Martinek/Mazal/Wetscherek (Hrsg)Sozialpolitik und Zukunftssicherheit – Tagungsberichte Denkwerkstatt St. Lambrecht 2017 und 2018

NWV-Verlag, Wien 2019, 157 Seiten, broschiert, € 44,80

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Der hier besprochene Sammelband bringt Referate der „Denkwerkstatt St. Lambrecht“ der Jahre 2017 und 2018 zu Papier. Im Jahr 2017 stellte man sich dem Thema „Läuft die Zeit ab? – Generationenverantwortung in Europa“. 2018 ging es dann um „Struktur – Strukturbrüche – Leben in Veränderung“. Beide Themen sind hinsichtlich ihrer Weitläufigkeit und angesichts der überbordenden wissenschaftlichen Literatur mehr als ambitioniert. Der Extrakt findet sich auf schmalen 150 Seiten, zählt man die durchaus anregenden Jahrgangsbilder nicht mit. Das ist, freundlich ausgedrückt, nicht viel.

Die Tagung feierte im Jahr 2017 ihr zehnjähriges Jubiläum. Sie möchte zu wesentlichen Themen der Zeit Impulse setzen und verschreibt sich einem interdisziplinären Dialog. Ein besonderer Schwerpunkt liegt seit jeher im Bereich von Themen der Altersversorgung und der (sozialen) Probleme einer stark alternden Gesellschaft. Die ReferentInnen der Tagungen stammen aus vielerlei Fachdisziplinen, die vertretenen weltanschaulichen Lager sind hingegen als recht homogen zu bezeichnen. Die sonst bestehenden Kontroversen zu diesen Themen werden daher nicht abgebildet. Es geht nicht nur um Implikationen der katholischen Soziallehre. Auch der streitbare islamische Religionspädagoge Ednan Aslan und der in zahlreichen muslimischen Organisationen tätige Tarafa Baghajati kommen zu Wort, beide Vertreter einer westlich orientierten Interpretation der Rolle des Islam im „Abendland“.

Der Band enthält nicht weniger als 24 Beiträge. Viele sind sehr kurz, ja eigentlich eher Skizzen und Denkanstöße ohne erkennbare Ambition, wissenschaftliche Ergebnisse vorzustellen. Ein derart buntes Potpourri macht es nicht leicht, das Büchlein angemessen zu rezensieren. Es geht den Herausgebern und Organisatoren wohl eher darum, unterschiedliche Gedankensplitter in Diskussionsrunden, an einem zweifelsohne ehrwürdigen Ort und in einem sicher auch sehr angenehmen Ambiente einfließen zu lassen. Der offenbar gewollte Impulscharakter der Beiträge soll hier gerne akzeptiert werden, ihr eigentlicher Wert erschließt sich aber wohl erst durch eine persönliche Teilnahme.

Es kann hier nur auf einige Themen und ausgewählte, bemerkenswerte oder auch merkwürdige Beiträge und Thesen eingegangen werden.

Einige Referate stellen thematische Querverbindungen zu religiösen Lehren und Dogmen in den Vordergrund. Matthias Beck nimmt im Kontext der Altersversorgung zum diesbezüglichen Menschenbild aus der Sicht 401 des Christentums und der griechischen Philosophie Stellung. Gerwig Romirer referiert Inspirationen für heute aus der 1500-jährigen Regel des Heiligen Benedikt, die allerdings auf einem Abstraktionsniveau liegen, das für die anstehenden Fragen der Generationengerechtigkeit keine Entscheidungshilfen zu bieten hat. Andreas Zakostelsky („Vordenken – Gott und die Welt“) interpretiert den Individualismus von heute vor allem als kollektiven Egoismus. Daraus würden erhebliche Herausforderungen für die Altersvorsorge resultieren. Er fasst dazu einige gefährliche Tendenzen zusammen, etwa eine Art Werteverfall im Bereich des Religiösen (zusammengebastelte „IKEA-Religiosität“), eine Art Neo-Biedermeier als Gegenreaktion gegen die Globalisierung, Gefährdungen der Demokratie durch Populismus uä. Er kritisiert auch die Deutungshoheit einzelner politischer Gruppen („political correctness“) und streift damit an die Polemiken des Rechtspopulismus gegenüber „linksliberalen, abgehobenen Eliten“ an.

Anna Zaborska (Mitglied des Europäischen Parlaments aus der Slowakei) beklagt die Erosion der Familien durch die (auch in der EU) politisch betriebene Agenda, für die Frauen möglichst Vollzeitbeschäftigungen bzw eine hohe Beschäftigungsquote zuzusichern. Dadurch werde das gesellschaftliche Sozialkapital geschmälert. Für sie ist die „natürliche“ Familie die erste Quelle von Solidarität (sie entspringt aus ihrer Sicht aus der Quelle der „Blutsverwandtschaft“). Der Beitrag lässt jede Auseinandersetzung mit den Ursachen familiärer Probleme vermissen, so etwa, dass es gerade sich christlich nennende Parteien sind, auch in Österreich, die eine Flexibilisierung der Arbeitswelt vorantreiben und mit ihrer reaktionären Sozialpolitik einkommensschwache Familien vor unlösbare Aufgaben stellen, indem sie ihre materiellen und psychischen Ressourcen ausdünnen.

