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Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld eines Grenzgängers

MARTINSONNTAG (WIEN)
Art 5, 67 und 68 VO (EG) 883/2004; Art 60 VO (EG) 987/2009; §§ 24, 24a KBGG
  1. Art 60 Abs 1 Satz 2 der VO (EG) 987/2009 ist dahin auszulegen, dass ein nachrangig zuständiger Mitgliedstaat (Österreich) einem Elternteil mit Wohnsitz und Beschäftigung in einem nach Art 68 Abs 1 Buchst b Ziff i der VO (EG) 883/2004 vorrangig zuständigen Mitgliedstaat (Deutschland) den Unterschiedsbetrag zwischen dem im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat geleisteten Elterngeld und dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld des anderen Mitgliedstaats als Familienleistung zu zahlen hat, wenn beide Eltern mit den gemeinsamen Kindern im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat wohnen und nur der andere Elternteil im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat als Grenzgänger beschäftigt ist.

  2. Art 68 der VO 883/2004 ist dahin auszulegen, dass die Höhe des Unterschiedsbetrags, der einem AN nach den Rechtsvorschriften eines gemäß dieser Bestimmung nachrangig zuständigen Mitgliedstaats zusteht, nach dem von diesem AN in seinem Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielten Einkommen zu bemessen ist.

[...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15 Das Ehepaar Moser wohnt mit seinen beiden Töchtern in Deutschland. Seit 1992 geht Herr Moser einer Erwerbstätigkeit in Deutschland nach, während Frau Moser seit dem 1.7.1996 in Österreich beschäftigt ist.

16 Nach der Geburt ihrer ersten Tochter am 14.6.2011 war Frau Moser bis 31.1.2013 in Karenz. Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter am 29.8.2013 vereinbarte sie mit ihrem österreichischen DG eine weitere Karenz bis 28.5.2015.

17 Ab dem Ende des Mutterschutzes bezog Frau Moser deutsches Elterngeld sowie deutsches Betreuungsgeld.

18 Darüber hinaus leistete die Tiroler Gebietskrankenkasse (TGKK) an Frau Moser für den Zeitraum vom 25.10.2013 bis 31.5.2014 eine Ausgleichszahlung zum österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld.

19 Aufgrund einer erfolgreichen Klage von Frau Moser vor dem LG Innsbruck auf Leistung einer zusätzlichen Ausgleichszahlung über den Zeitraum der gewährten ersten Ausgleichszahlung hinaus, dh für die Zeiträume vom 25.10.2013 bis zum 28.6.2014 sowie vom 29.8. bis zum 28.10.2014, bezahlte ihr die TGKK die begehrte Leistung aus.

20 Herr Moser war vom 29.6. bis 28.8.2014 in Elternzeit und bezog während dieses Zeitraums deutsches Elterngeld.

21 Auch er erhob Klage beim LG Innsbruck auf Leistung einer zusätzlichen Ausgleichszahlung für ihn in Form des Differenzbetrags zwischen dem bezogenen deutschen Elterngeld und dem österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 66 € täglich für den Zeitraum seiner Elternzeit vom 29.6. bis zum 28.8.2014.

22 Mit Urteil vom 10.11.2015 wies dieses Gericht seine Klage ab.

23 Das OLG Innsbruck gab der vom Kl eingelegten Berufung mit Urteil vom 27.4.2017 teilweise statt und verpflichtete die TGKK zur Leistung einer Ausgleichszahlung von 29,86 € täglich, sohin insgesamt 1.821,46 €.

24 Die Krankenkasse erhob gegen diese Entscheidung Revision an den österreichischen OGH. [...]

Zur ersten Frage

32 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art 60 Abs 1 Satz 2 VO (EG) 987/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Vorschrift für die Bestimmung des Umfangs des Anspruchs einer Person auf Familienleistungen vorgesehene Verpflichtung zur Berücksichtigung „der gesamten Familie in einer Weise ..., als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen“, sowohl für den Fall gilt, dass die Leistungen nach den gem Art 68 Abs 1 Buchst b Ziff i VO (EG) 883/2004 als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt werden, als auch für jenen Fall, dass die Leistungen nach einer oder mehreren anderen Rechtsvorschriften geschuldet werden.

33 Gem Art 60 Abs 1 VO (EG) 987/2009 werden die Familienleistungen bei dem zuständigen Träger beantragt und ist bei der Anwendung von den Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004, insb was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.

34 Wie bereits aus dem Wortlaut dieses Art 60 folgt, sind dessen Bedeutung und Tragweite aufgrund des dortigen Verweises auf die Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 anhand der Bestimmungen dieser Vorschriften zu ermitteln.

