66

Auslegung eines ärztlichen Freistellungszeugnisses über Beginn des vorzeitigen Mutterschutzes

CHRISTINANEUNDLINGER

Anlässlich der Schwangerschaft der Kl wurde der voraussichtliche Entbindungstermin mit dem 15.8.2018 errechnet. Am 23.5.2018 stellte der Facharzt für Frauenheilkunde der Kl auf dem in der Mutterschutzverordnung dafür vorgesehenen Vordruck ein fachärztliches Zeugnis gem § 3 Abs 3 MSchG zur Vorlage beim Sozialversicherungsträger aus. Dieses ist mit 23.5.2018 datiert und vom Arzt unterschrieben. In der Folge erkundigte sich die Kl bei der Bekl, ob es zutreffe, dass für den Beginn des „vorzeitigen Mutterschutzes“ der Zeitpunkt der Übermittlung des Freistellungszeugnisses maßgeblich sei. Sie erhielt die Auskunft, dass der Beginn der Schutzfrist auf dem Freistellungszeugnis festzuhalten sei. Die Kl verrichtete ihre Arbeit bis zum 31.5.2018 und suchte am 1.6.2018 neuerlich ihren Arzt auf. Dieser ergänzte das Freistellungszeugnis handschriftlich dahin, dass es ab dem 1.6.2018 gültig sein sollte. Die Ergänzung ist mit 1.6.2018 datiert und vom Arzt unterschrieben. 110

Die Kl steht auf dem Standpunkt, der Versicherungsfall sei erst am 1.6.2018 eingetreten. Der Beobachtungszeitraum der letzten drei Kalendermonate vor dem Eintritt des Versicherungsfalls umfasse daher die Monate März, April und Mai 2018, woraus sich ein höherer täglicher Wochengeldanspruch ergebe als von der Bekl zugrunde gelegt.

Der bekl Sozialversicherungsträger hält dem entgegen, der Versicherungsfall der Mutterschaft sei bereits am 23.5.2018 eingetreten, sodass der Beobachtungszeitraum gem § 162 Abs 3 ASVG die Monate Februar, März und April 2018 umfasse.

Die Kl begehrt die Zahlung eines über € 57,18 täglich hinausgehenden Wochengeldes im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.6.2018. Das Berufungsgericht maß dem vom Arzt der Kl ausgestellten und ergänzten Zeugnis den Inhalt zu, dass die Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Mutter oder Kind bei der Fortdauer oder Aufnahme der Beschäftigung bereits ab dem 23.5.2018 vorgelegen sei und wies das Klagebegehren über Berufung der Bekl ab.

Der OGH wies die außerordentliche Revision der Kl mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurück.

Der Versicherungsfall der Mutterschaft gilt nach § 120 Z 3 zweiter Satz ASVG („vorzeitiger Mutterschutz“) in jenem Zeitpunkt und für jenen Zeitraum als eingetreten, in dem im Einzelfall aufgrund eines fachärztlichen, arbeitsinspektionsärztlichen oder amtsärztlichen Zeugnisses nachgewiesen wird, dass das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung gefährdet wäre.

Das nach der Mutterschutzverordnung ausgestellte ärztliche Zeugnis beinhaltet eine Wissenserklärung des Arztes über das Vorliegen einer Gefährdung und ist nach den Grundsätzen des § 914 ABGB auszulegen. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Urkunde, dass der behandelnde Arzt am 23.5.2018 die Gefährdung iSd § 3 Abs 3 MSchG bestätigte, ohne einen in der Zukunft liegenden Beginnzeitpunkt anzugeben. Es entspricht einem unbefangenen Verständnis einer solchen Bestätigung, dass damit das Bestehen der Gefährdung ab dem Ausstellungszeitpunkt, also dem 23.5.2018, dokumentiert werden sollte. Aus der Urkunde ergibt sich weiters, dass der behandelnde Arzt am 1.6.2018 seine Einschätzung durch den Vermerk ergänzte, dass das Zeugnis ab dem 1.6.2018 gelte. Eine ausdrückliche Stellungnahme des Inhalts, dass die am 23.5.2018 getätigte Eintragung unrichtig gewesen wäre, etwa, weil darin die damalige Einschätzung des behandelnden Arztes versehentlich nicht zutreffend wiedergegeben wäre, ist dem ergänzenden Vermerk nicht zu entnehmen.

Es begründet daher keine vom OGH aufzufassende Fehlbeurteilung, wenn das Berufungsgericht das ärztliche Zeugnis in der Form, wie es ihr vorgelegt wurde – also einschließlich der Ergänzung vom 1.6.2018 –, dahin auffasste, dass der ausstellende Facharzt damit zum Ausdruck brachte, dass er am 23.5.2018 aus ärztlicher Sicht der Überzeugung war, dass eine Gefährdung iSd § 3 Abs 3 MSchG bereits gegeben war. Entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin hat das Berufungsgericht die ärztliche Beurteilung auch nicht „umgedeutet“, sondern lediglich die ärztliche Bescheinigung in vertretbarer Weise ausgelegt.