Adam Lessing behauptet („Generationenverantwortung und globale Märkte“), dass sich die globale Asset Management Industrie ihrer Generationenverantwortung stellt. Er verweist auf eine Tendenz zu Socially Responsible Investment („SRI“), aber auch auf die Schwierigkeiten, auf die dieses stößt.

Christine Geserick vermittelt Trends zu Leben und Wohnen im Alter und skizziert auch empirisch unterfüttert Eckpunkte der Änderung des Wohnverhaltens im Alter. Em. Bischof Maximilian Aichern steuert Gedanken zur Generationengerechtigkeit bei, basierend auf einer christlichen Grundhaltung zu sozialen Fragen, die Respekt verdient.

Dem Buch fehlt es auch nicht an Produktbeschreibungen (Karl Timmel zum BVB-Langzeitkonto). Bernhard Felderer liefert einen Beitrag zur langfristigen Wirtschaftsentwicklung, in dem eine neoliberale Grundierung allerdings deutlich zutage tritt. Der abgeschottete Kosmos der herrschenden Wirtschaftstheorie, in dem sich die Analyse bewegt, verschließt sich einer umfassenderen Untersuchung von disruptiven Tendenzen und den nunmehr manifest spürbaren selbstzerstörerischen Kräften, die von einem unregulierten globalen Kapitalismus ausgehen.

Highlight der Tagung 2018 war ein (aufgezeichnetes) Gespräch zwischen Konrad Paul Liessmann und Wolfgang Mazal über „Brüche und andere Belanglosigkeiten“. Der Beitrag lebt von den intellektuellen und rhetorischen Qualitäten eines österreichischen Starphilosophen; er bietet eine Art Palette von Impuls-Leckerbissen zu vielen Thematiken der Gegenwart. Dabei werden nun auch jene Disruptionen aufgezeigt, welche die Gegenwart so unübersichtlich, paradox und volatil machen.

Josef Zechner geht es um Nachhaltigkeit als Verantwortung von Finanzinvestoren. Er behauptet ernsthaft, dass sich Unternehmen verstärkt auf ESG-Strategien „focussieren“, also auf Umwelt, Soziales und Governance. Dass es sich dabei um eine Entwicklung handelt, die als eine Trendwende bei der fatalen Produktion negativer Externalitäten begriffen werden könnte, ist angesichts der Faktenlage eine Illusion. Der Großteil der kapitalistischen Unternehmen zerstört beharrlich den Planeten, den sozialen Zusammenhalt, die Regierbarkeit und die menschliche Zivilisation.

Franz Schellhorn und Fabian Stephani versuchen sich an einer Kritik der heutigen Mehrheitsmeinung („Horrorszenarien“), dass es im Zuge von Automatisierung, Digitalisierung und KI zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten kommen wird. Eine solche Position ignoriert die treibenden Kräfte der heutigen Entwicklung. Zudem setzen die Autoren auf Wachstum, ohne dessen Grenzen miteinzubeziehen. Dass der Begriff des „Arbeitsplatzes“ den heutigen Realitäten nicht mehr gerecht wird, ist ein weiteres Grundproblem dieses Beitrags.

Doris Palz fordert, mit Kultur, Kompetenz und Diversität gegen den Personalmangel anzukämpfen. Ihre Antworten sind „Arbeitgeberattraktivität“ und der Rat, „sich auf die Menschen einlassen“. Gute Entlohnung reiche nicht. Ja, alles sehr schön, ginge es nicht in aller Regel und systembedingt nur um blanken Profit.

Zuletzt sei noch der schon thematisch deplatzierte Beitrag von Ednan Aslan erwähnt, der auch hier seine Kritik an den dominierenden muslimischen Gemeinschaften und Organisationen in Österreich verbreitet. Seine Integrationsvorstellungen sind naiv und Wasser auf die Mühlen jener, die den islamischen MitbürgerInnen generell Integrationsunfähigkeit unterstellen. Unter dem Deckmantel der Aufklärung stellen sich missionarisch hyperaktive AkteurInnen gegen die grundlegenden europäischen Werte der Diversität und des Rechts von Ethnien und Religionen, im Rahmen der Grundrechte und Gesetze ihre Identität zu leben. Kritisieren kann man immer nur das Verhalten einzelner Personen und nicht in ihrer Eigenschaft als vorweg abgestempelte Zugehörige bestimmter Gruppen. Aslan gehört zu jenen, die den inzwischen fast zur Staatsräson avancierten Rechtspopulismus befeuern. Paradox, dass er gerade in einem religiösen Ambiente willkommen war.

Zusammenfassend: Der Band ist wohl eher als Dokumentation einer sicher angenehmen und diskussionsfreudigen Tagung zu sehen. Will diese aber mehr Aufmerksamkeit erlangen, sollten das Milieu der TeilnehmerInnen und ReferentInnen etwas vielfältiger gestaltet und auch dezidiert kritische Positionen miteinbezogen werden.