35 Art 67 VO (EG) 883/2004 legt den Grundsatz fest, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen (Urteil vom 22.10.2015, Trapkowski, C-378/14, EU:C:2015:720, Rn 35). [...]

38 In diesem Fall kann sich der Ehegatte des AN ebenfalls auf diesen Artikel berufen (Urteil vom 7.11.2002, Maaheimo, C-333/00, EU:C:2002:641, Rn 33), und zwar gemäß der Fiktion des Art 67 VO 324 (EG) 883/2004, wonach die gesamte Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. 39 Wenn die Gewährung einer Familienleistung von der Voraussetzung, dass der Betroffene eine Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaats ausgeübt hat, abhängt – wie im Ausgangsverfahren von der Voraussetzung nach § 24 Abs 1 Z 2 KBGG –, der den Bezug der Leistung an die Erfüllung von Versicherungszeiten in Österreich knüpft, so ist diese Voraussetzung als erfüllt anzusehen, wenn der Betroffene im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats erwerbstätig war. [...]

41 Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so kommt gem Art 68 Abs 1 Buchst b VO (EG) 883/2004 für durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöste Ansprüche den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats des Wohnorts der Kinder Priorität zu. Abs 2 dieses Artikels sieht vor, dass die Familienleistungen bei Zusammentreffen von Ansprüchen nach den Rechtsvorschriften gewährt werden, die nach Abs 1 Vorrang haben, wobei Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen Rechtsvorschriften bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt werden; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinaus gehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. [...]

43 Im Ausgangsverfahren wurde nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die Bundesrepublik Deutschland gemäß der in Rn 41 des vorliegenden Urteils dargestellten Prioritätsregel als Mitgliedstaat bestimmt, dessen Rechtsvorschriften vorrangig sind, sodass nach anderen Rechtsvorschriften, nämlich jenen der Republik Österreich, zustehende Familienleistungen ausgesetzt und gegebenenfalls in Form des Unterschiedsbetrags gewährt werden. [...]

45 Da der Ausdruck „Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats“ in Art 60 VO (EG) 987/2009 keine Beschränkung hinsichtlich des jeweiligen Mitgliedstaats enthält, ist dieser Artikel dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird, Anwendung findet. 46 Ein anderes Verständnis von Art 60 VO (EG) 987/2009, die die Anwendung der Fiktion auf allein den Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften vorrangig anwendbar sind, beschränkte, liefe nicht nur dem Grundsatz der Gleichstellung nach Art 67 VO (EG) 883/2004 zuwider, dessen Durchführung Art 60 Abs 1 VO (EG) 987/2009 gewährleisten soll, sondern auch den Antikumulierungsvorschriften des Art 68 VO (EG) 883/2004, da die genannte Auslegung dem Empfänger der von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten Leistungen einen Gesamtbetrag garantieren soll, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht.

47 In diesem Zusammenhang ist hinzuzufügen, dass die Anwendung von Art 60 VO (EG) 987/2009 sowie die Leistung des daraus folgenden Unterschiedsbetrags kein grenzüberschreitendes Element beim betreffenden Bezieher erfordern. [...]

Zur zweiten Frage

49 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art 68 VO (EG) 883/2004 dahin auszulegen ist, dass die Höhe des Unterschiedsbetrags nach dem im Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielten Einkommen oder nach einem im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat aus einer vergleichbaren Erwerbstätigkeit erzielten Einkommen zu bemessen ist. [...]

51 Der vorliegende Fall unterscheidet sich insofern von dem, der dem Urteil vom 15.12.2011, Bergström (C-257/10, EU:C:2011:839), zugrunde lag, als die in diesem Urteil vorgenommene Auslegung iSd Berechnung der Höhe einer Elterngeldleistung auf der Grundlage eines Referenzeinkommens ohne Zusammenhang mit dem tatsächlich erzielten Einkommen nicht auf die im Ausgangsverfahren gegenständliche Konstellation übertragbar ist, in der Herr Moser eine Familienleistung nach den Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 beanspruchen kann.

52 Gemäß der in Rn 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rsp soll dieser Art 68 nämlich dem Empfänger einen Gesamtbetrag an Leistungen verschiedener Mitgliedstaaten garantieren, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht.

