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Betriebsratswahl: Überlassene Arbeitskräfte sind unabhängig von der Beschäftigungsdauer auch ArbeitnehmerInnen des Beschäftigerbetriebes iSd § 36 ArbVG

ANDREASSCHLITZER

Überlassene AN sind ohne das Erfordernis einer Mindestbeschäftigungsdauer auch AN des Beschäftigerbetriebes iSd § 36 ArbVG. Es würde dem Sinn von § 50 ArbVG zuwiderlaufen, wenn nicht sämtliche überlassene Arbeitskräfte bei der Ermittlung der Anzahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder einbezogen würden. Auch überlassene AN, die am Stichtag (der Gruppenversammlung der Arbeiter zur Wahl des Wahlvorstands) noch nicht sechs Monate im Beschäftigerbetrieb der Kl beschäftigt gewesen sind, sind in die Berechnung der Zahl zu wählender Betriebsratsmitglieder einzubeziehen. Gleiches gilt für die Leiharbeitskräfte mit eigenem BR beim Überlasser. Ein Bedürfnis der AN an der Wahrung ihrer Interessen im Beschäftigerbetrieb besteht von Beginn an.

SACHVERHALT

Am 22.5.2019 fand im Betrieb der Kl die Wahl des Arbeiterbetriebsrats statt. Laut Wahlkundmachung waren zehn Mitglieder in den BR zu wählen. Der Wahlvorstand führte letztlich 603 Wahlberechtigte in seiner Liste. Darin waren zumindest 68 Leih-AN enthalten, die am 30.4.2019, dem Tag der Betriebsgruppenversammlung der Arbeiter, weniger als sechs Monate bei der Kl beschäftigt waren. Ebenso fanden sich im Wählerverzeichnis zumindest 39 überlassene Arbeitskräfte, die zwar bereits mindestens sechs Monate bei der Kl beschäftigt, jedoch im Überlasserbetrieb durch einen BR vertreten waren.

Die Kl schließt nur in Ausnahmefällen befristete Leiharbeitsverträge. Die Verträge mit jenen Leih- AN, die am 30.4.2019 noch nicht sechs Monate bei ihr beschäftigt waren, waren unbefristet abgeschlossen. Weisungen gegenüber den Leih-AN (inklusive der Vorgabe der Arbeitszeiten) erfolgen – wie üblich – von Seiten der Kl als Beschäftigerbetrieb. Die Leiharbeitskräfte sind verpflichtet, Krankenstände sowohl der Kl als auch dem Überlasserbetrieb zu melden. Der Urlaub wird vom jeweiligen Überlasserbetrieb genehmigt, jedoch nach entsprechender „Koordination“ mit der Kl als Beschäftigerbetrieb.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl begehrte mit ihrer am 18.6.2019 eingebrachten Wahlanfechtungsklage die Rechtsunwirksamerklärung der Betriebsratswahl gem § 59 ArbVG. Die Wahl sei fehlerhaft, weil in Relation zur Belegschaftsstärke zu viele Betriebsratsmitglieder gewählt worden seien. Die Leiharbeitskräfte mit einer Beschäftigungsdauer von weniger als sechs Monaten und die Leiharbeitskräfte mit einem eigenen BR beim Überlasser seien nicht zu berücksichtigen. Es wären daher nur acht statt zehn Betriebsratsmitglieder zu wählen gewesen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Ohne nähere Begründung vertrat es dabei die Ansicht, dass es im konkreten Fall gerechtfertigt erscheine, als maßgebliche Grenze eine Beschäftigungsdauer von sechs Monaten heranzuziehen, und damit jene Leiharbeitskräfte bei der Ermittlung der Zahl der Betriebsratsmitglieder außer Betracht zu lassen, welche am 30.4.2019 noch nicht sechs Monate bei der Kl beschäftigt waren. Damit wären maximal neun Mitglieder des Arbeiterbetriebsrates zu wählen gewesen. Da tatsächlich zehn Mitglieder gewählt worden seien, erweise sich die Wahlanfechtung als berechtigt.

