OswaldJenseits des Arbeitszwangs – Thesen zu einer anderen Gesellschaft

Westfälisches Dampfboot, Münster 2019 243 Seiten, € 25,–

URSULAFILIPIČ (WIEN)

Christian Oswald hat ein gleichermaßen aufrüttelndes und – in seiner Radikalität – mutiges Buch für eine andere Gesellschaft vorgelegt. Im Vorwort verweist er unter Bezugnahme auf Kant darauf, dass sich Menschen gegenseitig aufklären müssten und Vernunft sich nur in einem kollektiven Prozess entfalten könne (S 11). Dazu liefern seine streitbaren, oft wütenden, Thesen wichtige Impulse.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, in denen insgesamt zwölf Thesen diskutiert werden.

Im ersten Teil – Wider den Arbeitszwang – wird der, der kapitalistischen Produktionsweise inhärente, Arbeitszwang radikal in Frage gestellt. Der Abschnitt beginnt mit einer Kritik an den „Organisationen der traditionellen Arbeiterbewegung, ob Gewerkschaften oder Parteien“ (S 15), sie hätten den Zwangscharakter der Arbeit nicht hinterfragt und stattdessen jene „verklärt [...], die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihr Leben zu fristen“ (S 16). Dies sei zwar für die Anfangsphase der Arbeiterbewegung noch „nachvollziehbar“ gewesen, hätte aber in der Folge sowohl in West wie auch in Ost lediglich die Knechtung der Arbeitenden gebracht: „Der Arbeiter, d.i. der Mensch, der seine Bestimmung als Mensch in der ungebremsten Entfaltung seiner Produktivität sieht und dem Freiheit gleichbedeutend mit Einsicht in die Notwendigkeit der Betätigung seines Arbeitsvermögens ist, ist das Produkt des automatischen Prozesses, als der der Kapitalismus erscheint“ (S 18 f). Eine „progressive Linke“ könne daher nur dann eine gesellschaftlich gestaltende Kraft werden, wenn sie von dieser „Verherrlichung des Arbeiters“ (S 15) abkäme und stattdessen Ausbeutung und Arbeitszwang zum Gegenstand ihrer Kritik machen würde: „Ausbeutung als Charakteristikum eines gesellschaftlichen Verhältnisses hat jedoch eine weit umfassendere Bedeutung, als nur die Tatsache zu beschreiben, dass die einen von der Arbeit der anderen leben. Als Relationsbestimmung ist ihr Begriff vielmehr der einer tendenziell grenzenlosen, mit allen Mitteln menschlicher Erfindungskraft vorangetriebenen Auspowerung von Mensch und Natur, die deren Schranken beständig überschreitet, weil sie nur sich selbst zum Zweck hat.“ (S 22).

Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sei nicht von individueller Arbeitsleistung abhängig. Es gäbe jedoch einen historisch gewachsenen Zwangszusammenhang (These 1). Mit dem Kapitalverhältnis sei der Arbeitszwang zu einem Sachzwang geworden: Der Lohnarbeiter müsse seine Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben, der Kapitalist hingegen sei dem Sachzwang der permanenten Konkurrenz ausgesetzt. „Beide Sachzwänge sind Schein, sofern ihr Zwangscharakter durch Sachen vermittelt, aber nicht sachlich, sondern in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet“ (S 26). Mit dem Arbeitszwang hätte das Kapitalverhältnis aber „auch einen historischen Prozess seiner Negation in Gang“ gesetzt. Getrieben von Konkurrenz werde in immer kürzerer Zeit immer mehr produziert, eine menschliche Zwecksetzung gäbe es nicht mehr, Produktion geschehe ausschließlich um der Produktion willen.

Folglich könne wirklicher Fortschritt nur durch eine Überwindung des Arbeitszwanges und des Kapitalverhältnisses erreicht werden (These 2). Denn der Arbeitszwang würde umso härter durchgesetzt, je höher die technischen Möglichkeiten zu seiner Überwindung entwickelt seien (These 3).

