§ 2f AVRAG und Verfall
§ 2f AVRAG und Verfall
Der folgende Beitrag soll zeigen, dass sich der AG nicht mit Erfolg auf eine Verfallsklausel berufen kann, wenn er gegen seine Verpflichtung verstößt, dem AN eine ordnungsgemäße Lohnabrechnung zu übermitteln.
Die grundsätzliche Zulässigkeit von kollektiv- und arbeitsvertraglichen Verfallsklauseln ist spätestens seit der OGH-E 9 ObA 1/14h* in Stein gemeißelt und zu akzeptieren. In begründeten Einzelfällen bleibt dem AG die Berufung auf den Verfall aber verwehrt. Besonderes Augenmerk wird dabei dem rechtsmissbräuchlich erhobenen Verfallseinwand geschenkt. Dazu bildete sich die Rechtsprechungslinie heraus, dass sich der AG dann nicht auf den Verfall berufen kann, wenn er dem AN die Geltendmachung seiner Ansprüche erschwert oder praktisch unmöglich macht.* Dies gilt sowohl bei kollektiv-, als auch bei arbeitsvertraglichen Verfallsklauseln. In einem solchen Fall verstößt der Verfallseinwand gegen die Grundsätze von Treu und Glauben und ist sittenwidrig. Das Nichtaushändigen einer Lohnabrechnung stellt dabei mE – speziell auch unter Berücksichtigung des Normzwecks des § 2f AVRAG, dem AN Transparenz in Bezug auf die richtige und vollständige Bezahlung zu verschaffen – einen Paradefall dafür dar, dass ihm die Geltendmachung seiner Ansprüche erschwert wird, da er ohne Abrechnung keine Möglichkeit hat, erkennen zu können, ob bzw dass ihm welche vorenthalten wurden. Dabei wird in der Literatur* zutreffend nicht danach differenziert, ob die Verfallsfrist mit Fälligkeit des Anspruchs zu laufen beginnt, oder mit dem Erhalt der Lohnabrechnung.
Demgegenüber wies der OGH insb in der E 8 ObS 9/17g* darauf hin, dass der Verfallseinwand nur in jenen Fällen rechtsmissbräuchlich sei, in denen sich der Beginn des Fristenlaufs an den Erhalt der Lohnabrechnung knüpfe. Wenn die Frist hingegen mit Fälligkeit des Anspruchs zu laufen beginne, könne auch dann erfolgreich Verfall eingewendet werden, wenn keine Lohnabrechnung ausgestellt wurde. Diese Auffassung ist – zumin-54 dest seit der Einführung des § 2f AVRAG – abzulehnen:
Rechtsmissbrauch ist ein Anwendungsfall unzulässiger Rechtsausübung. Es handelt sich um Fallgruppen, die vom Gesetzgeber und der Rsp als so unlauter und letztlich dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit widersprechend angesehen werden, dass die Rechtsausübung sittenwidrig (§ 879 Abs 1 ABGB) und damit verwehrt ist. Erhebt der AG in einem Gerichtsverfahren den Verfallseinwand rechtsmissbräuchlich, ist dieser unbeachtlich. Unbeachtlich bedeutet, dass die Berufung auf den Verfall „an sich“ keine Wirkung entfaltet. Ausgehend davon kann es aber keine Rolle spielen, ob eine kollektiv- oder arbeitsvertragliche Verfallsfrist mit Erhalt der Lohnabrechnung, oder mit Fälligkeit des Anspruchs zu laufen beginnt. Wenn der Verfallseinwand unbeachtlich ist, gibt es in keinem Fall eine in Gang gesetzte Frist. Diese beginnt erst zu laufen (Fortlaufhemmung), wenn der AG sein rechtsmissbräuchliches Verhalten beendet und eine Lohnabrechnung übermittelt.*
