Schwerarbeit in Pflegeberufen
Schwerarbeit in Pflegeberufen
Speziell bei Pflegeberufen ist die Beurteilung des Vorliegens von Schwerarbeit schwierig. Da keine messbaren Belastungen, wie etwa beim Kalorienverbrauch, greifbar sind, ist es eine besondere Herausforderung, aus abstrakten Formulierungen in Gesetz und Verordnung zur Schwerarbeit konkrete Schlussfolgerungen zur Beurteilung einzelner Tätigkeiten zu erzielen. Auch die Erläuterungen des Gesetzes und der SchwerarbeitsV führen oft zu teilweise widersprüchlichen Ergebnissen.
Bereits im Zuge der Pensionsreformen im Jahr 2003 wollte der Gesetzgeber eine Regelung finden, die es Personen, die während ihrer beruflichen Tätigkeit besonderen Belastungen ausgesetzt waren, ermöglicht, einen Zugang zu einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer Pensionsleistung zu erreichen. Den Begriff Schwerarbeit zu definieren, ist jedoch eine große Herausforderung. Zunächst wurden beispielhaft Gruppen von Versicherten genannt, die unzweifelhaft umfasst sein sollten (Hochofenarbeiter, Pflegepersonal etc). Gesetzliche Regelungen müssen jedoch abstrakt formuliert sein, weil keine Bevorzugung konkreter Versichertengruppen zulässig ist. Im nächsten Schritt müssen diese abstrakten Regelungen wieder auf konkrete Versicherte zurückgeführt werden. Dieser Prozess führt fast zwangsläufig dazu, dass manche Versicherten von einer Regelung profitieren, obwohl sie ursprünglich nicht erfasst sein sollten, andererseits einige aus einer Regelung herausfallen, die eigentlich für sie gedacht war. Diese Gefahr besteht insb deshalb, weil Regelungen, die zu einem vorzeitigen Pensionsantritt führen, restriktiv geplant waren. Der Gesetzgeber entschied sich für einen komplett anderen Zugang zum Thema Schwerarbeit und schuf die sogenannte „Hacklerregelung“, die eine (zunächst sogar) abschlagsfreie Möglichkeit einer vorzeitigen Alterspension schuf. Der Frage nach der Beurteilung von Schwerarbeit wurde dabei jedoch ausgewichen, weil der Zugang zu dieser Regelung nicht nach dem Inhalt der erbrachten Arbeit, sondern nur nach dem Vorliegen einer (besonders) langen (Pflicht-)Versicherungsdauer beurteilt wurde. Das Resultat war absehbar: Ein besonders langer, nicht durch Arbeitslosigkeit oder lange Erkrankung unterbrochener Versicherungsverlauf wurde vor allem im Angestelltenbereich erreicht. Weite Teile von Erwerbstätigen, wie SaisonarbeiterInnen oder Beschäftigte, deren Erwerbskarriere krankheitsbedingt unterbrochen war, waren ausgeschlossen, obwohl die „Hacklerregelung“ mehrfach modifiziert wurde. Nachdem die Forderung nach einer Schwerarbeitsregelung nochmals laut wurde, entschied sich der Gesetzgeber diesmal für einen anderen Lösungsweg. Er übernahm die Definitionen von Schwerarbeit aus dem Nachtschwerarbeitsgesetz (NSchG) und ließ die Voraussetzung, dass die Schwerarbeit während Nacht- oder Wechselschichten geleistet werden musste, weg.
Wie bei der Schwerarbeitsregelung ist auch beim NSchG eine Meldepflicht des DG vorgesehen. Die wesentlichen Unterschiede sind, dass der DG nach dem NSchG einen Sonderbeitrag leisten muss, und dass die Meldung nach dem NSchG unmittelbar zum Erwerb von Versicherungszeiten nach dieser Bestimmung führt. Die Meldung nach der Schwerarbeitsregelung ist dagegen bloß ein Indiz für das Vorliegen von Schwerarbeit.