Das Berufungsgericht gab der vom bekl Arbeiterbetriebsrat wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung nicht Folge. Es schloss sich im Wesentlichen der Rechtsansicht des Erstgerichts an und führte darüber hinaus aus, dass die Bestimmungen des § 53 und § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG eine Wertung des Gesetzgebers dahin erkennen lassen, dass für das Entstehen gewisser betriebsverfassungsrechtlicher Rechte eine bestimmte Beschäftigungsdauer im Betrieb vorliegen solle. Diese Grenze liege bei sechs Monaten. Insofern erscheine es auch sachgerecht, den überlassenen Arbeitskräften nicht von Beginn an das aktive Wahlrecht zuzugestehen.

Der OGH erachtete die dagegen erhobene ordentliche Revision für zulässig und auch berechtigt. Unter Berücksichtigung der bisherigen Judikatur und unter Einbeziehung sämtlicher wesentlicher Rechtsmeinungen zu dieser Thematik hat der OGH die Wahlanfechtungsklage abgewiesen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 3.1. Mit der Entscheidung 9 ObA 22/91 wurde die bereits damals von einem Teil der Literatur vertretene Ansicht, dass überlassene Arbeitskräfte ohne Rücksicht auf die Dauer ihres Einsatzes betriebsverfassungsrechtlich (auch) Arbeitnehmer des Beschäftigers seien, nicht abgelehnt. […]

Nachdem aber die damals betroffenen Arbeitnehmer (zumindest geplant) in einem zeitlichen Ausmaß beschäftigt waren, das der Oberste Gerichtshof jedenfalls als ausreichend ansah, traf er keine endgültige Aussage zur Berechtigung eines zeitlichen Kriteriums. […] 12

3.2. Wie bereits in der Entscheidung 9 ObA 22/91 festgehalten, kam es durch die Einführung des AÜG schon ex lege zu einer Übertragung gewisser Arbeitgeberaufgaben. […]

Bedenkt man, dass die Aufgabe des Betriebsrates nach § 38 ArbVG darin besteht, die wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer im Betrieb wahrzunehmen und zu fördern, ergibt sich schon aus den genannten Bestimmungen des AÜG ein breites Betätigungsfeld für die Wahrnehmung der Interessen der überlassenen Arbeitnehmer durch den Betriebsrat des Beschäftigerbetriebes. […]

3.3. Die hier relevante Bestimmung des § 50 ArbVG stellt einen Bezug zwischen der Anzahl der Betriebsratsmitglieder und den Mitwirkungsbefugnissen der Arbeitnehmerschaft her (vgl ErlRV 840 Blg-NR 13. GP 74). Das zahlenmäßige Verhältnis von Arbeitnehmern zu Betriebsratsmitgliedern nach § 50 ArbVG ist mit anderen Worten eine nach dem gesetzlich vermuteten Aufwand normierte Größe (Kallab in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 50 ArbVG Rz 8), in der Zahl der Betriebsratsmitglieder kommt der mögliche Aufwand für das Belegschaftsorgan zum Ausdruck (Löschnigg in Jabornegg/Resch, ArbVG [2017] § 50 Rz 6). Eine Differenzierung nach der Art der Beschäftigten ist § 50 ArbVG nicht zu entnehmen wie es auch irrelevant ist, ob ein Arbeitnehmer das aktive oder passive Wahlrecht besitzt; um bei der Zahl der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer (§ 50 Abs 2 ArbVG) mitgezählt zu werden, reicht es aus, Arbeitnehmer iSd § 36 ArbVG zu sein (Windisch-Graetz in Tomandl, ArbVG [2005] § 50 Rz 4) und – wenn wie hier ein Arbeiterbetriebsrat zu wählen ist – der betreffenden Gruppe im Betrieb anzugehören (Löschnigg in Jabornegg/Resch, ArbVG [2017] § 50 Rz 4 ff).