Die Differenzierung zwischen Fälligkeit des Anspruchs und Erhalt der Lohnabrechnung führt zudem zu Ergebnissen, die tragenden Grundsätzen der Rechtsordnung zuwiderlaufen. Es existieren mit § 78 Abs 5 EStG, § 2f Abs 1 AVRAG und meist einer kollektivvertraglichen Regelung drei Rechtsgrundlagen, die den AG zur Übermittlung einer Lohnabrechnung verpflichten. Wenn sich ein AG zumindest an diese Verpflichtung hält und bspw über offenes Junigehalt eine Lohnabrechnung ausstellt, den darin ausgewiesenen Betrag aber nicht bezahlt, ist ihm die spätere Berufung auf eine Verfallsklausel verwehrt. Dies deshalb, da nach der zutreffenden Rsp jene Ansprüche, die in der Lohnabrechnung enthalten sind, als anerkannt gelten und es darüber keine Beweisschwierigkeiten geben kann, weshalb sie einer Verfallsklausel von vornherein entzogen sind.* Wenn der AG demgegenüber weder eine Lohnabrechnung ausstellt noch eine Zahlung leistet, soll ihm – bei Verfallsklauseln, die an die Fälligkeit des Anspruchs knüpfen* – der Verfallseinwand zugutekommen. Damit wird der Rechtsgrundsatz, wonach sich niemand durch ein eigenes rechtswidriges Verhalten einen Vorteil verschaffen soll, in sein Gegenteil verkehrt.* Belohnt wird ausgerechnet jener AG, der sich „maximale“ Rechtswidrigkeit leistet. Dass diese Rsp potentiell nicht dazu führt, dass die Bereitschaft zum Übermitteln von Lohnabrechnungen steigt, kann zudem als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Eine gesetzlich angeordnete Leistungspflicht kann aber nur dann eine effektive Wirkung erzielen, wenn sich der Verstoß dagegen nicht auszahlt. Vor diesem Hintergrund stellt die Unzulässigkeit des Verfallseinwands wohl die einzige, wirkungsvolle Konsequenz dar. § 2f AVRAG steht nicht unter Verwaltungsstrafe, die verzugsbedingten Rechtsbehelfe des vorzeitigen Austritts bzw der Zurückhaltung der Arbeitsleistung werden als überschießend zu betrachten sein und die Leistungsklage auf Übermittlung einer Lohnabrechnung ist für den AN ein äußerst schwacher Trost, wenn bei Rechtskraft des Urteils die Verfallsfrist längst abgelaufen ist und damit nicht abgerechnete Ansprüche untergegangen sind.
Der OGH betonte in der E vom 26.1.2018, 8 ObS 9/17g, weiters, dass dem AN jedenfalls beim dortigen Sachverhalt – es wurde mehrere Monate gar kein Entgelt bezahlt – auch ohne Lohnabrechnung auffallen hätte können und müssen, dass ihm Ansprüche vorenthalten wurden.
Diese Ansicht lässt zum einen die dargestellten Wertungen des § 2f AVRAG außer Betracht und führt zum anderen dazu, dass ausgerechnet jener AG den Verfallseinwand mit Erfolg einwenden kann, der die Ansprüche des AN am stärksten (iS von am auffälligsten) verkürzt.* Zudem wirft diese Ansicht weit mehr Fragen auf, als sie beantworten kann. Ab wann muss der AN erkennen, dass ihm Ansprüche vorenthalten wurden? Gibt es dazu eine prozentuelle oder eine betragsmäßige Schwelle? Wie verhält es sich bei stark schwankendem Einkommen, bspw durch Zulagen, Provisionen, unregelmäßigen Aufwandsersätzen etc? Was gilt bei untermonatigem Eintritt oder Austritt, wobei im Zuge letzterem in der Regel zusätzliche Ansprüche abgerechnet werden?* Was gilt bei Sachbezügen, etwaigen Kostenbeiträgen, steuerlichen Absetzbeträgen, dem Familienbonus usw? Diese Fragen, die nie-55mand verlässlich beantworten kann, zeigen, dass kein Anlass für eine Differenzierung in Bezug darauf besteht, ob der AN auch ohne Lohnabrechnung das Vorenthalten von Ansprüchen erkennen kann. Anerkennt man die Komplexität der Lohnverrechnung sowie die Bandbreite in Bezug auf die Auszahlung verschieden hoher Nettobeträge jeden Monat, so zeigt sich der zentrale Normzweck des § 2f AVRAG in voller Deutlichkeit. Dementsprechend ist auch jede Unterscheidung abzulehnen, die die Grundwertungen des § 2f AVRAG dadurch untergräbt, dass der Verfall auch ohne Erhalt einer Lohnabrechnung und damit trotz gesetzwidrigem Verhalten des AG für zulässig angesehen wird.
