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Gleichzeitige Karenz von mehr als einem Monat schließt Zuständigkeit Österreichs für Kinderbetreuungsgeld aus

KRISZTINAJUHASZ

Sowohl die Definition des Begriffs „Beschäftigung“ in Art 1 lit a der VO 883/2004 als auch jene in Art 11 Abs 2 VO 883/2004 verweisen auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten.

Bei gleichzeitiger mehr als einmonatiger Inanspruchnahme einer ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil liegt daher gem § 24 Abs 3 KBGG keine Leistungszuständigkeit Österreichs und daher keine Exportverpflichtung vor. In solchen Fällen ist Österreich für die Gewährung von Familienleistungen auch nicht subsidiär zuständig.

SACHVERHALT

Die Kl lebt mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern in Deutschland. Sie ist seit 2013 bei einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland beschäftigt, ihr Beschäftigungsort liegt in Österreich. Ihr Ehemann ist in Deutschland erwerbstätig. Die Kl befindet sich seit 2016 aufgrund der Geburt ihres ersten Kindes im Karenzurlaub. Ihr Dienstverhältnis ist aufrecht. Nach der Geburt des ersten Kindes nahm der Ehemann der Kl vom 14.7. bis 13.8.2016 sowie von 14.6. bis 13.7.2017 (deutsche) Elternzeit in Anspruch.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragte vorerst das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld, modifizierte aber ihren Antrag dahin, dass sie die Gewährung der Sonderleistung I gem § 24d KBGG begehrte.

Das Erstgericht sprach der Kl die Ausgleichszahlung zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld zu und wies das darüberhinausgehende Mehrbegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge und ließ die Revision zu.

Gegenstand des Revisionsverfahrens war die Beurteilung der subsidiären Leistungszuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 für die Erbringung von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld 46 („Sonderleistung I“) als Ausgleichszahlung an die in Deutschland wohnhafte Kl anlässlich der Geburt ihres zweiten Kindes. Die Revision der Bekl war berechtigt. Der OGH hob die Urteile der Vorinstanzen auf und wies das Klagebegehren ab.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1 Die Klägerin ist Grenzgängerin gemäß der Definition nach Art 1 lit f VO 883/2004, in deren persönlichen Geltungsbereich sie sowie ihr Ehemann und ihre Kinder fallen (Familienangehörige gemäß Art 1 lit i VO 883/2004).

1.2 Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung umfasst ua Familienleistungen iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j der VO 883/2004, zu denen das österreichische Kinderbetreuungsgeld zählt (EuGHC-543/03, Dodl und Oberhollenzer; C-347/12, Wiering; RS0122905), auch wenn es als Ersatz des Erwerbseinkommens gewährt wird (RS0122905 [T4]). 2. Familienleistungen werden nach den Art 67–69 der VO 883/2004 koordiniert. […]

2.3 Art 67 (Exportverpflichtung) und Art 68 (Prioritätsregeln) der VO 883/2004 knüpfen an die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art 11 der VO 883/2004 an. Zunächst ist daher festzustellen, welchen Rechtsvorschriften die Klägerin unterliegt.

3.1 Nach Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, dies unabhängig davon, wo die betreffende Person ihren Wohnsitz hat. […].

3.2 Zu prüfen ist daher, ob die von der Klägerin in Anspruch genommene Karenz gemäß § 15 MSchG als ‚Beschäftigung‘ im Sinne des Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 zu qualifizieren ist und zur Anwendbarkeit österreichischen Rechts führt oder – falls dies zu verneinen ist – auf das deutsche Recht (als Recht ihres Wohnsitzstaats) abzustellen ist.

3.3 Der Begriff der ‚Beschäftigung‘ iSd VO 883/2004 wird in deren Art 1 lit a definiert. […] Damit verweist Art 1 lit a VO 883/2004 auf das Sozialrecht des betreffenden Mitgliedstaats (10 ObS 117/14z).

3.4 Gleichzeitig fingiert Art 11 Abs 2 der VO 883/2004 unter bestimmten Umständen eine Beschäftigung. Bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, wird davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben.

