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Unterschiedliches Pensionsalter und damit zusammenhängendes Abschlagssystem ist unionsrechtlich zulässig

MONIKAWEISSENSTEINER
RL 79/7/EWG; Art 23 GRC; BVG Altersgrenzen; § 5 APG

Österreich hat berechtigt von der von der RL 79/7/EWG eingeräumten Möglichkeit, die Festsetzung des Rentenalters vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, Gebrauch gemacht.

Das vom Gesetzgeber des APG gewählte System von Abschlägen und Zuschlägen ist mit den Bestimmungen des Bundesverfassungsgesetzes (BVG) Altersgrenzen über das unterschiedliche Pensionsalter von Frauen und Männern eng verbunden, stellt eine notwendig an die Festsetzung des unterschiedlichen Rentenalters geknüpfte Konsequenz dar und ist daher von der Ausnahme in Art 7 Abs 1 lit a der RL 79/7/EWG erfasst.

Die Abschläge von 5,1 % bzw die bei späterer Inanspruchnahme der Alterspension für Frauen vorgesehenen Zuschläge können iSd Rsp des EuGH auch der Höhe nach von der Ausnahmemöglichkeit des Art 7 Abs 1 lit a der RL 79/7/EWG als gedeckt angesehen werden.

SACHVERHALT

Mit Bescheid vom 19.6.2018 anerkannte die Bekl den Anspruch des Kl auf Korridorpension und stellte die Höhe mit € 3.084,54 fest; dabei wurden wegen der Inanspruchnahme vor der Vollendung des 65. Lebensjahres Abschläge von 10,2 % vorgenommen. Ohne diese Abschläge wäre die Pension um € 350,36 höher.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Der Kl begehrte eine Differenzzahlung in Höhe von € 350,36 für den Monat Juni 2018 sowie die Feststellung, dass sein Pensionsanspruch ohne Abschläge bestehe.

Das Erstgericht wies dieses Feststellungsbegehren und das Begehren auf die Differenzzahlung ab. Die kritisierten Zu- und Abschläge seien Auswirkungen des verfassungsrechtlich abgesicherten unterschiedlichen Pensionsalters. Auch das Unionsrecht verpflichte nur zu einer schrittweisen Verwirklichung der Geschlechtergleichbehandlung.

Gleichzeitig mit der Berufung erhob der Kl beim VfGH einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG gestützten Antrag wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz. Der VfGH lehnte mit Beschluss vom 4.12.2019, G 107/2019, die Behandlung ab (DRdA-infas 3/2020, 166).

Das Berufungsgericht gab nach Fortsetzung des Verfahrens der Berufung des Kl nicht Folge. Es verwies zur Zulässigkeit der Höhe der Abschläge dabei auf die E des EuGH 30.4.2004, C-172/02, Bourgard, mit ähnlich hohen tolerierten Abschlägen und das Ermessen der Mitgliedstaaten zur Wahrung des finanziellen Gleichgewichts der Sozialversicherungssysteme. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Die außerordentliche Revision des Kl ist zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. Zum österreichischen Recht: […]

1.2 Die Berechnung der Höhe der Korridorpension knüpft an das Regelpensionsalter von 65 Jahren für Männer und 60 Jahren für Frauen an. Ihre Inanspruchnahme führt zu Abschlägen in Höhe von 5,1 % für jedes vorgezogene Jahr (§ 5 Abs 2 APG).

1.3 Das Regelpensionsalter ist Gegenstand des – noch vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union – in Kraft getretenen Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten (BVG Altersgrenzen, BGBl 1992/832). Gemäß dessen § 1 sind gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten in der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. […] Die Altersgrenze für die Alterspension für weibliche Versicherte steigt […] erst ab dem Jahr 2024 in Sechsmonatsschritten bis zum Jahr 2033 auf das vollendete 65. Lebensjahr an, sodass das Regelpensionsalter für Frauen und Männer erst im Jahr 2033 dasselbe wie jenes der Männer sein wird.

1.4 Nach den Gesetzesmaterialien sollte die bestehende Privilegierung weiblicher Versicherter beim Pensionsantritt so lange aufrecht erhalten werden, wie die gesellschaftliche, familiäre und ökonomische Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt dies erfordert (ErlRV 737 BlgNR 18. GP 4).

