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Keine Invalidität, wenn keine gravierende Lohneinbuße

ALEXANDERDE BRITO

Die Verweisung eines Hausbesorgers, der schon bisher Reinigungstätigkeiten als wesentliche Teiltätigkeiten ausgeübt hat, auf Reinigungstätigkeiten in Krankenhäusern und Handelszentren ist zumutbar.

SACHVERHALT

Der am 29.3.1958 geborene Kl war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 161 Kalendermonate als Hausbesorger einer Wohnungseigentümergemeinschaft in einer Wohnhausanlage tätig. Das Dienstverhältnis unterlag dem Hausbesorgergesetz, BGBl 1970/16 (HbG). Die Wohnhausanlage besteht aus 117 Wohnungen mit 12 Stiegenhäusern inklusive Laubengängen, ein Haus war mit Lift ausgestattet. Zur Siedlung gehören sieben Reihenhäuser, 175 TiefgaragenParkplätze und 58 Außenparkplätze samt Zufahrten und Gehwegen, die zum Teil mit Pflastersteinen belegt sind.

Der Kl hatte eine 40-Stunden-Woche ohne Überstunden, Sonn- und Feiertagsdiensten oder Nachtarbeit.

Der Kl hatte neben der Kontrolle der Beleuchtung, der Betreuung der Grünanlagen und Winterdienstarbeiten, wie Schneeräumung und Streuung, die gemeinschaftlichen Teile der Wohnhausanlage zu kehren und reinigen. Sowohl inhaltlich als auch zeitlich war die Haupttätigkeit des Kl die Reinigung der gemeinschaftlichen Außen und Innenanlagen.

Der Kl verdiente zuletzt monatlich € 4.813,35 brutto. Die Lohnabrechnungen setzen sich jeweils aus den Positionen Reinigungsentgelt, Gehsteig, Aufzug, Materialkosten, Strompauschale, Waschmaschine, Rasenmähen, Reinigen, Tiefgarage, asphaltierte Flächen mit Schneeräumung, Mülltonnenpauschale, Spielplatz, Betreuungsarbeiten und Barbezug Hausbesorgerwohnung zusammen. 353

Der monatlich tatsächlich erzielte Durchschnittsverdienst von Hausbesorgern liegt – basierend auf einer Zusammenschau kollektivvertraglicher Ansätze für Hausbesorgerleistungen – bei einer 40-Stunden-Woche bei € 1.940,-. Der monatliche Durchschnittsverdienst von Hausbesorgern, deren Dienstverhältnis dem Hausbesorgergesetz unterliegt, beträgt € 1.880,- brutto.

Der Kl ist aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr in der Lage, seine bisherige Tätigkeit als Hausbesorger zu verrichten.

Der Kl kann aber noch als Reinigungskraft, insb mit Reinigungswagen, in Krankenhäusern und Handelszentren arbeiten. Für diese Verweisungstätigkeiten gibt es bundesweit zumindest über 100 offene oder besetzte Arbeitsplätze. Als Reinigungskraft in Büros, Handelsbetrieben oder in einer Krankenanstalt ist der Kl mit der Reinigung von Allgemeinflächen (Räume, Gänge, Stiegenhäuser) betraut. Zur Reinigung der Flächen werden Arbeitsgeräte, wie Besen, Wischer etc, eingesetzt. Hinsichtlich der Arbeitszeit und der Qualität der Arbeitsleistung ist bei einer Reinigungskraft in der „Sicht oder Unterhaltsreinigung“ eine höhere Kontrolldichte gegeben, als bei der bisherigen Tätigkeit des Kl als Hausbesorger, in der der Kl dennoch einer „gewissen Kontrolle“ durch die Eigentümergemeinschaft unterlag.

Der monatliche Durchschnittsverdienst einer Reinigungskraft in der „Sicht und Unterhaltsreinigung“ mit mehrjähriger Praxis beträgt bei einer 40-Stunden-Woche € 1.800,- brutto.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid lehnte die Bekl die Gewährung einer Invaliditätspension mangels Vorliegens von Invalidität ab.