Nachdem der Beschäftigerbetrieb gegenüber dem überlassenen Arbeitnehmer in vielen Bereichen, die auch einer allfälligen Interessenwahrung durch den Betriebsrat bedürfen, wie ein arbeitsvertraglicher Arbeitgeber auftritt, kann es im konkreten Fall für den Umfang des Betätigungsfeldes des Betriebsrates und die durch die Zahl der zu vertretenden Arbeitnehmer bedingte Zahl der für diese Aufgabe abgestellten Betriebsratsmitglieder keinen Unterschied machen, ob die Gesamtzahl der zu vertretenden Arbeitnehmer sich aus Stammpersonal oder überlassenen Arbeitskräften aus nur kurzfristig beschäftigten oder längerfristig beschäftigten Arbeitnehmern zusammensetzt. Dass im Unterschied zur Stammbelegschaft die Zahl der überlassenen Arbeitskräfte naturgemäß zu stärkeren Schwankungen neigt, ist nicht ins Kalkül zu ziehen, weil der Gesetzgeber durch die Vorschrift des § 50 Abs 2 ArbVG klar eine Stichtagsregelung eingeführt (Satz 1) und sogar ausdrücklich festgehalten hat, dass eine spätere Änderung der Zahl der Arbeitnehmer auf die Zahl der Mitglieder des Betriebsrates keinen Einfluss hat (Satz 2).

3.4. Vor diesem Hintergrund würde es dem Sinn von § 50 ArbVG, der dafür sorgen soll, dass sich die vom Betriebsrat zu vertretenden Personen in der Anzahl der Betriebsratsmitglieder widerspiegeln, zuwiderlaufen, wenn nicht sämtliche überlassenen Arbeitskräfte bei der Ermittlung der Anzahl von zu wählenden Betriebsratsmitgliedern einbezogen würden. Dass ihre Zugehörigkeit zur Belegschaft des Überlasserbetriebes weiterbesteht und der dortige Betriebsrat – falls ein solcher besteht – auch bestimmte Interessen der überlassenen Arbeitnehmer zu vertreten hat, steht der Zuzählung aller überlassenen Arbeitnehmer zur Belegschaft des Beschäftigerbetriebes für die Frage der Ermittlung der Mandatszahl nicht entgegen, zumal sich die Zuständigkeiten der zwei Betriebsräte – des Überlasserbetriebes und des Beschäftigerbetriebes – ergänzen.

[…]

3.5. Ein Bedürfnis der Arbeitnehmer an der Wahrung ihrer Interessen in den dem Beschäftiger übertragenen Bereichen besteht von Beginn an. Das ArbVG und das AÜG bieten keinen Anhaltspunkt für eine zeitliche Einschränkung der Interessenwahrung durch den Beschäftigerbetriebsrat; vielmehr geht auch § 99 Abs 5 ArbVGlege non distinguente – von einer sofortigen Interessenwahrung durch den Beschäftigerbetriebsrat aus.

Arbeitnehmer des Stammpersonals werden unabhängig von der zeitlichen Ausgestaltung ihres Dienstverhältnisses betriebsverfassungsrechtlich von Beginn an als ‚vollwertige‘ Arbeitnehmer angesehen. […]

3.6. Letztlich ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Vorschrift des § 50 (iVm § 36) ArbVG über die Anzahl der Betriebsratsmitglieder um eine wahlrechtliche Vorschrift handelt. Um Streitigkeiten über das Wahlergebnis bzw die Gültigkeit des Wahlvorgangs hintanzuhalten, muss das Wahlrecht grundsätzlich formalistisch sein. Weder dem Wortlaut des § 36 ArbVG noch jenem des § 50 ArbVG kann unmittelbar entnommen werden, dass überlassene Arbeitnehmer nicht oder nur unter bestimmten Umständen, insbesondere einer bereits effektuierten oder zumindest zu erwartenden längeren Beschäftigungsdauer im Beschäftigerbetrieb, bei Bestimmung der Zahl der Betriebsratsmitglieder zu berücksichtigen wären. Auch der Gedanke der Rechtssicherheit spricht daher dagegen, einem Beschäftigerbetrieb überlassene Arbeitnehmer nur unter gewissen – im Gesetzestext aber gerade nicht verankerten – Voraussetzungen bei der Bestimmung der Größe des Betriebsrates nach § 50 ArbVG zu berücksichtigen.