1.5 Diese – in der Zukunft liegende – Gleichbehandlung von Frauen und Männern hinsichtlich des Regelpensionsalters spiegelt sich im APG wider, nach dem für Frauen vorläufig weiterhin das vollendete 60. Lebensjahr als Regelpensionsalter gilt (§ 16 Abs 6 APG […]). Damit ist die Angleichung bisher nur für den Bereich der Alterspension vorgesehen, der Prozess der Angleichung wird erst im Jahr 2024 beginnen. […]

2. Zum unionsrechtlichen Sekundärrecht:

2.1 Seit dem Beitritt Österreichs zum EWR (mit 1.1.1994) und zur Europäischen Gemeinschaft (mit 1.1.1995) ist die Richtlinie 79/7/EWG vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit zu beachten. 128

2.2 Nach Art 4 der Richtlinie ist jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere bei der Berechnung der Leistungen, verboten. […]

2.3 Nach Art 7 Abs 1 iVm Abs 2 der Richtlinie ist es jedem Mitgliedstaat unbenommen, diskriminierende Regelungen auch noch nach Ablauf der Umsetzungsfrist in Bezug auf fünf – im Einzelnen aufgezählte – Ausnahmetatbestände aufrecht zu erhalten, denen im Wesentlichen gemeinsam ist, dass sie ‚begünstigende‘ Leistungen für Frauen perpetuieren wollen. Nach der in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie zugelassenen (praktisch wichtigsten) Ausnahme können die Mitgliedstaaten die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen.

2.4 Zu der Frage, ob das Unionsrecht (Richtlinie 79/7/EWG iVm den Art 21 und 23 GRC) dahin auszulegen sei, dass die österreichischen Regelungen zur etappenweisen Angleichung des Regelpensionsalters von Frauen an jenes von Männern erst ab dem Jahr 2024 den sich aus Art 21 Abs 1 und Art 23 GRC ergebenden Gleichheitsgeboten widersprechen, hat der Oberste Gerichtshof zuletzt in der Entscheidung 10 ObS 44/14i (SSV-NF 28/74) […] Stellung genommen. Nach dieser Entscheidung verstößt diese Regelung nicht gegen die in Art 20, 21 Abs 1 und Art 23 Abs 21 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, die Österreich bei der Umsetzung der Richtlinie 79/7/EWG gemäß Art 51 Abs 1 GRC zu beachten hat. […] Eine Vorabentscheidung des EuGH wurde nicht eingeholt (dazu kritisch Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen? ZAS 2015, 222).

3. Die kritischen Stellungnahmen erfordern eine neuerliche Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof dahin, ob ein Vorabentscheidungsersuchen einzuholen ist.

3.1. Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie erlaubt die Festsetzung eines nach Maßgabe des Geschlechts unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für die Gewährung von Alters- und Ruhestandsrenten sowie Formen der Diskriminierung, die notwendig mit dem Unterschied verbunden sind (EuGHC-9/91, The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: the Equal Oppurtunities Commission, Rn 20). Der Unionsgesetzgeber wollte mit dieser Regelung die Mitgliedstaaten ermächtigen, die den Frauen zuerkannten Vorteile im Zusammenhang mit dem Ruhestand vorübergehend aufrecht zu erhalten, um es diesen Staaten zu ermöglichen, die Rentensysteme in dieser Frage schrittweise zu ändern, ohne das komplexe Gleichgewicht dieser Systeme zu stören. […] Die Mitgliedstaaten haben aber die Kommission über die Gründe, die eine etwaige Beibehaltung der geltenden Bestimmungen in den unter Art 7 Ab 1 genannten Bereichen rechtfertigen, sowie über die Möglichkeit einer späteren Revision zu berichten (Art 8 Abs 2 der Richtlinie). Abgesehen von der ständigen Überprüfungspflicht gilt der Ausnahmetatbestand des Art 7 der Richtlinie zeitlich unbegrenzt.