53 Unter diesen Umständen steht – abgesehen von etwaigen praktischen Schwierigkeiten für die für die Berechnung der Leistungen zuständigen Träger in Bezug auf die Referenzeinkommen der Betroffenen – die Auslegung iS einer Bemessung der Höhe des Unterschiedsbetrags anhand des im Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielten Einkommens im Einklang mit dem Ziel, das sowohl die gegenständlichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften als auch die unionsrechtlichen Bestimmungen im Bereich der sozialen Sicherheit der Wander-AN verfolgen.

54 Wie nämlich aus Rn 10 des vorliegenden Urteils hervorgeht, stellt das österreichische einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld eine Ersatzleistung für das Erwerbseinkommen dar, wodurch es dem Erwerbstätigen ermöglicht wird, eine Leistung zu beziehen, deren Höhe vom Betrag des zum Zeitpunkt ihrer Zuerkennung erzielten Einkommens abhängt. Folglich sind zur Erreichung dieses Ziels die Einkommensverhältnisse im Beschäftigungsstaat zu beurteilen, zumal das Einkommen im Rahmen grenzüberschreitender Konstellationen regelmäßig im Beschäftigungsstaat des AN höher sein wird. [...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Die E des EuGH erging aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des OGH zu 10 ObS 74/17f = ARD 6586/14/2018.

Die Koordinierung von Familienleistungen insb von GrenzgängerInnen beschäftigte den EuGH 325 bereits vielfach, wobei die Vorlagen immer wieder auch von österreichischen Gerichten stammten: Im Urteil vom 7.6.2005, C-543/03 in der Rs Dodl und Oberhollenzer (ECLI:EU:C:2005:364 = ZAS-Judikatur 2005/154 = ASoK 2005, 301 = RdW 2005/648 = ARD 5599/7/2005 = ZER 2006/212 = wbl 2005/242) befasste sich der EuGH noch zur früheren KoordinierungsVO (EWG) 1408/71 mit der Frage der AN-Eigenschaft von Karenzurlauberinnen und den Prioritätsregeln bei Beschäftigung der Eltern in verschiedenen Mitgliedstaaten. In seiner E vom 21.2.2008, C-507/06 in der Rs Klöppel (ECLI:EU:C:2008:110 = iFamZ 2008/98 = DRdA 2008, 270) sprach er – ebenfalls noch zur VorgängerVO – aus, dass für eine Verlängerung des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld aufgrund von Bezugszeiten des Partners auch Bezugszeiten des Partners nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaates zu berücksichtigen seien. Das Urteil vom 10.3.2011, C-516/09 in der Rs Borger (ECLI:EU:C:2011:136) stellte klar, dass auch eine freiwillige Karenzierung über das Ausmaß des § 15 MSchG hinaus die AN-Eigenschaft nach der VO (EWG) 1408/71 erhielt.

Die Besonderheit der vorliegenden Konstellation ist, dass nicht nur – wie etwa in der Rs Dodl und Oberhollenzer – die im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat (Österreich) beschäftigte Mutter den Unterschiedsbetrag zur deutschen Familienleistung begehrte (und auch erhielt), sondern auch der im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat (Deutschland) beschäftigte Vater.

Der EuGH teilte bei der Beantwortung der ersten Frage zur Anwendung der Familienbetrachtungsweise nicht die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts. Die Antwort auf die zweite Frage fiel abweichend zu den Schlussanträgen des Generalanwalts aus.

2.
Anwendung der Familienbetrachtungsweise
2.1.
Vorjudikatur

Der EuGH hielt erstmals in seinem Urteil vom 10.10.1996, C-245/94 und C-312/94 in der Rs Hoever und Zachow (ECLI:EU:C:1996:379 =

infas 1997 E 5
= wbl 1996, 492 = ZASB 1997, 8) zur VO (EWG) 1408/71 – die noch keine Regelung dieser Frage enthielt – fest, die Frage, ob Familienleistungen einem einzelnen zustehen, könne schon von ihrer Natur her nicht losgelöst von dessen familiärer Situation betrachtet werden. Wenn nämlich die Gewährung einer Beihilfe dem Ausgleich von Familienlasten diene, sei es ohne Bedeutung, welcher Elternteil sie in Anspruch nehmen wolle. Diese Linie wurde ua in der Rs Dodl und Oberhollenzer fortgesetzt (Rn 59). Für die Anwendung der Antikumulierungsbestimmungen kommt es daher nicht darauf an, ob es sich bei dem Leistungsberechtigten um einen Familienangehörigen des AN oder den AN selbst handelt, weil die gesamte familiäre Situation unter Heranziehung beider Elternteile zu berücksichtigen ist. Diese Familienbetrachtungsweise führt dazu, dass es irrelevant ist, welcher Elternteil in welchem Staat die Familienleistungen beansprucht. Eine Individualbetrachtung nur des Elternteils, der die Familienleistungen beanspruchen möchte (zB Abstellen auf den betreuenden Elternteil bei Erziehungsleistungen), hat bei verheirateten oder in Lebensgemeinschaft lebenden Eltern nicht zu erfolgen (OGH10 ObS 27/08f = ARD 5955/5/2009 = SSV-NF 22/65 = DRdA 2010/24 [Spiegel]).

