Soukup (Hrsg)Neoliberale Union oder soziales Europa? Ansätze und Hindernisse für eine soziale Neuausrichtung der EU

Verlag des ÖGB, Wien 2019 140 Seiten, kartoniert, € 10,– oder Gratisdownload

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Der Band 20 der von der Arbeiterkammer Wien betreuten Publikationsreihe „Sozialpolitik in der Diskussion“ macht erneut die soziale Frage in der Europäischen Union zum Thema. Unter der Herausgeberschaft von Nikolai Soukup werden neun thematisch sehr breit gestreute Beiträge zur Diskussion gestellt. Untersucht wird dabei vor allem, welche Hindernisse und Perspektiven es für eine substanzielle soziale Neuausrichtung der EU gibt.

Für Soukup besteht ein zentrales Hindernis für eine soziale Neuausrichtung der EU in der Dominanz neoliberaler wirtschaftspolitischer Integration über eine wohlfahrtsstaatliche Politik. Er verweist darauf, dass der EuGH schon vor Beginn des Programms zur Binnenmarktvertiefung in mehreren Urteilen eine weitgehend liberalistische Interpretation der Marktfreiheiten vertreten hat. Die Binnenmarktfreiheiten seien dabei nicht nur als Diskriminierungsverbot interpretiert worden, sondern auch als Verbot von Beschränkungen grenzüberschreitender Marktvorgänge. Sozialpolitisch besonders problematisch sind für Soukup etwa die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts für die Finanzierung von Leistungen der Daseinsvorsorge, die Liberalisierung wichtiger Wirtschaftssektoren wie Telekommunikation, Post, Strom, Gas, Verkehr und Rundfunk, die aus der EU-Osterweiterung resultierenden Dumpingeffekte, die restriktiven Fiskalregeln und das Policy-Regime der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Die Interessen von transnationalem mobilem Kapital würden gegenüber anderen Interessen wie jenen der AN strukturell bevorzugt. Aktuell diagnostiziert Soukup widersprüchliche Entwicklungen in der sozialpolitischen Ausrichtung der EU. So enthalte die rechtlich unverbindliche europäische Säule sozialer Rechte („ESSR“) zahlreiche Formulierungen, die eine Absicherung und Stärkung sozialer Rechte beabsichtigen. Allerdings möchte die Kommission auch die sogenannte „Flexicurity“-Agenda wiederbeleben, ein höchst ambivalentes Konzept. Soukup warnt davor, sich nicht in „binären Debatten“ darüber zu verlieren, ob es „mehr“ oder „weniger“ Europa bzw eine vertiefte Integration oder eine verstärkte „Rückkehr“ zum Nationalstaat brauche. Er fürchtet, dass ein bedingungsloses Bekenntnis zu vertiefter Integration unbeantwortet lässt, welche sozioökonomische Ausrichtung dieser Integrationsschub haben soll. Eine inhaltliche Neuausrichtung des EU-Mehrebenensystems an sozialem Fortschritt müsste dem gegenüber aus breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hervorgehen. Es gehe also um Umbrüche in den Machtverhältnissen durch harte Auseinandersetzungen.

Georg Feigl („Wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik als Voraussetzung für ein soziales Europa“) vertritt, dass eine Neuorientierung der europäischen Wirtschaftspolitik – insb im Rahmen der WWU – unumgängliche Voraussetzung für eine substanziell sozialere Ausrichtung der europäischen Politik darstellt. Wohlstand, Aufwärtskonvergenz und sozialer Fortschritt sollten dazu als zentrales Leitbild verankert werden. Zwischen diesem Leitbild und Indikatoren zur Messung der Zielerreichung schlägt er ein „magisches Vieleck“ der Wirtschaftspolitik vor.

Elisabeth Klatzer und Christa Schlager („Rückwärtsgang eingelegt: Ausmaß und Folgen der geschlechterpolitischen Lücke der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU“) stellen fest, die mit der Krisenpolitik geschaffene neue „Economic Governance“ der EU zeichne sich durch eine weitreichende Geschlechterblindheit aus („Gender Governance Gap“). Die Autorinnen plädieren für eine Neukonzeptualisierung von Ökonomie als „Care-Economy“, bei der die soziale Reproduktion in 400 den Mittelpunkt gerückt wird, für eine emanzipatorische Transformation von Staatlichkeit und den Ausbau geschlechtergerechter Institutionen und Entscheidungsprozesse. Besonders lesenswert ist die berechtigte Kritik am verkürzten Verständnis der Kommission hinsichtlich des Konzepts des Gender Mainstreaming.