3.5 Darüber hinaus gilt als Beschäftigung im Sinne des Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 auch eine ‚gleichgestellte Situation‘. […]

4.1 Eine Definition des Begriffs ‚Beschäftigung‘ iSd Art 1 lit a VO 883/2004 ist für den Bereich des pauschalen und des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 KBGG festgelegt […]. Die […] nationalen Gleichstellungserfordernisse gelten auch für die Anwendung des Art 68 der VO 883/2004 (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11). […]

4.3 Auf diese Rechtslage bezogen sich die Entscheidungen 10 ObS 148/14h […] und 10 ObS 115/16h. Die Aussage dieser Entscheidungen lässt sich dahin zusammenfassen, dass § 15 Abs 1a MSchG iVm § 15a Abs 2 MSchG sowie § 2 VKG die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile für länger als einen Monat für nicht zulässig erklären, aber keine ausdrückliche Aussage zur gleichzeitigen Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil träfen. Die Inanspruchnahme der (deutschen) Elternzeit durch den anderen Elternteil stehe der Karenz nach dem MSchG daher nicht entgegen.

4.4 […] Mit der Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 wurde dem § 24 KBGG ein dritter Absatz angefügt. Dieser lautet:

‚Nur bei Erfüllung des nationalen Gleichstellungserfordernisses des Abs. 2 zweiter Satz liegt eine gleichgestellte Situation im Sinne des Art. 68 iVm Art. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 […] vor, wobei diese der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation für alle Eltern spätestens mit Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes endet. Eine Scheinkarenz löst keine österreichische Zuständigkeit aus, dasselbe gilt für Zeiten, in denen mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen kein gesetzlicher Anspruch auf die österreichische Karenz besteht, etwa bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer in- oder ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil.‘

4.5 Nach den Gesetzesmaterialien zu § 24 Abs 3 KBGG strebte der Gesetzgeber die Klarstellung an […]. Ausschließlich die Karenz nach dem MSchG und dem VKG (und nach gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften) soll gleichstellungsfähig sein. Werden die gesetzlichen Voraussetzungen einer österreichischen Karenz nicht eingehalten, wird die österreichische Zuständigkeit nicht ausgelöst, etwa wenn die Mindestdauer, Meldefristen nicht eingehalten wurden oder der andere Elternteil gleichzeitig Karenz in Anspruch nimmt (‚dasselbe gilt selbstverständlich auch für eine ausländische Karenz des anderen Elternteils‘) (ErläutRV 1110 BlgNR 24. GP 11). […]

6.1 Der Ansicht der Revisionswerberin […] ist zu folgen:

Sowohl die Definition des Begriffs ‚Beschäftigung‘ in Art 1 lit a der VO 883/2004 als auch jene in Art 11 Abs 2 VO 883/2004 verweisen auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten. Maßgeblich für die kollisionsrechtliche Anknüpfung ist demnach die nationale Definition des Begriffs der ‚Beschäftigung‘ sowie des Begriffs ‚der einer Beschäftigung gleichgestellten Situation‘. Beide Begriffe wurden vom Gesetzgeber für den Bereich des Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 und 3 KBGG (zulässigerweise) definiert (RS0130043).

6.2 […] Im Hinblick auf die während der Karenzzeit nach dem ersten Kind eingetretene weitere Schwangerschaft muss eine lückenlose Aneinanderreihung von Mutterschutz und Karenzzeiten vorliegen, die eine ‚Gleichstellungskette‘ auslöst […]. 47

6.3 Die in § 24 Abs 2 KBGG enthaltenen Gleichstellungsregelungen wurden durch den […] Abs 3 ergänzt. […] bei gleichzeitiger (mehr als einmonatiger) Inanspruchnahme einer ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil [soll] keine Leistungszuständigkeit Österreichs und daher keine Exportverpflichtung mehr gegeben sein […]. […] Elternteile, die in verschiedenen Mitgliedstaaten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, [werden] jenen Elternteilen gleichgestellt […], die lediglich in Österreich eine Erwerbstätigkeit ausüben. […] das Unionsrecht [schafft] kein einheitliches Sozialrecht […], sondern [lässt] das Sozialrecht der Mitgliedstaaten unberührt […]. Der Europäischen Union steht keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das sozialrechtliche Sachrecht zu, weshalb sie auch nicht eine Harmonisierung der Sozialleistungssysteme schaffen kann (RS0111028). […].