Soweit der OGH hervorhebt,* dass dem AN nur dann Klarheit über seine Ansprüche verschafft werden soll, wenn der KollV den Beginn des Fristenlaufs an die Ausfolgung einer Lohnabrechnung knüpft, so ist ihm entgegenzuhalten, dass sich dieses Klarstellungsinteresse nicht aus der Formulierung einer Verfallsklausel ergibt, sondern sowohl aus der in vielen Kollektivverträgen enthaltenen Verpflichtung zur Ausstellung der Lohnabrechnung als auch nunmehr aus § 2f AVRAG. Jedem AN kommt, unabhängig davon, ob ein KollV gilt oder nicht bzw wie dieser – oder der Arbeitsvertrag – den Beginn der Verfallsfrist regelt, ein eminentes Interesse daran zu, dass er in Form einer Lohnabrechnung kontrollieren und erkennen kann, ob er korrekt abgerechnet wurde. Einschlägige kollektivvertragliche Verpflichtungen werden nunmehr durch § 2f AVRAG überlagert und der dahinterstehende Normzweck wird generalisiert, da dieser nicht branchenabhängig ist und eben nicht nur in jenen Bereichen Geltung entfalten soll, in denen die Kollektivvertragsparteien an das Kontrollbedürfnis des AN in Bezug auf seine Ansprüche gedacht haben. Diese „informelle“ Schutzwürdigkeit jedes AN rechtfertigt in Bezug auf den Verfallseinwand keine Differenzierung danach, wie sich der Fristenlauf kollektivoder arbeitsvertraglich darstellt.*
Letztlich ist zu beachten, dass die Kollektivvertragspartner an die Grundrechte gebunden sind. Dazu zählt bekanntlich auch der Gleichheitssatz (Art 7 B-VG), der dem Normgeber unsachliche Differenzierungen verbietet. Erlaubt sind solche nur, wenn diese „aus entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen“
ableitbar sind.* Eine rechtliche Differenzierung setzt dabei das Bestehen von zwei Normen voraus, die eine unterschiedliche Rechtsfolge nach sich ziehen. AN, die keine Lohnabrechnung bekommen haben, befinden sich insoweit in einer völlig vergleichbaren Situation. Kein AN kann in diesem Fall die Richtigkeit seiner Ansprüche kontrollieren. Knüpfen Gewerkschaft und Wirtschaftskammer im KollV A (erste Norm) den Fristenlauf an den Erhalt einer Lohnabrechnung, im KollV B (zweite Norm) demgegenüber nur an die Fälligkeit des Anspruchs, behandeln sie jene AN-Gruppe, die letzterem KollV unterliegt, bei identem Schutz- und Kontrollbedürfnis ohne jede sachliche Rechtfertigung schlechter, indem sie – entgegen § 2f AVRAG – Ansprüche verfallen lassen, obwohl den AN die Überprüfung ihrer Ansprüche verunmöglicht bzw erschwert wurde. Es widerspricht mE auch dem aus dem Gleichheitssatz ableitbaren allgemeinen Sachlichkeitsgebot,* wenn dem AN durch eine kollektivvertragliche Regelung ohne ausreichende Erkennbarkeit ein finanzieller Anspruch nach kurzer Frist vernichtet wird, der AG dafür aufgrund seines gesetzwidrigen Verhaltens alleinverantwortlich ist und sich dadurch auch noch einen finanziellen Vorteil einräumt.* Jene Verfallsklauseln, die für den Beginn des Fristenlaufs Fälligkeit vorsehen, sind daher insoweit teilnichtig und durch jene Regelung zu ersetzen, die bei Beachtung der Sittenwidrigkeit getroffen worden wäre.* Dies kann nur der Beginn des Fristenlaufs (erst) nach Übermittlung einer ordnungsgemäßen Lohnabrechnung sein. Diese Ansicht entspricht auch der Absicht des Gesetzgebers, der mit § 2f AVRAG kollektivvertragliche Schutzlücken schließen und damit sämtliche AN in Bezug auf den Anspruch auf eine Lohnabrechnung gleich behandeln wollte.* Der Verfallseinwand ist somit stets unbeachtlich, wenn der AG keine Lohnabrechnung übermittelt, oder eine solche, die mit den inhaltlichen Vorgaben des § 2f Abs 1 AVRAG nicht im Einklang steht.
