Einem „Provisorium“ zum 65. Geburtstag – Zur Gründungsgeschichte des ASVG*
Einem „Provisorium“ zum 65. Geburtstag – Zur Gründungsgeschichte des ASVG*
Vor 65 Jahren, am 1.1.1956, trat das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) in Kraft. Der Weg dorthin war ein zehnjähriges Ringen. Das Ergebnis war Ausdruck des faktisch und iSd Versicherten Notwendigen und des politisch Machbaren.
Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes blieben alle Gesetze und Verordnungen, die nach dem 13.3.1938 für das Gebiet der Republik Österreich erlassen worden waren, bis zur Neugestaltung der einzelnen Rechtsgebiete als österreichische Rechtsvorschriften in Geltung,* sofern sie nicht einem freien, demokratischen Österreich zuwiderliefen oder nationalsozialistisches Gedankengut enthielten.* Das galt auch für das Sozialversicherungsrecht.
Es mag sich hier die Frage stellen: Warum hat man nicht die entsprechenden österreichischen Gesetze mit Stand 12.3.1938 wieder in Kraft gesetzt?
Zum einen hatte das übernommene deutsche Sozialversicherungsrecht wesentliche Veränderungen gebracht, die man nicht aufgeben wollte, allen voran die Einführung der Invalidenversicherung für Arbeiter, so gering die Renten auch waren, sowie die Zusammenführung der Arbeiter und Angestellten in der KV. Dagegen sprachen auch Verbesserungen im Bereich der KV und der UV.
Zum zweiten stammte das wichtigste Sozialversicherungsgesetz für Unselbständige in Österreich zum Zeitpunkt März 1938 aus der Zeit des autoritären Systems und war ohne die Beteiligung der damals verbotenen Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften entstanden. Überdies war dieses Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz 1935 (GSVG),* das Anfang 1938 wiederverlautbart wurde,* geprägt von Leistungskürzungen unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre. Die Unselbständigen in der Landwirtschaft, die öffentlich Bediensteten und jene der öffentlichen Eisenbahnen waren darin nicht erfasst. Und eben noch eine überraschende Erklärung findet sich in der RV zum Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz (SV-ÜG) vom Juni 1947:
„Der geplante Ausbau der Sozialversicherung in der Richtung einer weiteste Bevölkerungskreise umfassenden Volksversicherung bei gleichzeitig gründlicher Reform des Leistungs- und Beitragswesens und entsprechend moderner Gestaltung in organisatorischer Hinsicht wird in naher Zukunft dazu führen, daß das gesamte Sozialversicherungsrecht in Österreich von Grund auf erneuert werden muß. Eine solche Entwicklung läßt es aber nicht angezeigt erscheinen, auf das frühere österreichische Sozialversicherungsrecht zurückzugreifen und dieses – wenn auch nur für eine kurze Übergangszeit – wieder in Kraft zu setzen.“*
Ein neues österreichisches Sozialversicherungsrecht zu schaffen, war eines der ersten Ziele. Bereits im August 1945 hatte das Staatsamt für soziale Verwaltung unter Staatssekretär Johann Böhm einen ersten Entwurf für ein SV-ÜG zur Begutachtung ausgesandt, der jedoch bei den AN-Vertreterorganisationen und der neugegründeten Arbeitsgemeinschaft der Sozialversicherungs-Institute auf deutliche Ablehnung gestoßen war, da er sich an der berufsständischen Gliederung des GSVG aus dem Jahre 1935 orientiert hatte. Die Arbeitsgemeinschaft der Sozialversicherungs-Institute und die Arbeiterkammer (AK) hatten sich demgegenüber für eine weitgehende Konzentration in der Organisationsfrage der SV ausgesprochen. Die rasche Wiedereinführung wenigstens einer Übergangsgesetzgebung war damit im Herbst 1945 gescheitert.*73
