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Berücksichtigung von im Unionsgebiet verbrachten Kindererziehungszeiten für österreichische Alterspension bei ausschließlicher Erwerbstätigkeit in Österreich – Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet

SOPHIAMARCIAN
Art 44 Abs 2 DVO (EG) 987/2009

Die Kl ist 1957 geboren und absolvierte eine Lehre und ein Studium in Österreich. Nach ihrem Studium war sie aufgrund einer selbstständigen Tätigkeit pflichtversichert, bis sie sich im Oktober 1986 in das Vereinigte Königreich begab, um dort neuerlich ein Studium zu absolvieren. Ein Jahr später übersiedelte sie nach Belgien, wo sie kurze Zeit später ihr erstes Kind zur Welt brachte (5.12.1987). Am 23.2.1990 kam das zweite Kind der Kl zur Welt. Zunächst lebte die Familie in Belgien, bis sie dann für einige Monate nach Ungarn und ins Vereinigte Königreich gingen. Schließlich kehrte die Kl mit ihren Söhnen am 8.2.1993 zurück nach Österreich. Bis zu ihrem Pensionsantritt im Oktober 2017 war die Kl selbstständig und unselbstständig in Österreich erwerbstätig und pflichtversichert.

Die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) berücksichtigte bei der Berechnung der Alterspension der Kl Kindererziehungszeiten im Zeitraum von Jänner 1993 bis Februar 1994, die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung, die die Kl in anderen Mitgliedstaaten (Belgien, Ungarn) verbracht hatte, wurde abgelehnt. Der Art 44 Durchführungsverordnung (DVO) 987/2009 sieht grundsätzlich eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten, die in anderen (als dem für die Pension zuständigen Mitgliedstaat) verbracht worden sind, nur dann vor, wenn diese Mitgliedstaaten keine Kindererziehungszeiten berücksichtigen und zu Beginn dieser Kindererziehungszeit eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde. Da die Kl unmittelbar vor Beginn der Kindererziehungszeiten keine Erwerbstätigkeit in Österreich oder einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt habe und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in diesen Mitgliedstaaten (Belgien, Ungarn) grundsätzlich vorgesehen sei, sah die PVA die Voraussetzungen einer Anrechnung von im Ausland verbrachten Kindererziehungszeiten nach Art 44 DVO 987/2009 als nicht erfüllt an.

Dagegen richtet sich Klage der Versicherten mit der Begründung, es seien auch die in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Zeiten der Kindererziehung von 5.12.1987 bis 31.1.1993 als Ersatzzeiten zu berücksichtigen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren der Kl ab, das Berufungsgericht bestätigte diese E.

Der OGH fasste den Beschluss, das Verfahren zu unterbrechen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

„1. Ist Art 44 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?

Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:

2. Ist Art 44 Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?“

In seinem Beschluss vertrat der OGH die Ansicht, dass für die in Belgien und Ungarn zurückgelegten Zeiten der Kindererziehung noch nicht die VO (EG) 883/2004, sondern die Vorgängerin VO (EWG) 1408/71 anzuwenden ist. Für die Zuständigkeit Österreichs bei der Anrechnung der in Belgien und Ungarn absolvierten Kindererziehungszeiten müssen die Voraussetzungen des Art 44 DVO 987/2009 erfüllt sein. Da die Kl aber weder in Belgien noch in Ungarn selbstständig oder unselbstständig erwerbstätig war, sondern sich allein der Erziehung 119 der Kinder gewidmet hat, sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt.

Daher stellt sich für den OGH die Frage der Auslegung des Art 44 DVO 987/2009 insb im Hinblick auf einen allfälligen Verstoß gegen Primärrecht. Art 21 AEUV verbrieft den Unionsbürgern das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen. Art 44 DVO 987/2009 kann als eine das Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV in zulässiger Weise einschränkende Durchführungsvorschrift angesehen werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass die VO 883/2004 und die DVO 987/2009 keine Harmonisierung oder auch nur eine Annäherung, sondern lediglich eine Koordinierung der von den Mitgliedstaaten geschaffenen Systeme der sozialen Sicherheit bezwecken; die Versicherten können nicht verlangen, dass ihr Umzug in einen anderen Mitgliedstaat keine Auswirkungen auf die Art oder das Niveau der Leistung hat, die sie in ihrem Herkunftsstaat beanspruchen konnten. Auch richtet sich gem Art 1 lit t VO 883/2004 die Frage, welche Zeiten als Versicherungszeiten anzuerkennen sind und welche Qualität ihnen zukommt, immer nach dem Recht des Staates, in dem diese Zeiten zurückgelegt werden.

Dagegen spricht jedoch im vorliegenden Fall, dass die Kl ihr gesamtes Erwerbsleben in Österreich verbracht hat und daher eine hinreichende Verbindung zum österreichischen Sozialversicherungsrecht argumentiert werden kann (vgl EuGH 7.2.2002, C-28/00, Kauer). Zudem – so der OGH – könnte ein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliegen. Nach stRsp des EuGH ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes Teil der Unionsrechtsordnung und muss von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Regelungen der Union beachtet werden (EuGH 11.7.2002, C-62/00, Marks & Spencer). Mit diesem Grundsatz steht es zwar prinzipiell im Einklang, dass eine neue Regelung auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der früheren Regelung entstanden ist, angewandt wird, nicht aber, dass einem Berechtigten durch eine Änderung der anwendbaren Regelung rückwirkend ein auf der Grundlage der früheren Regelung erworbenes Recht genommen wird. Da die VO 1408/71 keine dem Art 44 DVO 987/2009 vergleichbare Regelung enthielt und die Kl die Kindererziehungszeiten im zeitlichen Anwendungsbereich dieser VO zurücklegte, sprechen laut OGH beachtliche Gründe dafür, belgische und ungarische Kindererziehungszeiten als nach österreichischem Recht zu prüfende Kindererziehungszeiten zu qualifizieren, weil im Anwendungsbereich der VO 1408/71 von einer hinreichenden Verbindung der Kl zum österreichischen Sozialversicherungssystem auszugehen wäre und sich durch die (spätere) Einführung des Art 44 DVO 987/2009 mit 1.5.2010 die Rechtsposition der Kl hinsichtlich der im Ausland absolvierten Kindererziehungszeiten evident verschlechtert hätte. Die Kl könnte also eine Vertrauensposition erworben haben, in die durch Art 44 DVO 987/2009 in einer den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzenden Weise eingegriffen wird. Für den weiteren Verlauf bleibt abzuwarten, wie der EuGH die gestellten Vorabentscheidungsfragen beantwortet.