Viele Kollektiv- und Arbeitsverträge beinhalten Verfallsklauseln, die sich auf sämtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis beziehen. § 2f AVRAG verschafft dem AN einen solchen arbeitsrechtlichen Anspruch. Dies könnte zur Annahme verleiten, dass eine Verfallsfrist nach deren Ab-56lauf auch den Anspruch auf eine Lohnabrechnung beseitigt.* Diese Ansicht ist aus folgenden Gründen abzulehnen:
Folgt man der hier vertretenen Meinung, dass aus § 2f AVRAG ableitbar ist, dass ohne Übermittlung einer Lohnabrechnung der Verfallseinwand stets rechtsmissbräuchlich und damit unbeachtlich ist, muss dies ebenso für den Anspruch auf Erhalt der Lohnabrechnung gelten. Was hilft dem AN der Umstand, dass ohne Lohnabrechnung nichts verfallen kann, wenn er nie in die Lage versetzt wird, seine Ansprüche überprüfen und sich Klarheit verschaffen zu können, weil der Anspruch auf die einzig verlässliche Kontrollgrundlage verfällt? Damit könnte der Normzweck des § 2f AVRAG gänzlich umgangen werden. Auch hier gilt wiederum, dass die Ansicht des OLG Wien dazu führt, dass sich ausgerechnet jener AG einen Vorteil verschafft, der seine einschlägigen Verpflichtungen konsequent ignoriert. Der Verfallseinwand in Bezug auf die Übermittlung einer Lohnabrechnung ist daher mE stets rechtsmissbräuchlich, da dem AN dadurch die Geltendmachung offener Entgelte bewusst erschwert bzw verunmöglicht wird. Der Anspruch unterliegt somit ausschließlich der dreijährigen Verjährungsfrist, die mit Fälligkeit des Entgelts zu laufen beginnt. Zu beachten ist auch, dass die Ansicht des OLG Wien nur jene Verfallsklauseln betreffen kann, bei denen die Frist mit Fälligkeit des Anspruchs zu laufen beginnt. Solche Klauseln sind aber – wie zuvor dargestellt – teilnichtig, da sie gegen den Gleichheitssatz verstoßen bzw eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen bewirken.*
Abschließend ist im hier gegebenen Zusammenhang die Frage zu klären, ob nicht abgerechnete Ansprüche ohne Lohnabrechnung verjähren können. Der Verfall kommt – wie gezeigt – nicht in Betracht, die Verjährung halte ich demgegenüber für nicht ausgeschlossen. Davon scheint auch Schrank* auszugehen, wenn er von der Möglichkeit spricht, den „Verjährungsschaden“ zu begehren. Ein solcher Schaden kommt mE eher nicht in Betracht, da der AN ja den Anspruch auf die Lohnabrechnung gerichtlich durchsetzen kann, wofür er drei Jahre Zeit hat. Lässt er diese Frist verstreichen, bleibt kein Platz mehr für eine darauffolgende, über die Dreijahresfrist hinausreichende Schadenersatzklage, zumal dem AN innerhalb von drei Jahren eine ausreichende, objektive Möglichkeit geboten wird, sich über offene Ansprüche durch (gerichtliches) Einfordern der Lohnabrechnung im Klaren zu werden.* Die gegenteilige Ansicht wäre mit dem Zweck der Verjährung, für Bereinigung und Rechtssicherheit zu sorgen, schwierig in Einklang zu bringen.
In solchen Konstellationen sind sowohl der Verfall als auch die Verjährung zu beachten. Erhält der AN die Lohnabrechnung bspw nach zwei Jahren, so steht ihm eine dreimonatige Verfallsfrist zur Gänze zur Verfügung, da diese erst mit Erhalt der Abrechnung zu laufen beginnt. Innerhalb dieser ist der AN allerdings auch gehalten, etwaige Ansprüche außergerichtlich zu fordern. Die Verjährungsfrist ist ebenfalls noch offen, verlängert sich aber nicht, dh es darf auch die gerichtliche Geltendmachung nicht übersehen werden.* Davon sind aber Ausnahmen zu machen. Erhält der AN die Lohnabrechnung bspw erst zwei Wochen vor dem Ablauf der Verjährungsfrist des etwaigen Entgeltanspruchs, wird die außergerichtliche Geltendmachung zur Verfallswahrung nicht mehr entscheidend sein, da diese den Ablauf der Verjährungsfrist nicht hindert. Der Verjährungseinwand wäre in diesem Fall allerdings rechtsmissbräuchlich, da dem AN durch das langdauernde, rechtswidrige Verhalten des AG zeitlich keine ausreichende Kontrolle seiner Ansprüche ermöglicht wurde.*
Ansonsten muss mE die Einbringung einer Klage auf Übermittlung der Lohnabrechnung zur Hemmung der Verjährung nicht abgerechneter Ansprüche führen. Dabei handelt es sich um eine Ablaufhemmung.* Wenn der AN daher innerhalb von drei Jahren die Abrechnung einklagt, diese aber erst nach drei Jahren tatsächlich erhält, hat er offene Entgeltansprüche im Anschluss daran ohne unnötigen Aufschub einzuklagen. Dabei ist ihm eine angemessene Frist einzuräumen, die nach der Rsp rund zwei bis maximal drei Monate beträgt* und die auch für die Beurteilung der rechtzeitigen Geltendmachung im Fall des – zuvor erwähnten – Erhalts der Lohnabrechnung kurz vor dem Ende der Verjährungsfrist maßgeblich sein kann. 57