Die DurchführungsVO (EG) 987/2009 zur aktuell gültigen VO (EG) 883/2004 hat diese Rsp in Art 60 Abs 1 übernommen.

In der Rs Trapkowski (EuGH 22.10.2015, C-378/14, ECLI:EU:C:2015:720) legte der Gerichtshof Art 60 Abs 1 Satz 2 der VO (EG) 987/2009 dahin aus, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist (Rn 41). Mit Verweis auf die Rs Hoever und Zachow hielt der Gerichtshof fest, dass es, sofern alle Voraussetzungen für die Gewährung von Familienleistungen für ein Kind erfüllt sind und diese Leistungen tatsächlich gewährt werden, ohne Bedeutung ist, welcher Elternteil nach nationalem Recht als diejenige Person gilt, die den Anspruch auf diese Leistungen hat (Rn 49).

2.2.
Literatur

Diese Betrachtungsweise kommt am ehesten den Interessen der Betroffenen entgegen. Dadurch, dass immer ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dem der nicht erziehende Elternteil erwerbstätig ist, und ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften des Wohnortstaates oder des Staates, in dem der erziehende Elternteil wohnt und/oder erwerbstätig ist (einschließlich eines Karenzurlaubs) nebeneinander bestehen, wobei der höhere Anspruch im Wege eines Differenzbetrages garantiert ist, können keine Ansprüche verloren gehen (Spiegel, Kindererziehung in einem anderen Mitgliedstaat – Aktuelle EG-rechtliche Fragen, in FS Bauer/Maier/Petrag [2004] 363 [378]).

Auch der nicht erziehende Elternteil kann nach den Rechtsvorschriften, die für ihn gelten, Erziehungsleistungen für den den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterliegenden erziehenden Elternteil ableiten, egal, wer nach nationalem Recht antragsberechtigt ist (Spiegel, DRdA 2010/24).

Es ist die gesamte Situation der Familie vom zuständigen Träger zu berücksichtigen, auch wenn gewisse Sachverhaltselemente (zB Wohnsitz oder Beschäftigungsort) in einem anderen Mitgliedstaat liegen oder dort eingetreten sind (zB Erwerbseinkommen). Die Familienbetrachtungsweise stellt somit im Ergebnis eine spezielle Ausformung der Sachverhaltsgleichstellung iSd Art 5 der VO (EG) 883/2004 dar (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches SV-Recht, Art 60 VO 987/2009 Rz 1).

2.3.
Würdigung

Der OGH wies in seinem Vorlagebeschluss darauf hin, dass Herr Moser in Deutschland Elterngeld 326 erhalten habe und die Freizügigkeit der Eltern durch die Ablehnung von Ausgleichszahlungen auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld an den Vater nicht gefährdet oder eingeschränkt worden sei. Im Unterschied zu den Rs Trapkowski, Hoever und Zachow und Dodl und Oberhollenzer gehe es hier nicht um das pauschale, sondern das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld.

Demgegenüber argumentierte der EuGH einerseits mit dem Wortlaut des Art 60 der VO (EG) 987/2009 (Rn 45) und andererseits mit dem Grundsatz der Gleichstellung nach Art 67 und dem Zweck des Art 68 der VO (EG) 883/2004, der einen Gesamtbetrag garantieren solle, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung sei, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zustehe.

Letztlich stellt dieses Ergebnis eine konsequente Umsetzung einer allumfassend verstandenen Familienbetrachtungsweise dar, die eine Differenzierung danach, welcher Elternteil die Ausgleichszahlung in Anspruch nimmt, nicht zulässt. Auf die Ausgestaltung der Leistung (pauschal oder einkommensabhängig) stellen die zitierten Regelungen nicht ab.

3.
Bemessung des Unterschiedsbetrages
3.1.
Österreichische Rechtslage

Gem § 24a Abs 1 Z 3 KBGG beträgt das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für einen Vater 80 % des auf den Kalendertag entfallenden fiktiv zu berechnenden Wochengeldes, welches anlässlich der Geburt einer Frau an seiner Stelle gebühren würde.