3.2 Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG stellt eine Ausnahme vom Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots dar und nicht bloß einen Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung. […]

3.4 Im Hinblick darauf, dass das Ziel der Richtlinie in der schrittweisen Verwirklichung der Gleichbehandlung liegt, wurden in der Lehre wiederholt Bedenken gegen die Unionsrechtskonformität der im BVG Altersgrenzen gewählten Übergangsfristen dahin geäußert, dass die gewählte Zeitspanne zu lang sei, um noch den Vorgaben des Art 7 zu entsprechen. […]

3.5 Dem ist entgegenzuhalten, dass die von der Richtlinie bezweckte schrittweise Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ihren Niederschlag in den Ausnahmebestimmungen […] findet und sich nicht nur im Fehlen eines festgelegten Zeitpunkts für die Abschaffung der Ausnahmebestimmung zeigt, sondern auch in dem in Art 7 Abs 2 iVm Art 8 Abs 2 der Richtlinie 79/7/ EWG vorgesehenen Abwägungsverfahren zur Überprüfung der Notwendigkeit der Beibehaltung der auf die Ausnahmebestimmungen gestützten nationalen Maßnahmen eines Mitgliedstaates. […]

3.6.2 Wie sich aus dem Jahresbericht 2019 der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (SWD [2020] 147 final) ergibt, ist kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich oder einen anderen Mitgliedstaat, der weiterhin ein unterschiedliches Rentenalter hat, im Zusammenhang mit der Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a Richtlinie 79/7/EWG eingeleitet worden. Diese anderen Mitgliedstaaten sind derzeit Bulgarien, Rumänien, Litauen, Kroatien, Polen und die Tschechische Republik. […]

3.6.3 Die Kommission hat Österreich aber bereits Empfehlungen bzw Anregungen zur Angleichung des Regelpensionsalters von Männern und Frauen erteilt. […] Selbst wenn man die Sichtweise einnehmen wollte, im Hinblick auf die regelmäßige Überprüfungspflicht sei davon auszugehen, dass die Richtlinie im Ergebnis nur eine zeitlich begrenzte Aufrechterhaltung eines unterschiedlichen Rentenalters gestatte, geschieht dies mit offenem Ende […].

3.7 Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich nichts Gegenteiliges:

Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen zu Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie Stellung genommen, ohne die (Weiter-)Geltung dieser Ausnahmebestimmung in Frage zu stellen (EuGHC-9/91, The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: Equal Opportunities Commission, Rn 15; EuGHC-303/02, Haackert, Rn 37 f; EuGHC-172/02, Bourgard ,129 Rn 30 f; EuGHC-104/98, Buchner ua, Rn 22 f; Husmann, Reformbedarf in der Richtlinie 79/7/ EWG, ZESAR 2014, 70 [76]).

3.8 Obwohl in den genannten Entscheidungen die Frage, ob ein nationales Gesetz iSd Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie unionsrechtswidrig ist, jeweils entscheidungserheblich war, beschränkte sich der EuGH auf eine Auseinandersetzung mit den Fragen, ob eine Regelung zur Rentenhöhe notwendige Folge einer ungleichen Festsetzung des Rentenalters ist und ob deren Auswirkungen auf andere Leistungen objektiv erforderlich sind, um das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit zu schützen oder die Kohärenz zwischen den Systemen der Altersrenten und dem der anderen Leistungen zu gewährleisten. Der EuGH legt diesen Entscheidungen somit zugrunde, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Beibehaltung eines unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für Männer und Frauen belässt (EuGHC-9/91, The Queen/Secretary of State for Social Security, ex parte: Equal Opportunities Commission, Rn 13) und eine nationale Norm über die vorübergehende Beibehaltung unterschiedlicher Altersgrenzen von der Ausnahmebestimmung des Art 7 lit a der Richtlinie erfasst ist. […]

4. Zur Grundrechte-Charta

4.1 […] Nach ihrem Art 21 Abs 1 sind Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten. Nach Art 23 GRC ist die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen – auch im Bereich der sozialen Sicherheit – zu gewährleisten. Art 23 Abs 2 GRC erlaubt aber die Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht und erklärt positive Maßnahmen, die ein Geschlecht gegenüber einem anderen bevorzugen, für zulässig. […]