Anfang 1946 versandte das Sozialministerium, dann schon unter Sozialminister Karl Maisel, einen Referentenentwurf zum SV-ÜG, der in der Organisationsfrage an der berufsständischen Einteilung von drei selbständigen Anstalten als Träger der Renten- und Unfallversicherung (Arbeiter-, Angestellten-, Landarbeiterversicherungsanstalt) sowie je einer Anstalt für die Eisenbahnen und das Notariat festhielt.* Diesen Entwurf zu diskutieren war die Hauptaufgabe der ersten Gesamttagung der Arbeitsgemeinschaft der Sozialversicherungs-Institute im März 1946. Die Organisationsfrage stand hierbei im Mittelpunkt. Der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Reinhold Melas trat für eine möglichste Zentralisierung ein:
„Es ist eine zwingende Notwendigkeit, daß in diesem kleinen Staat keine Vielfalt von Versicherungsträgern nebeneinander besteht. Die Gleichartigkeit der Grundsätze in der Rentenversicherung findet ihren richtigen organisatorischen Ausdruck in einem einheitlichen Versicherungsträger. Daß die einzelnen Zweige der Rentenversicherung verschieden geregelt sind, ist kein Grund, einen einheitlichen Versicherungsträger abzulehnen, das kann in einem Versicherungsträger ebenso berücksichtigt werden.“*
Anderer Meinung war der leitende Angestellte der Angestelltenversicherungsanstalt Hans Schmitz, der übrigens diese Funktion auch bereits im autoritären System 1934-38 hatte. Er argumentierte, die unterschiedlichen Rechte für Arbeiter und Angestellte seien historisch gewachsen. Die Angestellten hatten Angst, in einer gemeinsamen Anstalt majorisiert zu werden.*
Kernpunkt des Entwurfes des Sozialministeriums vom Oktober 1946 war in der Organisationsfrage eine „Allgemeine Sozialversicherungsanstalt“ für die Unfall-, Invaliden-, Angestellten- und knappschaftliche Rentenversicherung. Daneben sollte es nur zwei weitere Unfall- und Pensions-(Renten-)Versicherungsträger geben, nämlich die „Versicherungsanstalt der österreichischen Staatseisenbahnen“ und die „Versicherungsanstalt des österreichischen Notariats“.* Dieses Modell wäre vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und der Wiener AK vehement gefordert worden, heißt es in der Begründung zum Entwurf.*
Dieser Entwurf stieß jedoch auf den entschiedenen Widerstand der ÖVP, insb der Landwirtschaft. Die ÖVP brachte im Dezember 1946 einen Initiativantrag im Parlament ein, der im Wesentlichen die Wiedererrichtung der Organisationsstruktur des GSVG 1935 beinhaltete.* Die SPÖ brachte ihrerseits am 12.12.1946 einen Entwurf in Anlehnung an den Referentenentwurf des Sozialministeriums vom Oktober im Nationalrat ein, der die „Allgemeine Sozialversicherungsanstalt für die Invaliden-, Angestellten- und knappschaftliche Rentenversicherung sowie für die Unfallversicherung der im Bundesstaat Österreich diesen Versicherungen unterliegenden Personen
“ vorsah.*
Reinhold Melas hatte zu dieser politischen Gemengelage schon im November 1946 gemeint:
„Unter grundsätzlicher Aufrechterhaltung unseres Standpunktes ist die Errichtung der Selbstverwaltungskörper, der Vorstände und Überwachungsausschüsse von so grundlegender Wichtigkeit, daß es keinen Zweck mehr hat, durch Fortführung des Organisationsstreites deren Realisierung und die Behandlung anderer Probleme der Sozialversicherung wie Leistungsverbesserungen zu blockieren.“*
Die Entscheidung fiel schließlich in einem Ministerkomitee im Jänner 1947, und sie fiel für eine dezentralisierte Organisation. Errichtet wurden:
Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt für die UV der Arbeiter, der Angestellten und der Bergarbeiter;
Die Angestelltenversicherungsanstalt für die PV der Angestellten;
