HaipeterInteressenvertretung bei Volkswagen – Neue Konturen einer strategischen Mitbestimmung

VSA Verlag, Hamburg 2019 192 Seiten, kartoniert, € 17,30

PETRASTREITHOFER (WIEN)

Die Einleitung lässt leicht nachvollziehen, warum Thomas Haipeter bereits seit den 1990er-Jahren sozialwissenschaftlich zur Interessenvertretung bei VW forscht. Dem Konzern mangelt es schließlich nicht an Superlativen, ua: größter Automobilhersteller der Welt, größter Konzern in Deutschland nach der Beschäftigtenzahl, allein 60.000 Beschäftigte am Standort Wolfsburg. Dort liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei 90 % in der Produktion und 70 % im Büro; der BR sitzt fest im Sattel. An VW zeigt sich die Entwicklung der Automobilindustrie samt ihren Krisen und Transformationen, zuletzt der Dieselkrise und der Wende zur E-Mobilität. Phasen enormem Wachstums prägten VW genauso wie Kostendruck und oftmals angedrohter Personalabbau, der dank des gewieften BR immer wieder verhindert oder zumindest begrenzt werden konnte. Wie Haipeter darlegt, ist der VW-BR in Deutschland Inbegriff für wirkmächtige und innovative Mitbestimmung. Beispielhaft war etwa seine Rolle für die Arbeitszeitverkürzung, beginnend mit der beschäftigungssichernden 4-Tage- Woche Anfang der 1990er. Auf Grund besonderer institutioneller Rahmenbedingungen wird die wirtschaftliche Mitbestimmung weit über dem Niveau des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes gelebt.

Auf diesem Feld ist das vorliegende Werk als Frucht einer früheren Fallstudie zur AN-Vertretung in multinationalen Konzernen entstanden. Die Idee zum Buch entwickelte Haipeter mit dem VW-BR und der IG-Metall. Eine grundsätzlich wohlwollende Haltung des Autors diesen gegenüber lässt sich im Endprodukt nicht verhehlen. Haipeter arbeitet jedenfalls treffsicher die Entwicklung vom Co-Management zur strategischen Interessenvertretung heraus: Er zeigt, wie BR und Gewerkschaft rechtzeitig Herausforderungen erkannten und die Unternehmensstrategie beeinflussten. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf dem Standort Wolfsburg. Die empirische Basis liefern Schriftstücke wie zB betriebliche und tarifliche Vereinbarungen sowie leitfadengestützte Interviews mit BetriebsrätInnen aller Ebenen, GewerkschafterInnen und PersonalmanagerInnen. Pointierte Zitate aus den Interviews stellen Höhepunkte bei der Lektüre dar.

Der einleitende Kurzabriss über die Geschichte der Mitbestimmung bei VW hätte für mit der VW-Geschichte nicht vertraute LeserInnen noch eine Spur umfangreicher geraten können. Die wesentlichen Informationen finden sich aber thematisch passend in den folgenden Kapiteln. Haipeter stellt zunächst Entwicklungstendenzen bei VW im Spannungsfeld von Globalisierung und Standortkonkurrenz Anfang des Jahrtausends dar; wie der Konzern mehr Wirtschaftlichkeit erreichte und wie dabei die Beschäftigungs- und Standortsicherung verlief. Haipeter rekapituliert die Arbeitszeitverkürzung ebenso wie die Tarifpolitik zB für den konzerninternen Arbeitskräfteüberlasser.

Das Buch widmet sich dann schwerpunktmäßig der Mitbestimmung ab Mitte der 2000er-Jahre: Der Beobachtungszeitraum wird eingeläutet durch eine Kostensenkungsphase und liegt nach dem Korruptionsskandal, der sowohl den Betriebsratsvorsitzenden als auch Personalverantwortliche zu Fall brachte. Haipeter verweist zur Aufarbeitung des Skandals auf Rainer Dombois‘Beitrag „Die VW-Affäre – Lehrstück zu den Risiken deutschen Co-Managements“ (in Industrielle Beziehungen, Jahrgang 16, 2009/H 3, 207-231). Dombois sieht neben individuellen Fehlleistungen auch strukturelle Ursachen. Haipeter vertritt hingegen die These, dass es sich um Integritätsprobleme Einzelner handelte. Er setzt an, wo er betriebsrätliche Strategien erblickt, um individuellen Machtmissbrauch fürderhin zur verhindern, zB durch eine beteiligungsorientiertere Interessenvertretung. Diese stuft er auch als eine der wesentlichen Entwicklungen hin zur strategischen Interessenvertretung ein.