Der Kl begehrte die Zuerkennung einer Invaliditätspension. Invalidität liege gem § 255 Abs 4 ASVG vor. Den Beruf des Hausbesorgers könne er nicht mehr ausüben. Eine Verweisung auf die Tätigkeit als Reinigungskraft in Krankenhäusern und Handelszentren sei infolge der dabei in Kauf zu nehmenden gravierenden Lohneinbuße und des gänzlich verschiedenen arbeitskulturellen Umfelds nicht zumutbar.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es bejahte die Zulässigkeit der Verweisung auf den Beruf einer Reinigungskraft in Krankenhäusern oder Handelszentren. Zirka 70 % der Tätigkeit als Hausbesorger entfielen auf Reinigungsarbeiten. Für diese Teiltätigkeit des bisher ausgeübten Berufs gebe es einen Arbeitsmarkt und ein Arbeitsumfeld, das dem bisherigen ähnlich sei, sodass der Kl im Rahmen des § 255 Abs 4 ASVG auf die Tätigkeit als Reinigungskraft verwiesen werden könne. Ausgehend vom Durchschnittsverdienst von Hausbesorgern bei einer 40-Stunden-Woche in Höhe von € 1.940,- und dem Durchschnittsverdienst einer Reinigungskraft von € 1.800,- liege keine gravierende Lohneinbuße vor. Auf den bisher individuell erzielten Verdienst, der der Größe der Wohnhausanlage und der Anwendbarkeit des Hausbesorgergesetzes geschuldet sei, sei aufgrund der abstrakten Prüfung nicht abzustellen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge.

Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, welches Einkommen der Ermittlung der mit der Verweisungstätigkeit verbundenen Lohneinbuße zugrunde zu legen sei, wenn das vom Versicherten bisher bezogene Einkommen aufgrund einer Änderung der Grundlagen in Gesetz und kollektiver Rechtsgestaltung nicht mehr erzielbar sei, Rsp des OGH fehle.

Gegen dieses Urteil richtete sich die Revision des Kl. Die Revision ist entgegen dem den OGH nicht bindenden Zulassungsausspruch unzulässig.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

1.1 Als invalid gilt gemäß § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG auch der (die) Versicherte, der (die) das 60. Lebensjahr vollendet hat, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er (sie) in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen.
1.2 Der Kläger ist nach den Verfahrensergebnissen nicht mehr in der Lage, seine bisherige Tätigkeit als Hausbesorger weiterhin auszuüben.

2. Gemäß § 255 Abs 4 Satz 2 ASVG sind „zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit“ zu berücksichtigen. Zutreffend hat das Berufungsgericht die Rechtsprechung beachtet, wonach eine Verweisung (bzw Änderung der Tätigkeit) dann als zumutbar angesehen wird, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine Teiltätigkeit ausgeübt wurde, keine gravierende Lohneinbuße damit verbunden ist und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist. […] Der Begriff der zumutbaren Änderung iSd § 255 Abs 4 Satz 2 ASVG ist nach der Rechtsprechung eng zu interpretieren. […] Die Frage, ob eine „zumutbare Änderung“ der Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 Satz 2 ASVG vorliegt, kann nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls geprüft werden und ist daher grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO. […]

3. Aufgrund der für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen hat der Kläger in der überwiegenden Arbeitszeit seiner Tätigkeit als Hausbesorger Reinigungstätigkeiten durchgeführt. […] 354

4.1 Zutreffend sind die Vorinstanzen bei der Beurteilung der Frage, ob der Kläger eine gravierende Lohneinbuße hinnehmen muss, nicht von seinem zuletzt erzielten Verdienst als Hausbesorger ausgegangen. Beim Tätigkeitsschutz des § 255 Abs 4 ASVG handelt es sich nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine – besondere – Form des Berufsschutzes. […] Die Bestimmung stellt daher nicht auf die Anforderungen an einen bestimmten Arbeitsplatz (etwa jenen, den der Kläger zuletzt innehatte) ab, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt. […] Es kommt schon daher nicht auf die konkrete Arbeit des Klägers als Hausbesorger einer größeren Wohnhausanlage und daher auch nicht auf die damit – infolge der Anwendbarkeit des Hausbesorgergesetzes – verbundene höhere Entlohnung des Klägers an, sondern auf die von ihm in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag 1.4.2018 mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübte „abstrakte Tätigkeit“ des Hausbesorgers mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt. [ …]
4.2 Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass ausgehend von einem Durchschnittsverdienst für Hausbesorger von monatlich 1.940 EUR brutto nach kollektivvertraglichen Ansätzen keine gravierende Lohneinbuße anzunehmen ist, wenn in der Verweisungstätigkeit als Reinigungskraft in Krankenhäusern oder Handelszentren bei einer 40StundenWoche monatlich 1.800 EUR brutto im Durchschnitt verdient werden können, wird in der Revision nicht in Frage gestellt. […]