Die Allgemeine Invalidenversicherungsanstalt für die Invalidenversicherung der Arbeiter;
Die Land- und Forstwirtschaftliche Sozialversicherungsanstalt für Unfall- und Invalidenversicherung der Landarbeiter und die UV der Selbständigen in der Land- und Forstwirtschaft. In der RV war die UV noch in der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt verortet;
Die Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen für die Unfall- und Invalidenversicherung und die KV der Eisenbahnbediensteten;
Die Bergarbeiterversicherungsanstalt für die knappschaftliche Renten- und Krankenversicherung;
Die Versicherungsanstalt des österreichischen Notariats für die UV und PV der Notare und Notariatskandidaten.*
Als Träger der Krankenkassen blieben die in Gebietskrankenkassen umbenannten Allgemeinen Ortskrankenkassen für Arbeiter und Angestellte und die in Landwirtschaftskrankenkassen umbenannten Landkrankenkassen für die Landarbeiter sowie die Betriebskrankenkassen, soweit sie bereits am 12.3.1938 bestanden hatten. Zusätzlich wurde jene der Austria Tabakwerke AG errichtet.74
Die Meisterkrankenkassen wurden in einem Verband zusammengeschlossen.*
Die Organisationsstrukturen, wie sie mit dem SV-ÜG geschaffen wurden, wurden im Wesentlichen im ASVG von 1955 übernommen. Die Organisationsfrage wurde nicht mehr neu aufgerollt; aus denselben Gründen wie beim SV-ÜG. Man wollte durch die unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten die Gesetzwerdung nicht gefährden.*
Spätere Versuche, die Organisation der SV auf eine gänzlich neue Struktur zu stellen, etwa mit dem Entwurf eines Krankenversicherungsgesetzes vom 19.7.1948, das die Basis für den Aufbau der SV nach Versicherungszweigen sein sollte, scheiterten, nicht zuletzt an der Weigerung der Landwirtschaftsvertreter, sich überhaupt damit auseinanderzusetzen, weil man eigene Versicherungsträger für die eigene Berufsgruppe verlangte.*
Das SV-ÜG war schließlich auch so etwas wie die Geburtsurkunde des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger:
„Da [...] die zur Diskussion gestandene Schaffung eines einzigen Sozialversicherungsträgers durch das ASVG nicht verwirklicht werden konnte, einigte man sich schließlich auf die Errichtung des Hauptverbandes, dem alle Sozialversicherungsträger angehören, und stattete ihn mit sehr weitgehenden Kompetenzen aus.“*
Gleichzeitig mit dem SV-ÜG verabschiedete der Nationalrat eine Entschließung, in der er baldige Maßnahmen zur Sicherstellung der Leistungen in Renten- und Pensionsversicherung für dringend erklärte und die Regierung aufforderte, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, in dem die Beiträge in der Renten- und der Arbeitslosenversicherung so abgeändert würden, dass dies gewährleistet sei.*
Die Renten waren denn auch eines der größten inhaltlichen Probleme. Die durchschnittliche Rente aus der Invalidenversicherung bzw der Altersfürsorge der Arbeiter betrug 1945 öS 42,–.* Zwar wurden die Renten in der Folge entweder durch fixe Beträge oder prozentuell erhöht, ein wesentlicher Schritt wurde etwa mit dem BG über die Änderung einiger Vorschriften in der Invalidenversicherung* vom 19.5.1949 geschaffen, mit dem die sogenannte Arbeiterpension eingeführt wurde; konkret wurden die Voraussetzungen für die Invalidenrente weitgehend an jene der Angestelltenpension angepasst. Trotzdem konnten diese Renten ihren Zweck eines Auskommens im Alter nicht erfüllen. Die Angestellten, die seit 1909 eine PV hatten und in der Regel auch höhere Einkommen, waren davon noch mehr betroffen als die Angestellten.
