BourazeriTarifautonomie und Wirtschaftskrise

Nomos Verlag, Baden-Baden 2019 537 Seiten, broschiert, € 139,–

MARTINRISAK (WIEN)

Ausgehend von der seit 2007 weltweit schwelenden Wirtschafts- und Finanzkrise kam es 2009 im Euroraum zu einer Abfolge unterschiedlicher Krisenphänomene, die vor allem Griechenland, Italien, Irland, Spanien sowie Portugal betrafen und die das gesamte Euro- Währungsgebiet zu destabilisieren drohte. Dem wurde kurzfristig durch die Gewährung von Garantierahmen für neue Kredite (den sogenannten Rettungsschirmen) der anderen Euro-Länder und des Internationalen Währungsfonds (IWF) gegengesteuert. Die Bedingungen für die Teilnahme waren in den sogenannten „Memoranda of Understanding“, die zwischen den Krisenländern und der Troika (der Europäischen Zentralbank, dem IWF und der Europäischen Kommission) abgeschlossen wurden. Diese beinhalteten ua tiefgreifende Reformen der Arbeitsrechtsordnungen, insb in Form des Abbaus kollektivvertraglich ausgestalteter Arbeits- und Sozialstandards. Gerade in Griechenland wurde die Regelungsbefugnis der Kollektivertragsparteien erheblich eingeschränkt und dezentralisiert, was zu einer Absenkung der Entgeltniveaus und damit zu einer Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führen sollte.

Das vorliegende Werk, das auf eine 2016 an der Freien Universität Berlin approbierte, mehrfach ausgezeichnete und danach noch offenbar gründlich überarbeitete Dissertation zurückgeht, untersucht in ihrem Kern, ob derart krisenbedingte Arbeitsmarktreformen an den Unionsgrundrechten, und zwar insb am Grundrecht auf Kollektivverhandlungen sowie Kollektivmaßnahmen, gem Art 28 GRC zu messen sind und nimmt eine derartige Prüfung vor. Sie beschäftigt sich somit an Hand dieses Beispiels mit einer der Grundfragen des kollektiven Arbeitsrechts, nämlich der Abgrenzung von staatlichen und kollektivvertraglichen Regelungsbefugnissen. Diese Frage ist nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern immer dann von Relevanz, wenn die Gesetzgebung in kollektivvertraglich geregelte Bereiche eingreift, wie zB durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes oder durch die Aufhebung bestehender kollektivvertraglicher Regelungen durch Gesetz. Letzteres erfolgte in Österreich 2019 durch § 33a Abs 28 ARG, wodurch – ohne eine Möglichkeit der Anpassung durch die Kollektivvertragsparteien – Kollektivertragsbestimmungen, die nur für AN bestimmter Religionen Sonderregelungen für den Karfreitag vorsehen, gesetzlich aufgehoben wurden, was insb auch im Hinblick auf Art 28 GRC überaus bedenklich erscheint.

Die Untersuchung ist in drei große Teile gegliedert, und zwar in einen ersten Teil, der sich mit der Gewährleistung der Tarifautonomie in Deutschland beschäftigt. Dieser ist mit der grundsätzlichen Themenstellung nicht unbedingt vorgegeben, wurden doch mit Deutschland keine Memoranda auf Understanding abgeschlossen – ganz im Gegenteil war Deutschland mit seinem damaligen Finanzminister Schäubleauf der Seite der Staaten, die drastische Maßnahmen gerade von Griechenland als Bedingung für weitere Kredite forderten. Nichtsdestotrotz ist dieser Teil gerade für ausländische LeserInnen von hohem Informationsgehalt und bietet einen kompakten Überblick über die Rechtslage zu diesem Themenbereich und vor allem auch Beispiele, wie insb betreffend die Frage gesetzlicher Entgeltbestimmungen. Grundsätzlich sind bei billigenswerter Zielsetzung derartige Eingriffe zulässig, soweit sie den TarifpartnerInnen hinreichende Freiräume zur Bestimmung der angemessenen Arbeits- und Entgeltbedingungen überlassen.