4.2 Art 23 GRC verpflichtet den Unionsgesetzgeber, Ungleichheiten zu beseitigen, belässt den Grundrechtsverpflichteten aber erhebliche Spielräume. Sofern dies sachlich gerechtfertigt ist, genügt eine auch nur schrittweise Beseitigung. Die Richtlinie 79/7/EWG mit ihren in Art 7 aufgezählten Ausnahmetatbeständen entspricht dieser Vorgabe und kann insoweit als Konkretisierung der in Art 21 und 23 GRC verankerten Grundrechte verstanden werden. […] Es ist nicht erkennbar, dass aus der GRC eine Verpflichtung zu einer zeitlich früheren Angleichung des Pensionsantrittsalters abzuleiten wäre. […]

4.4 Einschränkungen der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten sind aber nicht ausgeschlossen (Art 52 Abs 1 GRC). […]

4.5 Im Bereich der sozialen Sicherheit geht der EuGH bei der Prüfung der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen von der Formulierung aus, dass Art 4 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG einer diskriminierenden nationalen Maßnahme entgegensteht, sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. […]

4.6 Art 23 Abs 2 hat somit klarstellenden Charakter in Bezug auf die Voraussetzungen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und führt zu keiner anderen Auslegung des Art 7 Abs 1 lit a iVm Art 7 Abs 2 der Richtlinie 79/7/EWG. Die durch die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG ermöglichte Ungleichbehandlung verstößt daher auch nicht gegen die in Art 21, 23 Abs 1 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung.

5. Zusammenfassend hat Österreich berechtigt von der von der Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, die Festsetzung des Rentenalters vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, Gebrauch gemacht. […] Sollte das Abwägungsverfahren nach Art 8 Abs 2 der Richtlinie 79/7/EWG erbringen, dass die Schlechterstellung von Frauen im Arbeitsleben bereits vor dem Ende der Übergangsfrist beseitigt und die Voraussetzungen für eine Gleichbehandlung erfüllt sind, müssten die entsprechenden Regelungen revidiert werden. Dass die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen bereits jetzt die Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Festsetzung des Regelpensionsalters erfordern, ist aus der Aktenlage nicht erkennbar. […]

6. Aus diesen Erwägungen sieht sich der Oberste Gerichtshof – in Fortschreibung seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht veranlasst, zu der Frage, ob die österreichischen Regelungen zur Angleichung des unterschiedlichen Regelpensionsalters von Männern und Frauen mit dem EU-Recht vereinbar sind, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. […]

7. Der Revisionswerber regt in seinem Rechtsmittel aber an, der EuGH möge im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens mit der Frage befasst werden, ob Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG dahingehend auszulegen ist, dass auch Pensionsab- und -zuschläge vom Wortlaut dieser Regelung mitumfasst sind: […]

7.3 […]

Diese Frage wurde vom EuGH aber bereits dahin beantwortet, dass – solange ein Mitgliedstaat ein unterschiedliches Rentenalter in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften (noch) aufrecht erhalten hat – eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Art der Berechnung der Renten notwendig und objektiv mit diesem Unterschied verbunden ist. Auch sie fällt daher unter die in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG vorgesehene Ausnahme (EuGHC-377/96-C-384/96, De Vriendt ua, Rn 31 mwN; EuGHC-172/02, Bourgard, Rn 36). […]

8.1 Nach der Entscheidung des EuGH zu C-172/02, Bourgard, Rn 41 f, besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Umstand, dass sich Männer dafür entscheiden könnten, das Renteneintrittsalter und damit verbundene Kürzungen vorwegzunehmen, einerseits und der (vorübergehenden) Beibehaltung 130 eines unterschiedlichen Rentenalters für Männer und Frauen andererseits. Die Festsetzung von Abschlägen im Fall des Bezugs einer Altersrente vor Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters ist zum Ausgleich der finanziellen Auswirkungen auf das System notwendig, weil die Einnahmen in Form der entrichteten Sozialversicherungsbeiträge zurückgehen und sich gleichzeitig die Auslagen aufgrund der zusätzlich zu zahlenden Renten erhöhen. […]

8.2 Der österreichische Gesetzgeber hat als Maßnahme zur Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Alterssicherungssystems eine Kombination von Abschlägen und Zuschlägen in Abhängigkeit vom tatsächlichen Pensionsantritt im Vergleich zum noch unterschiedlichen Pensionsalter gewählt. Zentraler Anknüpfungspunkt dafür, ob Zu- oder Abschläge gebühren, stellt das Regelpensionsalter dar. […]