Der Vorsitzende der Privatangestelltengewerkschaft und Obmann der Angestelltenversicherungsanstalt Friedrich Hillegeist stellte im August 1950 einen Rentenreformplan vor, der zum Ziel hatte, die Pension in einem tragbaren Verhältnis zum letzten Aktiveinkommen zu bringen. Die Pension sollte sich aus einem Grundbetrag von 30 % der Bemessungsgrundlage und – abgestuft in Zehnjahresschritten – Steigerungsbeträgen zusammensetzen, sodass nach einer Versicherungszeit von 40 Jahren Anspruch auf einen Pensionsbetrag von 79,2 % der Bemessungsgrundlage – des Durchschnitts der Beitragsgrundlagen der letzten 36 Beitragsmonate vor Eintritt des Versicherungsfalles – betragen sollte. Auch sollte mit der Reform die Unterversicherung in der PV beseitigt werden.*
Der Begriff „Hillegeist-Plan“, unter dem dieser Reformplan bekannt wurde, kam zuerst von Kritikern. Und deren gab es viele, vor allem wegen der Ruhensbestimmungen, die er auch enthielt. Hillegeist bekannte:
„Jeden Tag erhalte ich Briefe, in denen man mir das Aufhängen schafft, einen Strick gleich mitschickt und noch andere Schmeicheleien mehr.“*
Der Reformplan war ursprünglich nur für die Angestellten gedacht. Der Obmann der Metallund Bergarbeitergewerkschaft, Sozialminister Karl Maisel, Anhänger einer einheitlichen Volksversicherung, sprach von „unzeitgemäßem Kastengeist“ zugunsten der Angestellten.* Seine Gewerkschaft verabschiedete einen Beschluss gegen die Reform. Trotz dieser Anfeindungen wurde dieser Reformplan schließlich die Basis für die Neuregelung für die Pensionen, wie sie sich dann im ASVG wiederfand. Und sie galt für Arbeiter und Angestellte gleichermaßen.
Eine Neuregelung der KV, die ebenfalls dringend notwendig gewesen wäre, gelang jedoch nicht.*
Nach dem missglückten Versuch des „Allgemeinen Krankenversicherungsgesetzes“ 1948 geriet die weitere Entwicklung der SV ins Stocken. Das hing auch mit der Übernahme der Regierung durch Julius Raab und mit seinem neuen Finanzminister Reinhard Kamitz und einem wirtschaftsliberalerem Kurs der ÖVP zusammen.* Mit dem mit dieser wirtschaftspolitischen Ausrichtung der ÖVP verbundenen Bestreben nach Budgetkonsolidie-75rung* erreichte die Kritik an der SV 1952 einen Höhepunkt.
„Die Angriffe auf die österreichische Sozialversicherung sind sachlich unrichtig und von der Absicht getragen, eine notwendige Einrichtung der Arbeiter und Angestellten zu zerschlagen. Es wird eine Einrichtung diffamiert, die funktionsfähig bleiben muß, weil nichts besseres an ihre Stelle gesetzt werden kann. [...] Die österreichischen Arbeiter und Angestellten werden alle Anschläge auf die Sozialversicherung zu vereiteln wissen
“,* schrieb die AK Wien in ihrem Jahrbuch.
Die SV geriet schließlich sogar 1953 in die Mühlen des Wahlkampfes. Am 22.10.1952 zerbrach die Regierung ua an der Frage der Kürzung des Bundeszuschusses für die Renten und der Streichung der Mittel für den sozialen Wohnhausbau.*
Abgesehen von den politischen und ideologischen Differenzen gab es auch Auffassungsunterschiede darüber, ob die Neuregelung eines österreichischen Sozialversicherungsgesetzes in Teilschritten oder im Ganzen passieren sollten. Für Ersteres trat das Sozialministerium unter Karl Maisel ein. Es vertrat die Auffassung, dass eine Neukodifikation des gesamten Sozialversicherungsrechtes noch Jahre in Anspruch nehmen würde und zu viele schwierige Probleme auf einmal aufgeworfen werden würden. Die Nachteile einer Teilkodifikation seien demgegenüber geringer einzuschätzen. Auch sei nicht einzusehen, dass Teile des Sozialversicherungsrechtes, die ohne Schwierigkeiten neu gefasst werden könnten, jahrelang blockiert werden sollten.* Der Hauptverband entgegnete:
„Es ist jedem mit der Materie Vertrauten klar, dass diese etappenweise Regelung nicht eine Erleichterung, sondern im Gegenteil eine wesentliche Erschwerung des Verfahrens bedeutet und die Unübersichtlichkeit in den gesetzlichen Bestimmungen der Sozialversicherung sowie die Unkenntnis noch vergrößern wird.“*
Das eine ist wohl die Sicht der Politiker, das andere jene der Gesetzestechniker. Und schließlich sollten sich Zweitere durchsetzen. Dem ersten Sozialversicherungs-Neuregelungsgesetz (SV-NG) vom 3.4.1952,* das Neuregelungen zu Wartezeiten, Erwerb und Anrechenbarkeit von Versicherungszeiten in der Rentenversicherung und zur Kranken- und Invalidenversicherung der unständig in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten beinhaltete, folgte kein zweites mehr.