Im Beitrag von Torsten Müller und Thorsten Schulten („Ein Ende des lohnpolitischen Interventionismus“) wird deutlich gemacht, dass in dem mit der „Troika“ vereinbarten „Memoranda of Understanding“ und in länderspezifischen Empfehlungen Lohnzurückhaltung und die Dezentralisierung von Kollektivvertragssystemen im Vordergrund standen. Insb in den südeuropäischen Ländern sei es in der Folge zu einem deutlichen Rückgang von Flächenkollektivverträgen und zu einem Rückgang der Reallöhne gekommen. Sie schlagen eine transnationale gewerkschaftliche Zusammenarbeit etwa in Form einer europäischen Mindestlohnpolitik und einer Stärkung nationaler Kollektivvertragssysteme vor.

Der Beitrag von Martin Risak („Atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der EU: Problemlagen und arbeitsrechtliche Handlungsoptionen“) thematisiert die Zunahme von prekären Beschäftigungsformen. Nach einem Überblick über die Hintergründe der gestiegenen Bedeutung unterschiedlicher Formen atypischer Beschäftigung untersucht Risak den Richtlinienvorschlag über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen (2017), für den Autor ein Schritt in Richtung auf die Absicherung der Arbeitenden gegen besondere Ausformungen atypischer Beschäftigung. Herausgearbeitet wird, welcher Handlungsbedarf auf Unionsebene in Bereichen wie der Teilzeit- und befristeten Beschäftigung, der Plattformarbeit und der „neuen Selbstständigen“ besteht.

Weitere wichtige und lesenswerte Beiträge können hier nur kurz erwähnt werden, so der von David Rautner, Petra Völkerer und Silvia Hofbauer zur Jugendarbeitslosigkeit, die ausführliche und gehaltvolle Analyse von Problemlagen und Handlungsnotwendigkeiten im Zusammenhang mit grenzüberschreitendem Lohn- und Sozialdumping in der EU durch Walter Gagawczuk, die Darstellung des Ausmaßes an Armut und sozialer Ausgrenzung und der bisherigen Aktivitäten und Schwerpunktsetzungen in der EU durch Karin Heitzmann (mit besonderer Betonung der Armutsgefährdung von Kindern und Jugendlichen) und schließlich die Abhandlung von Philipp Gerhartinger und Martin Saringer zur Thematik von Hindernissen (Stichwort: Steuerwettbewerb) und Perspektiven einer europäischen Politik für mehr Steuergerechtigkeit.

Der vorliegende Sammelband ist JuristInnen, ÖkonomInnen, FunktionärInnen von AN-Organisationen, sozialpolitisch Engagierten und Personen in politischen Funktionen sehr zu empfehlen. Viele Beiträge bestechen durch eine gediegene Analyse von Aktivitäten der Union und zeigen die Hintergründe für das Scheitern der sozialpolitischen Ansprüche auf, die die Union an sich selbst gestellt hat. Wie in vielen ähnlichen „progressiven“ Publikationen mangelt es leider durchwegs an realisierbaren Lösungswegen. Hier verlieren sich die AutorInnen in Appellen und Forderungen, ohne wenigstens in Ansätzen eine erfolgversprechende Strategie aufzuzeigen, wie die propagierten sozialpolitischen Ziele erreicht werden könnten. Auch orientieren sich die Beiträge allzu sehr an alten Leitbildern der verblichenen fordistischen Epoche. Die Kritik an der Forderung nach einer radikalen Demokratisierung und Vertiefung der EU durch Soukup ist in diesem Zusammenhang eher unverständlich. Dieses Manko ändert aber nichts daran, dass der Band ein hohes wissenschaftliches Niveau durchhält und die Kritik an der Sozialpolitik der Union durchwegs nachvollzogen werden kann.