8.4 Ausgehend von dem Ziel, dass ein späterer Pensionsantritt aus Sicht der Finanzierbarkeit des Alterssicherungssystems geboten ist […], bezwecken die Abschläge, einen höheren Lebenspensionsbezug auszugleichen und Anreize für einen früheren Ruhestand zu vermeiden […]. Die Kombination von Abschlägen und Zuschlägen sowie deren Höhe in Wechselwirkung mit dem (derzeit noch) unterschiedlichen Rentenalter für Männer und Frauen stellt eine Maßnahme dar, um ein längeres Verbleiben aller Versicherten im Erwerbsleben zu erreichen und auf diesem Weg die Finanzierbarkeit des Alterssicherungssystems zu gewährleisten. […]

8.5 Das vom Gesetzgeber des APG gewählte System von Abschlägen und Zuschlägen ist demnach mit den Bestimmungen des BVG Altersgrenzen über das unterschiedliche Pensionsalter von Frauen und Männern eng verbunden, stellt eine notwendig an die Festsetzung des unterschiedlichen Rentenalters geknüpfte Konsequenz dar und ist daher von der Ausnahme in Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7/EWG erfasst. […]

8.6.2 Die bei Inanspruchnahme der Korridorpension hinzunehmenden Abschläge von 5,1 % pro Jahr unterscheiden sich der Höhe nach nur unwesentlich von der Höhe der in der Rs Bourgard vom EuGH als sachlich gerechtfertigt angesehenen Abschlägen von 5 % pro Jahr. […]

8.7 Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen auch dann, wenn die strittige Frage nicht vollkommen identisch mit der bereits entschiedenen Rechtssache ist, die betreffenden Vorschriften nicht dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden (EuGH 6.10.1982, C-283/81, Rs SRL C.I.L.F.I.T., Rn 14). Den Mitgliedstaaten steht bei der Festsetzung der Höhe der Abschläge zudem ein weites Ermessen bei der Anwendung jener Maßnahmen zu, die notwendig sind, um das finanzielle Gleichgewicht der Sozialversicherungssysteme und insbesondere der Rentensysteme zu wahren (EuGHC-172/02, Bourgard, Rn 43; EuGHC-139/95, Balestra, Rn 39). […]

9. Ergebnis

Es widerspricht nicht dem Unionsrecht, dass – ausgehend von einer fiktiv gleichen Bemessungsgrundlage – die Höhe der vom Kläger im Alter von 63 in Anspruch genommenen Korridorpension aufgrund von Abschlägen von insgesamt 10,2 % (im Vergleich zum Pensionsantritt im Alter von 65) niedriger ist als die Höhe der fiktiven Alterspension einer Frau, die im Alter von 63 die Pension antritt und Zuschläge von insgesamt 12,6 % (im Vergleich zum Pensionsantritt im Alter von 60) erhalten würde. […]“

ERLÄUTERUNG

In dieser ausführlich begründeten E befasst sich der OGH einmal mehr (siehe zuletzt 10 ObS 44/14iDRdA-infas 3/2015) mit der Zulässigkeit des unterschiedlichen Pensionsalters und den Auswirkungen auf die Berechnung der Pensionshöhe. Der Kl machte geltend, dass ein Mann bei einem Pensionsantritt mit 63 mit Abschlägen zu rechnen hat, während eine Frau in dem selben Alter einen Zuschlag erhält, was gleichheitswidrig sei.

Nachdem der VfGH die Behandlung der Beschwerde mangels Aussicht auf Erfolg ablehnte, verweist der OGH in der Begründung der vorliegenden E zuerst auf das BVG Altersgrenzen (aus der Zeit vor Österreichs Beitritt zu EU) und die dazugehörigen Gesetzesmaterialien. Kurz erwähnt der OGH dabei die „erst in Zukunft liegende“ Gleichbehandlung von Männern und Frauen und das in das APG übernommene unterschiedliche Pensionsalter bei der Alterspension. Ergänzend hebt er hervor, dass die Korridorpension für Frauen erst 2028 in Frage kommt, weil dann das Regelpensionsalter von 63 (gemeint wohl 62) überschritten wird.