Der zweite Teil des Buches ist ein flammendes Plädoyer „Wider den Reformismus“. Im Mittelpunkt der harschen Kritik steht die Politik linker Parteien: Diese sei weder pragmatisch noch realitätsgerecht, sondern hätte lediglich reformistische Scheinlösungen gebracht, die die zentralen gesellschaftlichen Probleme noch verschärft hätten (These 4, S 41). Konkret macht Oswald seine Kritik am Reformismus am Beispiel der SPD (Sozialstaat), der Grünen (Umweltstaat) und der Linken (bedingungslosen Grundeinkommen) fest. Der diesbezüglich „angeblich kritische öffentliche Diskurs über die als gesellschaftlich relevant erachteten Probleme der Arbeitslosigkeit und der Naturzerstörung ist [...] so eindimensional und so gleichgeschaltet, dass [...] er nur noch als Indoktrination bezeichnet werden“ (S 41) könne. Anstatt den Arbeitszwang in Frage zu stellen, ginge es nur darum, „wie immer mehr Arbeitsplätze zu schaffen seien, wie wir immer noch mehr arbeiten können, noch effizienter, flexibler, mobiler und produktiver sein können“ (S 41). Diese Diskussionen seien in hohem Maße ideologisch und „je realistischer die Lösungsvorschläge für die Probleme sein sollen, desto utopistischer sind sie, weil gerade ihre Ursachen nicht in Betracht gezogen werden“ (S 41).

Realistisch und pragmatisch wäre es hingegen, an den Ursachen für „all die sogenannten sozialen Probleme“ (S 43) anzusetzen, anstatt an den Symptomen herum zudoktern. Ergo sei „in einer Geschichte von Arbeitskämpfen und Klassenauseinandersetzungen“ mit dem Sozialstaat „eine Art Ersatzlösung“ geschaffen worden, „dessen gesellschaftliche Funktion (darin) besteht, die Ausbeutung in einigermaßen erträglichen Schranken zu halten [...], um die kapitalistische Produktion am Leben zu erhalten“ (S 43). Den Arbeitszwang würde der Sozialstaat aber „q“ aufheben, da seine Leistungen zeitlich beschränkt und auf den Nationalstaat begrenzt seien. Zudem seien sie gesetzlich fixiert und könnten folglich jederzeit wieder aufgehoben werden (S 44). Ähnliches gelte auch für den „Umweltstaat“ der Grünen: Auch im Hinblick auf die Natur „als Reservoir all der gegenständlichen Bedingungen der Arbeit, die nicht produziert sind“, kenne die „kapitalistische Produktionsweise keine immanente Grenze der Ausbeutung“ (S 48). Der Umweltschutz sei lediglich ein Kostenfaktor und müsse immer gegen Interessen des Kapitals durchgesetzt werden. Ähnlich „paradox“ wie die Rolle des Sozialstaats sei auch die des Umweltstaats: Von ihm solle „das wirklich allgemeine Interesse an der Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen [...] nur insoweit wahrgenommen werden, als es sich im Rahmen und innerhalb jener Beschränkungen bewegt, die durch die Wirtschaftsweise gesetzt sind, die sie systematisch untergräbt“ (S 51). Die Programme und Politiken der Grünen würden nur darauf hinauslaufen, „statt die Existenz- und Produktionsbedingungen aller zu erhalten, angesichts der offenbar83unaufhaltsamen Naturzerstörung einer privilegierten Minderheit ein einigermaßen gesundes Leben zu ermöglichen“ (S 55). Das wiederum aber wäre Kennzeichen einer jeden Form des Reformismus. Und mit der Globalisierung würde eine „Weltgesellschaft als universelle[m] Schuldzusammenhang“ (S 81) geschaffen.

Die Aufhebung des Arbeitszwangs allein, so seine fünfte These (S 72 ff), würde jedoch nicht ausreichen, sondern Menschen könnten ihr Potenzial nur entfalten, wenn sie lernten, es „kollektiv in Besitz und zu humanen Zwecken in Dienst zu nehmen“ (S 72).

Der dritte Teil des Buches enthält sechs weitere Thesen als Plädoyers „für eine neue Gesellschaft“ (S 101). In einer solchen müsste ua die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben und eine „neue Struktur des Gemeinwesens“ geschaffen werden (vgl These 7, S 109 ff). Sie „[ist] nicht länger der Logik der Wahl zwischen bereits vorgegebenen Möglichkeiten, die der Sache nach nur die Akklamation des Bestehenden beinhaltet, unterworfen, sondern eine Gesellschaft, die Produkt der Selbstbestimmung ihrer Mitglieder ist“ (S 109). Dies könne nur durch Praxis und gegenseitige Aufklärung durch jene erfolgen, „die sich von den Schranken des Gegebenen befreien“ (S 109). Diese Praxis gebe es aber bereits, „beständig und allüberall werden soziale Konflikte ausgetragen“ (S 110). Nur seien diese Praxen zersplittert und wüssten kaum voneinander. Dies müsste überwunden und ein Diskurs darüber ungeachtet aller Hindernisse – zB nicht schon im Vorhinein bestimmen zu können, wie eine solche Gesellschaft sein könnte – gewagt werden (vgl S 110 f).