Der zweite Teil stellt dann die kriseninduzierten Beschränkungen der Kollektivvertragsautonomie durch Griechenland in den Jahren 2011 und 2012 dar. In kundiger Weise werden hier die Arbeitsrechtsreformen in diesem Zeitraum dargestellt, die vor allem eine Dezentralisierung der Kollektivvertragssysteme durch einen Vorrang von Firmenkollektivverträgen und der Einräumung von Kollektivvertragsfähigkeit auch an nichtgewerkschaftliche AN-Vereinigungen, die Befris tung von Kollektivverträgen und die Begrenzung von kollektivvertraglichen Entgelten in Form einer Absenkung der Mindestentgelte und des Verbotes der Entgelterhöhung durch dienstaltersbedingte Entgelterhöhungen beinhalten. Die Maßnahmen werden in diesem Kapitel auch nach deutschem Recht geprüft, dh ob sie, würde man sie in Deutschland so einführen, mit Art 9 Abs 3 des (deutschen) Grundgesetzes vereinbar wären. Das erscheint zwar auf den ersten Blick ein wenig gekünstelt, es macht 405 aber durchaus Sinn, da die Prüfung dazu führt, dass von Griechenland Maßnahmen gefordert wurden, die vor dem Hintergrund des deutschen Verfassungsrechts zumindest als problematisch zu bezeichnen wären.

Den Kern der Untersuchung stellt der dritte Teil dar, der den Schutz der Tarifautonomie in der EU behandelt und die Maßnahmen in Griechenland vor dessen Hintergrund prüft. Dabei wird in einem ersten Schritt vor allem auf Inhalte und Schranken des Art 28 GRC sehr umfassend eingegangen. Dabei haben die Ausführungen zT nicht unbedingt mit dem Kernthema zu tun, wie zB die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis des Kartellverbots und dem KollV. In einem nächsten Schritt wird dann die Anwendbarkeit der GRC auf die Memoranda of Understanding im Hinblick auf die daran beteiligten Unionsorgane geprüft und mit dem EuGH in der Rs Ledra Advertisingbejaht. In derselben E hat der EuGH jedoch die Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC bei der Umsetzung der Memoranda of Understanding verneint, was kritisiert wird. Zwar stellen diese keine verbindlichen Unionsrechtsakte dar, es besteht jedoch nach Ansicht von Konstatina Bourazeri eine „funktionale Verknüpfung“ zwischen den Memoranda und dem Unionsrecht, die eine Grundrechtsbindung bei deren Umsetzung rechtfertigt. Damit sind die von Griechenland in Umsetzung der Memoranda erfolgten Eingriffe in die Tarifautonomie an Art 28 GRC zu messen, wofür auch die EuGH-E in der Rs Florescu spreche. Sodann werden die einzelnen Maßnahmen einer Prüfung unterzogen, wobei die Autorin mit überzeugenden Argumenten bei allen Regelungsbereichen (Dezentralisierung des Kollektivvertragssystems, grundsätzliche Befristung von Kollektivverträgen und Entgeltabsenkung bzw -begrenzung) eine Grundrechtswidrigkeit annimmt, die sich nicht aus den Zielen, sondern aus der Angemessenheit der Eingriffe ergibt.

Die hier zu rezensierende, mit ihren knapp 500 Seiten doch sehr umfangreiche Publikation liest sich erstaunlich gut und bietet eine wirklich gute kritische Aufarbeitung der das griechische Kollektivvertragssystem betreffenden Maßnahmen zur Umsetzung der Memoranda of Understanding aus deutscher und europarechtlicher Perspektive. Daneben bietet sie auch einen ebenso kompakten wie detailreichen Einstieg in den Schutz der Koalitionsfreiheit nach deutschem und EU-Recht. Unter beiden Gesichtspunkten kann ihre Lektüre bestens empfohlen werden.