Anschließend folgt die Prüfung der Vereinbarkeit der Regelung mit dem Unionsrecht und deren eigenständige Beurteilung durch den OGH ohne Vorlage zur Vorabentscheidung, aber unter Bezugnahme auf die Judikatur des EuGH sowie eine Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen in der Literatur. Die maßgebliche RL 79/7/EWG enthält in ihrem Art 4 ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts; nach Art 7 ist aber die Aufrechterhaltung bestehender (diskriminierender) Regelungen zulässig, in Art 7 Abs 1 lit a wird ein unterschiedliches Rentenalter ausdrücklich genannt. Das OGH-Urteil vom 16.12.2014, 10 ObS 44/14i, hatte das unterschiedliche Zugangsalter für zulässig erachtet, war aber in der Literatur kritisiert worden; aus diesem Grund nimmt nun der OGH eine neuerliche Überprüfung vor. Aufgrund der Sensibilität der Materie und der damit verbundenen Belastung für den Staatshaushalt wurde den Mitgliedstaaten vom Unionsgesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich des 131 Sozialrechts nur schrittweise zu verwirklichen. Die Mitgliedstaaten haben aber laufende Überprüfungen vorzunehmen und der Kommission zu berichten. Derzeit gibt es noch in einigen Mitgliedstaaten ein unterschiedliches Rentenalter. Im Weißbuch der Europäischen Kommission „Eine Agenda für angemessene, sichere und nachhaltige Pensionen und Renten“ vom 16.2.2012, COM (2012) 55 final (Anhang 3), wurde empfohlen, Österreich möge Schritte einleiten, um die Übergangszeit für die Harmonisierung des gesetzlichen Pensionsalters für Frauen und Männer zu verkürzen. Gleichzeitig wird aber betont, dass mit dem Weißbuch die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten nicht angetastet und die Pensionsreformbemühungen der Mitgliedstaaten nur unterstützt werden sollen. Daraus ergibt sich, dass von der Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatlichen Sozialmodelle weiterhin nicht abgegangen werden soll. Auch die Überprüfung nach der seit 2009 geltenden Grundrechte-Charta (GRC) führt zu keinem anderen Ergebnis. Die GRC verpflichtet die Staaten, die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen zu gewährleisten, Art 23 Abs 2 erlaubt die Beibehaltung und Einführung von Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht und erklärt positive Maßnahmen für zulässig. Art 23 Abs 2 GRC hat somit klarstellenden Charakter in Bezug auf die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen.

Der OGH hält fest, dass die Regelungen des unterschiedlichen Pensionsalters nur revidiert werden müssten, wenn das erforderliche Abwägungsverfahren ergibt, dass die Schlechterstellung von Frauen im Arbeitsleben bereits vor dem Ende der Übergangszeit der schrittweisen Anhebung des Pensionsalters beseitigt ist. Das sei aus der Aktenlage aber nicht erkennbar. Der OGH sieht sich daher auch diesmal nicht veranlasst, die Sache dem EuGH vorzulegen.

Die Zulässigkeit der unterschiedlichen Art der Berechnung der Pensionen, die unmittelbar mit dem unterschiedlichen Pensionsalter zusammenhängt, wurde vom EuGH bereits bejaht, weshalb auch dazu kein Vorabentscheidungsersuchen notwendig ist. Auch die Frage der Zulässigkeit der Höhe der Abschläge wegen des vorzeitigen Pensionsantritts beantwortet der OGH selbst: Die im APG normierten Abschläge in Höhe von 5,1 % pro Jahr des vorzeigen Pensionsantritts hält der OGH unter Bezugnahme auf das Urteil in der EuGH-Rs Bourgard für unbedenklich. Das österreichische System von Zu- und Abschlägen soll generell für Frauen und Männer einen Anreiz darstellen, länger im Erwerbsleben zu bleiben und damit die Finanzierbarkeit des Alterssicherungssystems erhalten.

Die beim Pensionsantritt des Kl berechneten Abschläge von 10,2 % sind somit auch nicht unionsrechtswidrig, weshalb der außerordentlichen Revision keine Folge zu geben war.