Besonders belastende Berufstätigkeiten iSd SchwerarbeitsV sind ua:
„§ 1. (1) Als Tätigkeiten, die unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen erbracht werden, gelten alle Tätigkeiten, die geleistet werden …5. zur berufsbedingten Pflege von erkrankten oder behinderten Menschen mit besonderem Behandlungs- oder Pflegebedarf, wie beispielsweise in der Hospiz- oder Palliativmedizin…“
Was mit der Formulierung mit besonderem Behandlungs- oder Pflegebedarf gemeint ist, wird ua in der jüngst ergangenen OGH-E vom 19.11.2019, 10 ObS 122/19t, behandelt. Der Kl war in der Aufnahme einer geronto-psychiatrischen Station tätig. Die PatientInnen litten an unterschiedlichen psychiatrischen Erkrankungen, etwa an Schizophrenie, Depression, manischer Depression, Persönlichkeitsstörungen und schwerer Demenz. Der nach den Feststellungen konkret gegebene besondere Behandlungs- und Pflegebedarf wird insb aus der Feststellung deutlich, dass diese PatientInnen vor allem dann auf der Station aufgenommen wurden, wenn sie nicht einmal mehr in einem Pflegeheim oder Krankenhaus „geführt“ werden konnten. Die besondere psychische Belastung bei der Pflege dieser PatientInnen lag ua darin, dass der Kl immer wieder Angriffen ausgesetzt 390 war und beispielsweise gekratzt, beschimpft und bedroht wurde. „Die für die in der geronto psychiatrischen Station aufgenommenen Patienten, die an unterschiedlichen psychiatrischen Erkrankungen, etwa an Schizophrenie, Depression, manischer Depression, Persönlichkeitsstörungen und schwerer Demenz litten, geleisteten Behandlungs- und Pflegetätigkeiten stellen jedenfalls Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV dar…“
Neben dieser so klaren wie lebensnahen Entscheidung wird aber noch ein weiterer Aspekt behandelt:
Die Beurteilung der psychischen Belastung iSd „besonderen Behandlungs- oder Pflegebedarfs“ ist besonders schwer zu treffen: Während der Kalorienverbrauch bei Tätigkeiten zumindest annäherungsweise nachvollzogen werden kann, gibt es für psychische Belastungen keine Messmethoden. Nicht leichter wird die Beurteilung dadurch, dass in der SchwerarbeitsV Beispiele für den besonderen Behandlungs- und Pflegebedarf definiert werden, nämlich Tätigkeiten „wie beispielsweise in der Hospiz- oder Palliativmedizin“. Nachdem diese Tätigkeiten die extremsten Belastungen im Pflegebereich darstellen, ist naheliegend, dass die Messlatte für das Vorliegen von Schwerarbeit in anderen Pflegebereichen hoch ist. Die Judikatur des OGH greift zur Konkretisierung des Begriffes auf die Erläuternden Bemerkungen zurück: „Eine gewisse nähere Determinierung dafür, wie der Verordnungsgeber diese sehr allgemein gehaltene Definition der Belastung konkretisiert haben will, findet sich in den Erläuternden Bemerkungen zur Verordnung …“
Danach gelten als Schwerarbeit Tätigkeiten in der hospiz- oder palliativmedizinischen Pflege von Schwerstkranken und die Betreuung von Pfleglingen mit einem Pflegebedarf zumindest der Stufe 5 nach § 4 Abs 2 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG). Davon umfasst ist ua auch die Pflege von Demenzerkrankten im geriatrischen Bereich. Die Definition von Schwerarbeit über Pflegegeldstufen ist jedoch letztlich eine Vermutung des Gesetz- oder Verordnungsgebers. Die in einigen Entscheidungen zitierte Formulierung, dass, „nach der Judikatur Schwerarbeit jedenfalls dann verwirklicht“ wird, wenn Anspruch auf Pflegegeld ab Stufe 5 besteht (zuletzt in der oben angeführten OGH-E 10 ObS 122/19t), wird auch in derselben E wieder relativiert: „Nach der Rechtsprechung kann die Orientierung an Pflegegeldstufen – neben anderen dort genannten Elementen – aber immer nur einen Anhaltspunkt (ein Indiz) für die Beurteilung des Ausmaßes an psychischer Belastung bilden …“
Ein Widerspruch zur Heranziehung des Anspruchs auf Pflegegeld als Kriterium für Schwerarbeit ergibt sich aus dem „Fragen-Antworten-Katalog“ zur SchwerarbeitsV der von den Krankenversicherungsträgern in Zusammenarbeit mit dem BM für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und der (im Verfahren) bekl Pensionsversicherungsanstalt erarbeitet wurde. Dadurch, dass der OGH den Katalog zur Argumentation verwendet, wird die Bekl in die Lage versetzt, über einzelne konkrete Verfahren hinaus den Interpretationsspielraum zur Beantwortung der Rechtsfrage des Vorliegens von Schwerarbeit zu beeinflussen. Inhaltlich sind die Antworten auf die Fragen 40 und 37 in diesem Katalog nicht zu vereinbaren. Zur Frage 40, was unter besonderem Behandlungs- oder Pflegebedarf gem § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV zu verstehen sei, gibt der Katalog die Antwort: „… Grundsätzlich wird ein erhöhter Pflegeaufwand vorliegen, wenn Pflege notwendig ist, wie sie ab der Pflegestufe 5 nach dem Bundespflegegeldgesetz erforderlich ist.“ Genau aus der Formulierung „Grundsätzlich wird vorliegen …“
ist für die Rechtsanwendung nichts zu gewinnen, weil in einem Verfahren konkrete Feststellungen, die eben über Grundsätzliches hinausgehen, zur Beurteilung von Rechtsfragen notwendig sind.