7. Zusammenfassend ist aus kollisionsrechtlicher Sicht ab der mehr als einmonatigen Inanspruchnahme von (deutscher) Elternzeit durch den Vater und gleichzeitiger Karenzzeit durch die Klägerin keine einer ‚Beschäftigung‘ iSd § 11 Abs 2 VO 883/2004 gleichgestellte Situation mehr vorgelegen. Die bis dahin gleichgestellten Zeiten können keine weitere Gleichstellung auslösen […].“

ERLÄUTERUNG

Die Zuständigkeitsverteilung nach den Prioritätsregeln wird in Form einer Zuständigkeitskaskade aufgebaut. Gem Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 stehen an erster Stelle Ansprüche, die deshalb bestehen, weil die betreffende Person im jeweiligen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt. Für die Auszahlung der Familienleistungen ist vorrangig jener Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Elternteil erwerbstätig ist und zwar auch dann, wenn die Familie ständig in einem anderen Vertragsstaat lebt. Diesen nachgereiht sind Ansprüche, die durch eine Rente ausgelöst werden. Darauf folgen an letzter Stelle Ansprüche, die aufgrund des Wohnsitzes bestehen. Für den Fall, dass ein Anspruchskonflikt deshalb besteht, weil die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten jeweils aus dem gleichen Grund (nämlich Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit; Rentenbezug; Wohnort) zur Anwendung kommen, bestimmt Art 68 Abs 1 lit b VO (EG) 883/2004 jenen Staat als vorrangig zuständig, in dem auch die Kinder ihren Wohnort haben.

Als Beschäftigung iSd Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 gilt auch eine der Beschäftigung „gleichgestellte Situation“. Dazu enthält der Beschluss Nr F1 der Verwaltungskommission zur Auslegung des Art 68 der VO (EG) 883/2004 eine Gleichstellungsregelung, wonach Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung durch unbezahlten Urlaub zum Zweck der Kindererziehung mit einer Beschäftigung gleichzuhalten sind, solange dieser Urlaub nach einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist. Eine der Ausübung der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation soll demnach nur bei Erfüllung der nationalen Gleichstellungserfordernisse des § 24 Abs 2 KBGG vorliegen.

§ 24 Abs 2 KBGG (BGBl I 2013/117) verstand unter Erwerbstätigkeit die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Als dieser gleichgestellt galten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens sechs Monate andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbotes nach dem MSchG oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung, während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder VKG oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.

Der Abs 2 des § 24 KBGG, in der hier anzuwendenden, für Geburten nach dem 28.2.2017 geltenden Fassung (BGBl I 2016/53; § 50 Abs 14 KBGG) ist im Wesentlichen unverändert geblieben. Die Gleichstellungsregelungen wurden durch den mit der Novelle BGBl I 2016/53neu geschaffenen Abs 3 ergänzt. Somit wurde eine Konkretisierung insofern erreicht, dass eine österreichische Zuständigkeit nicht ausgelöst werden kann, wenn kein gesetzlicher Anspruch auf die österreichische Karenz – aufgrund von Nichterfüllung der (nationalen) gesetzlichen Voraussetzungen, etwa bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer in- oder ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil – besteht.

Die Bekl und Revisionswerberin brachte vor, dass bei Anwendung des Art 68 VO 883/2004 für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld die nationalen Gleichstellungserfordernisse gelten. Um Karenzzeiten mit Zeiten einer Erwerbstätigkeit gleichhalten zu können, müssten die für den Anspruch auf Karenz vom MSchG/VKG geforderten Voraussetzungen eingehalten werden, ua dürfte keine länger als einen Monat andauernde gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile vorliegen. Dies gelte selbstverständlich auch, wenn der andere Elternteil eine ausländische Karenzzeit in Anspruch nehme. Da der Ehemann der Kl länger als einen Monat in deutscher Elternzeit gewesen sei, sei die gleichzeitige Karenzzeit der Kl beendet, somit sei sie ab diesem Zeitpunkt nicht erwerbstätig. Ihre karenzierte Beschäftigung stelle daher keine gleichgestellte Situation iSd Art 68 iVm Art 1 lit a VO 883/2004 dar. Daher sei Österreich mangels eines grenzüberschreitenden Anknüpfungspunkts nicht mehr für die Gewährung von Familienleistungen (subsidiär) leistungszuständig. 48

Der OGH hielt diese Ausführungen für berechtigt und gab der Revision Folge. Zudem betonte er, dass es – aufgrund von Fehlen eines gemeinsamen Sozialversicherungssystems in allen Mitgliedstaaten oder von Fehlen einer Vereinheitlichung der bestehenden nationalen Systeme – zu möglichen Unterschieden sowohl zu Gunsten, als auch zu Lasten von Grenzgängern kommen kann.