135Keine Entgeltsicherung bei missbräuchlicher Geltendmachung
Keine Entgeltsicherung bei missbräuchlicher Geltendmachung
Der Kl war mit einem Gesellschafter der insolventen Gesellschaft seit Jahren bekannt und wurde von diesem als gewerberechtlicher Geschäftsführer eingestellt. Gleichzeitig erhielt er vom handelsrechtlichen Geschäftsführer – der offenbar nur vorgeschoben war – eine umfassende Vollmacht ausgestellt, mit der er wie ein handelsrechtlicher Geschäftsführer agieren konnte. Er begann seine Tätigkeit am 1.4.2015. Er stellte Personal ein, vereinbarte mit den Mitarbeitern die Höhe des Lohns, sprach Kündigungen und Entlassungen aus und verhandelte Verträge. Er war selbst auf der Baustelle tätig, verrichtete Malerarbeiten, beaufsichtigte die Mitarbeiter, teilte Dienste ein und kümmerte sich um das Werkzeug und Baumaterial. Den anderen Mitarbeitern der Schuldnerin gegenüber trat er als Chef und Geschäftsführer auf. Der Kl erhielt weder einen schriftlichen Dienstvertrag noch einen Dienstzettel. Als der Kl sein erstes Gehalt nicht wie alle anderen AN ausbezahlt erhielt, zeigte er Verständnis für die schwierige finanzielle Situation der Schuldnerin und unternahm weder Schritte zur Einbringlichmachung des Gehalts noch zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Am 9.6.2015 teilte der Kl dem Gesellschafter telefonisch mit, dass er krank sei und nun endlich sein Geld brauche. Das Gespräch mündete in einen Streit anlässlich dessen der Gesellschafter dem Kl mitteilte, dass er ihn nicht mehr brauche und noch am selben Tag abmelden werde. Der Kl wurde daraufhin mit 9.6.2015 von der Krankenkasse abgemeldet. Mit Schreiben vom 29.9.2015 forderte der Kl erstmals schriftlich sein ausständiges Gehalt samt Sonderzahlungen, Urlaubsersatzleistung und Kündigungsentschädigung. Mit Schreiben der Arbeiterkammer vom 28.10.2015 forderte er erneut die Zahlung und erwirkte in weiterer Folge einen bedingten Zahlungsbefehl, der mangels Einspruchs in Rechtskraft erwuchs. Über das Vermögen der Schuldnerin wurde am 28.2.2017 das Insolvenzverfahren eröffnet. Das Finanzamt stellte mit Bescheid vom 3.5.2017 fest, dass die Schuldnerin als Scheinunternehmen gem § 8 Sozialbetrugsbekämpfungsgesetz gelte. In der Begründung des Bescheides wurde ausgeführt, dass dies jedenfalls ab 1.4.2015 (Zeitpunkt der Anmeldung der ersten AN) gelte. Mit Bescheid vom 27.3.2018 lehnte die Bekl den Antrag des Kl auf Insolvenz-Entgelt ab. Bei diesem Antrag handelte es sich um den vierten Antrag des Kl. 334
Der Kl war mit dem System der Entgeltsicherung durch den Insolvenz-Entgeltfonds somit bereits hinreichend vertraut.
Die Vorinstanzen wiesen die gegen den abweisenden Bescheid der IEF-Service GmbH gerichtete Klage ab.
Gem § 3a Abs 1 IESG gebührt Insolvenz-Entgelt für das dem AN gebührende Entgelt einschließlich der gebührenden Sonderzahlungen, das in den letzten sechs Monaten vor dem Stichtag (§ 3 Abs 1) oder, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem Stichtag geendet hat, in den letzten sechs Monaten vor dessen arbeitsrechtlichem Ende fällig geworden ist. Gem § 1 Abs 2 IESG sind Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis dann gesichert, wenn sie aufrecht, nicht verjährt und nicht ausgeschlossenen sind.
Eine atypische Vertragsgestaltung kann jedoch nach ständiger Judikatur des OGH die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt sittenwidrig machen. Zweck des IESG ist eine sozialversicherungsrechtliche Sicherung von Entgeltansprüchen und sonstigen aus dem Arbeitsverhältnis erwachsenden Ansprüchen von AN im Falle der Insolvenz ihres AG. Versichertes Risiko ist demnach im Kernbereich die von den AN typischerweise nicht selbst abwendbare und absicherbare Gefahr des gänzlichen oder teilweisen Verlusts ihrer Entgeltansprüche, auf die sie typischerweise zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts sowie des Lebensunterhalts ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen angewiesen sind (RS0076409; jüngst OGH 20.12.2017, 8 ObS 12/17y; OGH 24.4.2020, 8 ObS 2/20g). Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, durch die das Risiko im Insolvenzfall missbräuchlich auf den Insolvenz-Entgeltfonds überwälzt bzw durch die eine sonst nicht bestehende Verpflichtung des Insolvenz-Entgeltfonds begründet werden soll, sind diesem gegenüber gem § 879 Abs 1 ABGB nichtig (OGH 27.6.2019, 8 ObS 7/19s mwH).
Nach der stRsp des OGH liegt jedoch erst dann eine missbräuchliche Geltendmachung von Insolvenz- Entgelt vor, wenn im Einzelfall zum Stehenlassen des Entgelts noch weitere Umstände hinzutreten, die konkret auf den Vorsatz des AN schließen lassen, das Finanzierungsrisiko zu überwälzen. Ergibt sich aus dem hier anzustellenden Fremdvergleich der Schluss, dass zumindest der bedingte Vorsatz einer Überwälzung des Finanzierungsrisikos anzunehmen ist, so kann dieser nicht durch einen Beweis über die konkreten Absichten des AN widerlegt werden.
Dies gilt auch bei Lohnrückständen, die die in § 3a Abs 1 IESG enthaltene Limitierung mit sechs Monaten unterschreiten (vgl RS0112283). Aus der Sicht des OGH ist bei einer besonderen Nahebeziehung zum AG das Wissen um die finanzielle Situation des Betriebs regelmäßig größer, weshalb auch schon bei kürzeren Entgeltrückständen beim Verbleiben im Betrieb zumindest der bedingte Vorsatz, das Entgelt nicht vom AG, sondern vom Insolvenz-Entgeltfonds zu erhalten, angenommen werden kann.
Im Anlassfall war der Kl mit dem faktischen Geschäftsführer – dem Minderheitsgesellschafter – bereits seit langem bekannt. Er fungierte nicht nur als gewerberechtlicher Geschäftsführer, sondern wirkte aufgrund der ihm erteilten Vollmacht de facto wie ein handelsrechtlicher Geschäftsführer, sodass er einen entsprechend weitgehenden Einblick in die Geschäfte der Schuldnerin hatte. Die schlechte finanzielle Lage der Schuldnerin war ihm jedenfalls bekannt. Dessen ungeachtet und obgleich bereits sein erster Monatslohn nicht bezahlt wurde, bestand er nicht auf die Bezahlung, sondern zeigte vielmehr „Verständnis“ für die prekäre Situation der Schuldnerin. Dies allerdings insb auch deshalb, weil er sich nach den ausdrücklichen Feststellungen der Vorinstanzen in Kenntnis der (grundsätzlichen) Absicherung seiner Ansprüche durch die Bekl befand und somit billigend in Kauf nahm, dass letztlich ohnehin die Bekl für seine Ansprüche aufkommen werde.
Nach Ansicht des OGH war die Beurteilung der Vorinstanzen folglich nicht zu korrigieren. Die außerordentliche Revision des Kl wurde daher zurückgewiesen.