Im Kapitel „Nach der Krise: Kostendruck und Neujustierung der Betriebsratsarbeit“ analysiert er, wie BR und Gewerkschaft ab 2004 ihre Ressourcen erfolgreich für die Beschäftigungs- und Standortsicherung eingesetzt haben. Man erfährt, wie eine fortschrittliche Tarifpolitik oder die Beteiligung der Belegschaft bei der Neugestaltung der Arbeitsorganisation erreicht wurden. Und wie der BR in Wolfsburg, wo auf ein Betriebsratsmitglied rund 1.000 Beschäftigte kommen, Kontakt mit der Belegschaft hält: Das dafür entwickelte Instrument „Betriebsrat im Dialog“ erwies sich als dienlich, als das Management eine Kostensenkung wegen nicht erreichter Renditeziele verlangte: Der BR konnte den Einsatz des Unternehmensberaters McKinsey abwehren und stattdessen durch Verbesserungsvorschläge der Belegschaft Personalabbau hintanhalten.

Ein weiteres Kapitel ist der stark ausgeprägten Aufsichtsratsmitbestimmung und deren Praxis gewidmet. Dank Haipeters Formulierungstalent sorgen die Abschnitte über das Lobbying rund um das VW-Gesetz sowie die drohende Übernahme durch Porsche für Hochspannung.

Im Kapitel „Wachstum, Reorganisation der Betriebsratsarbeit und neue Themenfelder“ wird ua die Mitbestimmungskaskade seziert, die sich von den Betriebsräten in den Werken, über die strategisch wesentlichen Ebenen des Gesamtbetriebsrats, der Mitbestimmung im Aufsichtsrat und des Konzernbetriebsrats bis hin zum Europäischen BR und Weltkonzernbetriebsrat erstreckt. Herausgearbeitet wird weiters der Umgang des BR mit dem Skandal um manipulierte Diesel-Abgaswerte und der E-Mobilität.

Das Kapitel über Interessenvertretung und den Strukturwandel der Belegschaft bietet generellere Anknüpfungspunkte. Wie vielerorts gibt es in der Belegschaft bei VW aufgrund technologischer Rationalisierung in der Produktion eine Verschiebung von den – traditionell gewerkschaftlich besser organisierten – ArbeiterInnen hin zu den Angestellten, flankiert von Arbeitskräfteüberlassung und Auslagerungen. Die Analyse, wie der VW-BR die unterschiedlichen Problemlagen und Interessen 404 von ArbeiterInnen und Angestellten im Betrieb integriert, ist durchaus auf andere Betriebe übertragbar. Die höchst erfolgreiche Organisierung der Belegschaft in einem Kontraktlogistik-Unternehmen, wo mit einem Schlag 70 % als Gewerkschaftsmitglieder gewonnen werden konnten und mit einem daraufhin abgeschlossenen Tarifvertrag sowohl das Entgelt erhöht als auch die Arbeitszeit verkürzt wurde, wird von Haipeter allerdings auch der besonderen Verhandlungsmacht des VW-BR zugeschrieben. Es wird nicht ausgespart, warum sich wiederum die Organisierung bei externen Entwicklungs- und IT-DienstleisterInnen mühsam gestaltet.

Im Kapitel „Transnationale Interessenvertretung bei VW“ werden deren bisher kaum erforschte Struktur sowie transnationale Vereinbarungen beschrieben. Es zeigt eindrucksvoll, wie transnationale Solidarität in Zeiten globaler Standortkonkurrenz in der Praxis funktionieren kann – auch als Mittel zur Beschäftigungssicherung. So konnte etwa durch geeintes Auftreten des Europäischen BR der Standort Brüssel erhalten werden. Erhellend sind auch kurze Einblicke in die Herausforderungen der außereuropäischen Standorte.

In der Zusammenfassung wird die Fallstudie über die zweifelsohne einzigartige Mitbestimmung bei VW auch in allgemeine Entwicklungen engagierter Mitbestimmung eingebettet.

Dem Autor ist ein äußerst lesenswertes Werk gelungen; er stellt beeindruckende Errungenschaften der Mitbestimmung bei VW dar und arbeitet dabei den Typus der strategischen Interessenvertretung klar heraus. Die Lektüre gestaltet sich für ein breites Publikum mit Interesse an Arbeitsbeziehungen sehr leichtfüßig. Insb wird es all jenen in der AN-Vertretung ans Herz gelegt, die sich nach der Decke strecken und – auch wenn sie bei weitem nicht über die Ressourcen des VW-BR verfügen – Einfluss auf die Unternehmensstrategie nehmen wollen.