3.7. Der Oberste Gerichtshof hält somit im Ergebnis die bereits von einem großen Teil der Literatur vertretene Ansicht, dass überlassene Arbeitnehmer ohne Erfordernis einer Mindestbeschäftigungsdauer auch Arbeitnehmer des Beschäftigerbetriebs iSd § 36 ArbVG sind, für überzeugend.

3.8. Die Einschätzung der Vorinstanzen, jene überlassenen Arbeitnehmer, die am Stichtag noch nicht sechs Monate bei der Klägerin beschäftigt gewesen sind, wären bei der Ermittlung der Anzahl der Betriebsratsmitglieder nach § 50 ArbVG nicht zu 13 berücksichtigen gewesen, wird vom Obersten Gerichtshof daher nicht geteilt. Sie wurden vielmehr zurecht in die Berechnung nach § 50 ArbVG einbezogen.

Gleiches gilt für die Leiharbeitskräfte mit eigenem Betriebsrat beim Überlasser, weil es wie dargestellt allgemein anerkannt ist, dass für die Interessenwahrnehmung eines überlassenen Arbeitnehmers grundsätzlich zwei Betriebsräte – jener des Überlasser- und jener des Beschäftigerbetriebes – gegeben sein können und es von der konkreten Angelegenheit abhängt, welcher der beiden Betriebsräte zuständig ist. […]“

ERLÄUTERUNG

Die E des OGH beseitigt eine allzu lange währende Rechtsunsicherheit der Betriebsverfassung.

Nun ist klargestellt, dass überlassene Arbeitskräfte – wie Stammbeschäftige – mit der Aufnahme der Beschäftigung im Beschäftigerbetrieb auch AN des Beschäftigerbetriebes iSd § 36 ArbVG sind und somit während der gesamten Dauer einer Überlassung sowohl der Belegschaft des Überlasser- als auch der Belegschaft des Beschäftigerbetriebes angehören.

In ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Stellung sind überlassene Arbeitskräfte somit Stammbeschäftigten gleichgestellt.

Der OGH hat sich in der E mit der Frage des aktiven Wahlrechts überlassener Arbeitskräfte im Wahlanfechtungsverfahren nicht auseinandergesetzt. Das mag auf den ersten Blick irritierend erscheinen, ist jedoch einem reinen Formalismus geschuldet. Die Frage der Ausübung des aktiven Wahlrechts war schlicht nicht Gegenstand des Verfahrens. Im Verfahren ging es ausschließlich um die Frage, ob die richtige Zahl der Betriebsratsmitglieder gewählt worden war.

Die Frage des Vorliegens des aktiven Wahlrechts wurde jedoch mit der E mitentschieden. Unter Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 52 ArbVG sind überlassene Arbeitskräfte im Beschäftigerbetrieb auch sofort wahlberechtigt. Sie müssen nur am Tag der Betriebsversammlung zur Wahl des Wahlvorstandes das 16. Lebensjahr (seit 1. 1. 2021) vollendet haben, und an diesem Tag und am Tag der Wahl im Rahmen des Betriebes beschäftigt sein.

Ebenso dürfen überlassene Arbeitskräfte mit der Aufnahme der Beschäftigung in der Ausübung ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse im Beschäftigerbetrieb weder beschränkt noch benachteiligt werden. Sie sind unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen an Betriebs- (Gruppen-, Betriebshaupt-)versammlungen unmittelbar teilnahme- und stimmberechtigt und sind für eine korrekte Abwicklung einer Betriebsratswahl wie Stammbeschäftigte zu berücksichtigen. Die Nichtberücksichtigung bzw Nichteinbeziehung überlassener Arbeitskräfte kann eine Betriebsratswahl daher mangelhaft und anfechtbar machen.

Durch die E ist weiters klargestellt, dass überlassene Arbeitskräfte im Beschäftigerbetrieb für das Vorliegen der Freistellungsgrenzen gem § 117 ArbVG unabhängig von der Dauer ihrer Überlassung mitzuzählen sind. Für das Erreichen der Freistellungsgrenzen ist daher entscheidend, ob die Summe der Stammbeschäftigten und aller überlassenen Arbeitskräfte die entsprechende Freistellungsgrenze dauernd überschreitet.