Stattdessen ging man in Zusammenarbeit von Hauptverband der Sozialversicherungsträger und Sozialministerium daran, die Materie in zehn Teilabschnitten in einen Gesetzesentwurf zu gießen. Die Teile wurden sukzessive in Begutachtung geschickt.
Die politischen Schwierigkeiten blieben dennoch groß. Die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft hatte im Sommer 1954 ein Gutachten erstellt, „aufgrund dessen es unwahrscheinlich erschien, in Beratungen mit den Interessenvertretungen auch nur voranzukommen, geschweige denn zu einem gemeinsamen Vorschlag an den Ministerrat
“,* heißt es im Bericht der sozialistischen Parlamentarier. Die Wirtschaftskammer hatte ua Parität in allen Verwaltungskörpern der SV und einen neutralen, unparteiischen Obmann bzw Präsidenten der Sozialversicherungsträger verlangt.* Eine Forderung, die für die AN-Vertreter inakzeptabel war:
„Das selbstverständliche Recht, über die Einrichtungen zu Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit selbst zu bestimmen, ein Recht, das das kaiserliche Österreich vor 70 Jahren den Arbeitnehmern in der Krankenversicherung einräumte, werden sich die Arbeiter und Angestellten unter keinen Umständen nehmen lassen [...].“*
Ende 1954 wurde von Sozialminister Karl Maisel ein Verhandlungskomitee unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Julius Raab eingesetzt. Dieses sollte eine Einigung auf politischer Ebene herbeiführen.* Seine Arbeit begann am 24.2.1955. In diesen Verhandlungen wurden etwa der Entfall einer Mindestbeitragsgrundlage und die Schaffung der Ausgleichszulage beschlossen.*
„Das Hauptverdienst am Zustandekommen des ASVG kam zweifellos den beiden Verhandlungsführern Bundeskanzler Ing. Julius Raab und Präsident Johann Böhm zu. Beide verband ein beinahe freundschaftliches Verhältnis und so wurden aufkommende Schwierigkeiten sehr oft in Aussprachen zwischen beiden behoben.“*
Zur Beratung der Frage der Mandatsverteilung in den Verwaltungskörpern der Versicherungsträger wurde am 16.5.1955 ein Parteienkomitee eingesetzt. Dieses Komitee sollte sich auch mit der Frage des Ruhens der Renten befassen.* Ebenso wurde ein Komitee zur Beratung des zweiten (KV) und76dritten Teils (UV) unter dem Vorsitz von Sozialminister Maisel eingerichtet.*
Einer der größten Gegner des ASVG war die Ärzteschaft:
„Der Entwurf zum ASVG dokumentiert deutlich das Bestreben des Hauptverbandes und der Sozialversicherungsträger nach Vergrösserung ihrer ohnehin schon außerordentlich großen Macht. Er zeigt das Bestreben des Hauptverbandes und der Sozialversicherungsträger, die Berufskreise, die die Sachleistungen zu erbringen haben, möglichst unter ihren überwältigenden Einfluß zu bringen. Die in allererster Linie davon betroffene Ärzteschaft muß aber darauf bestehen, daß ihre Berufsfreiheit und Selbstverantwortung auch durch die Organisation der Sozialversicherung keineswegs angetastet werden darf [...].“*
Sie fühlten sich in den Gesetzgebungsprozess ungenügend eingebunden und demonstrierten im August 1955 auf der Ringstraße mit einem Proteststreik.