5.1 Bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Änderung der Tätigkeit kommt dem auch vom Revisionswerber ins Treffen geführten „arbeitskulturellen Umfeld“ besondere Bedeutung zu. Darunter ist nach der Rechtsprechung etwa das technische Umfeld, die Kontakte mit Mitarbeitern und Kunden und die räumliche Situation – etwa ob Arbeiten im Freien oder in einem abgeschlossenen Raum oder am Fließband durchzuführen sind – zu verstehen. […]
5.2 Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts […] ist schon deshalb nicht korrekturbedürftig, weil der Kläger Reinigungstätigkeiten bereits bisher als (wesentliche) Teiltätigkeiten als Hausbesorger ausgeübt hat und für diese ein Arbeitsmarkt besteht. Reinigungstätigkeiten hat der Kläger auch als Hausbesorger zu einem beträchtlichen Teil in geschlossenen Räumen ausgeübt. […] Keinesfalls ist ein Erlernen „gänzlich neuer Tätigkeiten“ für die Ausübung der Verweisungstätigkeit erforderlich. […] Aus den Feststellungen ergibt sich kein Hinweis, dass die vom Revisionswerber ins Treffen geführten Kontakte zu Bewohnern der Hausanlage eine (besondere) Rolle für die Tätigkeit des Klägers als Hausbesorger gespielt hätten. Eine gewisse Einschränkung an selbständiger bzw eigenverantwortlicher Tätigkeit muss der Versicherte auch beim Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG hinnehmen […].“

ERLÄUTERUNG

Die vorliegende E bietet eine gute Zusammenfassung der bisher zu den Verweisungsmöglichkeiten (sogenannter „Tätigkeitsschutz“) nach § 255 Abs 4 ASVG ergangenen Entscheidungen. Diese Bestimmung gilt ab einem bestimmten Lebensalter und bei langjähriger gleicher Tätigkeit. Es soll verhindert werden, dass Versicherte in diesen Fällen auf gänzlich andere Tätigkeiten verwiesen werden; die Verweisungsgrenzen sind enger als bei den sogenannten Berufsschutzfällen. Die Grenzen der Zumutbarkeit der Verweisung bildet einerseits der Inhalt der Tätigkeit an sich. Dabei ist laut Judikatur eine Verweisung auf eine Tätigkeit zumindest dann möglich, wenn ein wesentlicher Teil der im Beobachtungszeitraum ausgeübten Tätigkeit der Verweisungstätigkeit entspricht. Dies ist hier die „Reinigungstätigkeit“, die beim Kl auch als Hausbesorger ca 70 % der Tätigkeit betrug. Andererseits ist bei der Verweisung das arbeitskulturelle Umfeld zu beachten: Der Kl unterlag nur einer indirekten Aufsicht durch die Mieterinnen und Mieter. In der Verweisungstätigkeit wäre er mit direkter Kontrolle konfrontiert. Diese Änderung des arbeitskulturellen Umfelds ist jedoch zu unbedeutend, um eine Verweisung zu verhindern. Unwesentliche Änderungen des arbeitskulturellen Umfelds müssen Versicherte in Kauf nehmen.

Seit der Erhöhung des maßgeblichen Alters auf die Vollendung des 60. Lebensjahres kommt dem Verweisungsschutz des § 255 Abs 4 ASVG allerdings weniger Bedeutung zu. Für Frauen entspricht das Alter dem Zugangsalter für die normale Alterspension! Außerdem haben gerade Versicherte mit gesundheitlichen Einschränkungen ein erhöhtes Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren – mit der Folge, dass sie auch die erforderlichen 120 Monate einer (gleichartigen) Tätigkeit nicht mehr erreichen.