Die Antwort auf Frage 37 des Katalogs, ob im Pflegebereich auch bei der Betreuung unterschiedlicher Pflegestufen insgesamt Schwerarbeit vorliegt oder ob die Überschreitung der notwendigen Pflegestufenhöhe jeden einzelnen Monat vorliegen muss, lautet: „Die Pflegestufe ist kein Kriterium bei der Beurteilung, ob Schwerarbeit vorliegt.“
Die Fragestellung ist hier im Vergleich zur Frage 40 (siehe oben) etwas verändert, hat aber den selben Hintergrund, nämlich, ob der Anspruch auf Pflegegeld der zu pflegenden Personen von Relevanz für die Beurteilung des Vorliegens von Schwerarbeit ist. Die Antwort auf Frage 40 ist „grundsätzlich ja“, die Antwort auf Frage 37 ist „nein“. Dieser Widerspruch wurde auch in der OGH-E 10 ObS 122/19t nicht aufgelöst, wenn der OGH sagt, dass die Orientierung an Pflegegeldstufen immer nur ein Indiz für die Beurteilung des Ausmaßes an psychischer Belastung bildet und auf Regelungen des BPGG zurückgegriffen werden kann.
Fest steht durch die Beantwortung der Frage 37 des Katalogs laut OGH jedenfalls, dass der Hinweis auf die Pflege von Demenzerkrankten im geriatrischen Bereich zeigt, dass die Qualifikation als Schwerarbeit nicht von der Betreuung von Personen abhängt, die zumindest Pflegegeld der Stufe 5 beziehen. Dies ist vor allem für „gemischte“ Stationen wichtig, in denen die Anzahl der zu pflegenden Personen mit einem Anspruch auf 391 Pflegegeld mindestens der Stufe 5 nicht überwiegt.
Wenn innerhalb einer Einrichtung (einer Station) Menschen mit unterschiedlichem Pflegebedarf zu pflegen sind, kann Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV vorliegen, wenn die Pflegetätigkeit zeitlich gesehen überwiegt oder sich das Überwiegen aus der Anzahl der zu pflegenden Patienten mit besonderem Behandlungs- und Pflegebedarf ergibt. Das Ergebnis ist, dass auf Stationen, deren PatientInnen Anspruch auf Pflegegeld mindestens der Stufe 5 haben, dies ein Kriterium für das Vorliegen von Schwerarbeit sein kann. In welchen Pflegeeinrichtungen außerhalb der von der SchwerarbeitsV bereits erfassten Hospiz- und Palliativmedizin alle „Pfleglinge“ Anspruch auf Pflegegeld mindestens der Stufe 5 haben können, ist schwer zu beurteilen. Zahlenmäßig werden sich diese Einrichtungen wohl in engen Grenzen halten.
Im Verfahren zur Feststellung des Vorliegens von Schwerarbeit ist es in zweifacher Hinsicht hilfreich, Indizien zu schaffen. Im Verwaltungsverfahren ist die Meldung durch den DG für die Versicherungsträger ein Hinweis darauf, dass Schwerarbeit geleistet wurde. Dabei sind DG nicht daran gehindert, Schwerarbeit zu melden, auch wenn die Berufe nicht auf der Schwerarbeitsliste aufscheinen. Die Tatsache, dass auch Berufe, die auf der Schwerarbeitsliste nicht aufscheinenden Schwerarbeitsberufe sind, scheint noch nicht flächendeckend bekannt zu sein.
Da auch das Vorliegen eines Anspruchs von Pflegegeld ein Indiz für Schwerarbeit darstellen kann, ist es zumindest empfehlenswert, die Pflegegeldstufen der zu Pflegenden zu dokumentieren. Diese Dokumentation sollte monatsweise und umfassend stattfinden. 392