Insofern war es eine Überraschung, dass der Gesetzesentwurf zum ASVG am 19.7.1955 vom Ministerrat dem Parlament zugewiesen wurde.*
Im Ausschuss für soziale Verwaltung wurde die RV vom 30.8. bis 2.9.1955 beraten. Die Vorlage erfuhr 154 Abänderungen.* Sogar nach Abschluss der Verhandlungen im Sozialausschuss wurden noch Detailbesprechungen abgehalten, wodurch noch eine Reihe von Änderungen vorgenommen wurde.*
Anfang September 1955 hatte die ÖVP mit dem Gedanken von Neuwahlen gespielt, dies auch mit der Forderung nach Gleichgewicht im Staatshaushalt.* Es ging aber wohl vor allem darum, dass die ÖVP die günstige Stimmung nach dem Abschluss des Staatsvertrages mit dem „Staatsvertragskanzler“ Raab nützen wollte, um ihre Position in der Koalition zu stärken. Glaubt man den Schilderungen Ludwig Reichholds, war es dann auch Bundeskanzler Julius Raab, der in der Bundesparteileitung einstimmig, also nur mit einer – seiner – Stimme, entschied, dass die ÖVP nicht in Neuwahlen gehen werde.*
„Ich möchte sagen: Der Beschluß, mit dem heute das ASVG verabschiedet wird, wird ein Markstein sein in der Geschichte der sozialen Bewegung dieses Landes, und dieses Gesetz wird auch ein Ruhmesblatt sein für das österreichische Parlament und für die österreichische Regierung
“, führte ÖGB- und Hauptverbandspräsident Johann Böhm bei der Beschlussfassung des ASVG im Nationalrat am 9.9.1955 aus.* Der Verband der Unabhängigen stellte einen Rückverweisungsantrag an den Sozialausschuss.* Beschlossen wurde das Gesetz mit den Stimmen von ÖVP und SPÖ.* Es trat am 1.1.1956 in Kraft.
Das ASVG war keine völlige Neuschöpfung der SV:
„Die Feststellungen über den neuen Rentenaufbau sollen nun nicht etwa die Tatsache bestreiten, daß auch in Österreich früher oder später eine echte und grundlegende Sozialreform durchgeführt werden muß. Die österreichische Sozialversicherung, die in ihren Grundzügen der so genannten klassischen Sozialversicherung, wie sie in Deutschland ausgebildet wurde, entspricht, blickt immerhin auf ein Alter von nahezu 70 Jahren zurück. Wenn man bedenkt, welche gewaltigen Änderungen in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und demographischen Verhältnissen eingetreten sind, so drängt sich von selbst der Gedanke auf, daß es notwendig sein wird zu prüfen, inwieweit die Sozialversicherung in den überkommenen Formen geeignet ist, der Forderung nach umfassender sozialer Sicherheit der Gesamtbevölkerung bestmöglich zu dienen.“*
Das ASVG war somit, wie es im Ausschussbericht heißt, nicht der „Schlusspunkt einer sozialpolitischen Entwicklung“, sondern nur eine Etappe „auf dem Weg zu einer befriedigenden Lösung des Problems der sozialen Sicherheit“.* Das Gesetz war demnach eigentlich ein Provisorium, ein Kompromiss des politisch Machbaren. Das Gesetz wurde auch mit der Neuregelung der Bestimmungen über den Kapitalmarkt und des privatrechtlichen Versicherungswesens junktimiert.*
Überlegungen, das Sozialversicherungsrecht auf eine neue Basis zu stellen, gab es auch zu späterer Zeit, sie scheiterten jedoch an der Komplexität der Gesetzesmaterie und auch am fehlenden übereinstimmenden politischen Willen. Und letztlich hat sich das ASVG in den 65 Jahren seines Bestehens durchaus bewährt.77