakterisiert, dass dort überwiegend Frauen und relativ viele MigrantInnen arbeiten. Die kollektivvertraglichen Entgelte sind eher niedrig, dazu kommt eine hohe Teilzeitquote. Die AN im Handel befinden sich tendenziell in einer Zone der Prekarität. Demgegenüber ist die Arbeit im Bankenbereich durch eher gut qualifizierte und besser bezahlte Beschäftigungsverhältnisse charakterisiert, allerdings sind nunmehr große Umstrukturierungen, Filialschließungen, Kündigungen und neue Anforderungen an die Arbeit zu beobachten. Die soziale Unsicherheit steigt auch hier.

In dem Buch werden sechs Phänomene thematisiert: Entgrenzung, Digitalisierung, psychische Belastungen, soziale Verunsicherung, Gerechtigkeit und Entsolidarisierung. Sie werden jeweils aus drei Perspektiven betrachtet: Aus der Perspektive der betrieblichen Praxis durch BetriebsrätInnen, aus theoretisch-konzeptioneller Perspektive durch WissenschaftlerInnen und aus empirischer Perspektive durch Befragungen der Studierenden. Besonderer Wert wird auf den Aspekt des „Umdenkens“ gelegt. Dieses Anliegen wird in besonderer Weise methodisch unterstützt.

Im Kapitel Entgrenzung geht es um das zunehmende Verfließen von Arbeit und Freizeit. Es handelt sich um einen Bedeutungsverlust der räumlichen, sachlichen und zeitlichen Strukturierung. Vor allem besteht sie in einer Auflösung der früher klar definierten Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Gute Einblicke in die betrieblichen Verhältnisse vermittelt das Interview zwischen Julia Hofmann und Ilse Fetik am Beispiel des Erste-Bank-Campus. Franz Astleitner hat dazu die wissenschaftliche Analyse bereitgestellt, er stellt dazu auch empirische Befunde vor. Er stellt eine „stille Enteignung der Zeit“ in Form einer neuen kapitalistischen Landnahme fest. Es sei ein Problem, wenn es zu einer weitgehend individuellen Verantwortung für das Zeitmanagement kommt. Die Befragung bestätigt diese Analyse und ergab erstaunlicherweise, dass diese Entgrenzung überwiegend als normal betrachtet wird. Entgrenzte Arbeitsformen nehmen mit höherem Bildungsgrad zu. Überstunden werden häufig positiv bewertet und nicht als Einbruch in die Freizeit angesehen.

Agnes Streissler-Führer liefert den theoretischen Teil zum Thema Digitalisierung. Sie beschreibt die Digitalisierung in der Produktion (Industrie 4.0), Plattformarbeit, Crowdwork, Customisation, Prosumation und hybride Geschäftsmodelle. Die Aufgabe bestünde in einer vorausschauenden Qualifikationspolitik und der Verhinderung einer Erosion der Arbeits- und Sozialrechte, da sonst eine umfassende Prekarisierung drohe. Die Autorin umreißt in der Folge, wie „Gute Arbeit 4.0“ aussehen sollte. Die empirischen Ergebnisse (vorgestellt von Laura Gabriel und Caryne Madonna Müller) zeigen eine große Besorgnis in Bezug auf die Digitalisierung, es werden aber auch Chancen auf Erleichterungen im Arbeitsprozess vermutet. Die Ängste, durch Computer oder Roboter ersetzt zu werden, sind bei Personen mit Maturaabschluss am größten. Die Befürchtungen sind im Handel geringer ausgeprägt als im Bankbereich.

Der Abschnitt „psychische Belastungen“ (das lesenswerte Interview führte Julia Hofmann mit Adi Lehner, Zentralbetriebsrats-Vorsitzender der Bank Austria, der wissenschaftliche Input stammt von Martina Molnar) weist in eine eindeutige Richtung, die Zunahme von Gefährdungen der psychischen Gesundheit. Vera Doppelreuter und Isabelle Kaiser fassen die Befragungen zusammen: Danach steigt der Arbeitsdruck zB durch Zeitvorgaben und die Vergrößerung von Arbeitsbereichen, im Bankensektor durch Digitalisierung und veränderte Arbeitsbedingungen stärker als im Handel. Der Stress nimmt ab dem mittleren Alter deutlich zu. Als erfreulich werden diesbezügliche Initiativen der EU beschrieben.

Es sei hier ein weiteres Thema herausgegriffen, jenes der Gerechtigkeit. Das Interview wurde mit Doris Migsch396 geführt (stv. Vorsitzende des BR bei Lidl Österreich). Dabei geht es erwartungsgemäß um Entgelt und Steuern. Für sie sind die Abstufungen im Entgelt (Management versus gewöhnliche Angestellte) nicht nachvollziehbar, auch was die erbrachten Leistungen anlangt. Angeschnitten wird auch das sensible Thema der Einkommenshöhe von Personen, die nicht arbeiten, wozu die Betriebsratsvorsitzende eine erfreulich differenzierte Position vertritt. Als eher unlösbar wird das Problem der Teilzeitarbeit angesehen. Martin Schürz plädiert dafür, ein solidarisches Mitgefühl zu stärken und die gesamte Gesellschaft und nicht nur den „Nachbarn“ im Blickfeld zu behalten. Zentrales Ergebnis der Untersuchung ist für Melanie Schmuck, dass zur Frage einer gerechten Verteilung das reale Nettoeinkommen zwar eine wesentliche Rolle spielt, die Gerechtigkeitswahrnehmung aber am stärksten durch die Selbstzuordnung zu einer sozialen Schicht beeinflusst wird. Handelsangestellte fühlen sich wesentlich stärker benachteiligt als Bankangestellte.

Noch ein Blick auf das Kapitel „Entsolidarisierung“. Das Interview führte Thomas Kreiml mit Verena Spitz, stv. Vorsitzende des Zentralbetriebsrats bei der BAWAG/PSK. Sie bestätigt den Satz: „Du kannst leisten und dich für das Unternehmen aufopfern, so viel du willst, wenn es hart auf hart geht, ist das alles nichts wert.“ Spannend ist der Beitrag von Schindler, Altreiter und Flecker, vor allem zum Thema des „Wohlfahrtschauvinismus“ und des Konzepts exkludierender Solidarität, wie es etwa von der FPÖ (durchaus erfolgreich im Rahmen der „türkis-blauen Koalition“) vertreten und umgesetzt wurde. Der Kernbefund der Befragung, mit Schwerpunkt der Einstellungen zur AlV, zeigt, dass die Einstellungen der Angestellten dazu sehr kontrovers sind und je nach Neigung zu optimistischen oder pessimistischen Sichtweisen sehr große Unterschiede aufweisen. Man kann zu dieser Thematik durchaus von einer tiefen Spaltung innerhalb der Arbeitnehmerschaft sprechen.

Zusammenfassend kann die Lektüre dieses Buches uneingeschränkt empfohlen werden. Der gewählte Forschungsansatz erweist sich als sehr fruchtbar. Einige Ergebnisse überraschen, andere waren auf Grund der theoretischen Analysen erwartungsgemäß. Insgesamt zeigt sich eine breit angelegte Prekarisierung der Arbeitswelt, die allerdings auf sehr heterogene und zwiespältige Einstellungen und Deutungen trifft. Die Gewerkschaftspolitik scheint auch deswegen stärker herausgefordert als zu vermuten war.