Als Ansatzpunkt für die Suche nach einer solchen anderen Gesellschaft nennt Oswald das Modell der Selbstverwaltung durch Räte. Das sei zwar keine „ultimative Lösung“, aber „auf dem Wege der Perpetuierung der bisherigen Produktionsweise und der mit ihr verbundenen Form technischen Fortschrittes und pragmatischen Verhaltens, sind die Aufgaben, die sich der Menschheit heute stellen, nicht einmal in angemessener Weise zu erkennen, geschweige denn zu bewältigen“ (S 122). Eine solche „allgemeine [...] Verwaltung von unten“ (S 121) könnte die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Überwindung der Trennung von Staat und Gesellschaft ermöglichen. „[...] Das Allgemeine ist nicht mehr als Staat zu begreifen, wie man ihn kennt, als von den Produzenten und Konsumenten abgetrennte strukturell gegen sie unabhängige Administration [...]. Sein höchstes Prinzip müsste der kategorische Imperativ sein, die Versorgung der Gesamtbevölkerung sicherzustellen“ (S 123). In diesem Rahmen könne es auch keinen Arbeitszwang mehr geben, sondern es wäre den Menschen freigestellt, ob und in welcher Form sie sich an der Produktion beteiligten. Nationalstaatliche Grenzen würden in einer solchen anderen Gesellschaft ebenso obsolet wie soziale Hierarchien (Thesen 7 und 8, S 109 ff). Erst in einer solchen anderen Gesellschaft könnten die bereits jetzt vorhandenen Potenziale der Technik konstruktiv und zum Wohle aller genutzt werden: Der weltweite Hunger könnte beseitigt, die individuelle Arbeitszeit drastisch reduziert, die gesellschaftlich notwendige Arbeit weiter verringert und die Mobilität der Menschen durch kollektive Verkehrsinfrastruktur verbessert werden (These 10, S 159 ff). Letztlich würde in einer anderen Gesellschaft die Arbeit abgeschafft (Letzte These, S 212 ff).

Oswalds kritische Analyse besticht. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie, die (globale) Problemlagen kapitalistischer Produktionsverhältnisse verschärft und gleichzeitig wie in einem Brennglas sichtbar macht, ist es ein grundlegendes Verdienst des Buches, die Frage nach Möglichkeiten einer anderen Gesellschaft überhaupt aufzuwerfen.

Über andere wichtige Fragen schwindelt sich der Autor jedoch hinweg. Beispielsweise scheint er davon auszugehen, dass sich Menschen in einer anderen Gesellschaft automatisch gemäß des Kategorischen Imperativs verhalten, Machtstreben, Gier uä verschwinden würden. Jene, die Zweifel daran und an der Möglichkeit einer anderen Gesellschaft hegen, brandmarkt er pauschal als „Apologeten des status quo“ für die „sowieso seit jeher klar ist, dass die Menschen nicht zu mehr als zur Freiheit, sich wechselseitig auszubeuten, fähig seien und dass sie der Gewalt und Ordnung bedürfen, weil sie sich sonst nur wechselseitig zerfleischen“ (S 128). Eine argumentative Keule.

Der gesamte Bereich der menschlichen Reproduktion, der Zusammenhang zwischen bezahlter und – müßig darauf zu verweisen: hauptsächlich von Frauen geleisteter – unbezahlter Arbeit, kommt im Buch überhaupt nicht in den Blick. Für den Autor ein bloßer Nebenwiderspruch? Interessant wäre im Kontext von Selbstverwaltung durch Räte auch eine Reflexion der Erfahrungen der Arbeiterselbstverwaltung im ehemaligen Jugoslawien gewesen. Die unterbleibt jedoch.

Ungeachtet davon, ob man seine Einschätzung, reformistische Politiken hätten Probleme lediglich verschärft, teilt oder nicht: Weder Sozialstaat noch Umweltpolitiken sind ursächlich für die Beschleunigung und Zuspitzung kapitalistischer Destruktivkräfte.

Letztlich bleibt die Frage, was utopistischer ist: Für eine, wenn auch bruchstückhafte, aber konkrete Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen zu ringen oder auf das Werden einer revolutionären Linken, die eine andere Gesellschaft schafft, zu hoffen?