3.2.
Vorjudikatur

Im Urteil des EuGH vom 15.12.2011, C-257/10 (ECLI:EU:C:2011:839 = ZAS-Judikatur 2012/50 = infas 2012 E 4) in der Rs Bergström war das Problem zu lösen, dass die die Familienleistung in Schweden beantragende Mutter vor der Geburt in der Schweiz beschäftigt war. Das schwedische Elterngeld war wie das Krankengeld zu berechnen. Der EuGH verwies auf Art 23 der VO (EWG) 1408/71 über die Berechnung von Geldleistungen bei Krankheit (Rn 48 f) und kam zu dem Schluss, das krankengeldwirksame Einkommen von Frau Bergström müsse unter Berücksichtigung des Einkommens einer Person berechnet werden, die in Schweden eine Tätigkeit ausübe und über eine berufliche Erfahrung und Qualifikationen verfüge, die mit denen von Frau Bergström vergleichbar seien (Rn 52).

3.3.
Literatur

Ob die Ausführungen des EuGH in der Rs Bergström auch auf die Rechtslage nach der VO (EG) 883/2004 übertragbar sind, wurde in der Lehre kontrovers beurteilt: Felten (aaO, Art 68 VO 883/2004 Rz 11) sah das Ergebnis der Vorentscheidung in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Sachverhaltsgleichstellung gem Art 5 VO (EG) 883/2004. Ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage erscheine die Bezugnahme auf einen fiktiven inländischen Verdienst unionsrechtlich problematisch. Andererseits habe der EuGH sein Ergebnis in erster Linie mit dem Argument der Gleichbehandlung begründet, das auch auf die VO (EG) 883/2004 übertragbar wäre (aaO, Art 60 VO 987/2009 Rz 3). Ich hielt die Heranziehung des tatsächlichen Einkommens im anderen Mitgliedstaat (vorsichtig) für die zutreffendere Lösung (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG2 § 24a Rz 23 unter Hinweis auf meine Ausführungen zur Berechnung des Rehabilitationsgeldes in einer solchen Konstellation in Sonntag, Vorübergehende Invalidität nach dem SRÄG 2012, Rz 63). Rief trat – mit ausführlicher Behandlung der steuerrechtlichen Aspekte – für eine Heranziehung des realen Nettoeinkommens im anderen Mitgliedstaat ein (DRdA 2016/29).

3.4.
Auffassung des Generalanwalts

GA Hogan vertrat in seinen Schlussanträgen in der Rs Moser die Auffassung (Rn 51), es sei auf einen fiktiven Verdienst von Herrn Moser in Österreich abzustellen und begründete dies damit, diese Auslegung wahre das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit des betroffenen Mitgliedstaats, da höhere Einkommen in anderen Mitgliedstaaten außer Betracht blieben. Er wies allerdings selbst in FN 14 darauf hin, dass keine Gefahr einer ernsthaften Schwächung des finanziellen Gleichgewichts des österreichischen Systems der sozialen Sicherheit bestehe, da die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes einer gesetzlichen Obergrenze unterliege (vgl § 24a Abs 2 KBGG)

3.5.
Würdigung

Die Lösung des EuGH ist nicht nur aus Praktikabilitätsgründen der Auffassung des GA vorzuziehen. Der Heranziehung eines Referenzeinkommens hätte es schlicht an einer Rechtsgrundlage in der VO (EG) 883/2004 gefehlt. Letztlich fügt sich das Urteil nahtlos in die Rsp des EuGH zu Art 5 VO (EG) 883/2004 ein (vgl zB C-523/13 vom 18.12.2014 in der Rs Larcher, ECLI:EU:C:2014:2458 = DRdAinfas 2015/94 = ZAS-Judikatur 2015/42, betreffend Berücksichtigung von Zeiten der Altersteilzeit in einem anderen Mitgliedstaat). Haushaltserwägungen beeindrucken den EuGH idR nicht (vgl nur das Urteil vom 23.5.2000 in der Rs Buchner, C-104/98, ECLI:EU:C:2000:276 = infas 2000 E 1 = ZER 2000/104 = ARD 5125/7/2000 = wbl 2000/193).

3.6.
Fortgang des Verfahrens

Nach der E des EuGH setzte der OGH das unterbrochene Revisionsverfahren fort und gab der außerordentlichen Revision der TGKK nicht Folge (OGH 15.10.2019, 10 ObS 137/19y). Der Berechnung der Ausgleichszahlung legte der OGH das Nettoeinkommen von Herrn Moserin Deutschland in den Monaten Mai bis Juli 2013 zugrunde. 327