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Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bei Bezug einer ausländischen Familienbeihilfeleistung sowie des österreichischen Kinderabsetzbetrags als Ausgleichszahlung

CHRISTINANEUNDLINGER

Die Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Bezugs von Familienbeihilfe in § 2 Abs 1 Z 1 Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) ist auch dann erfüllt, wenn sich aufgrund einer höheren ausländischen Familienbeihilfeleistung die Ausgleichszahlung auf die österreichische Familienbeihilfe nach der Differenzrechnung des § 4 Abs 2 und 3 Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) mit Null bemisst und tatsächlich nur der österreichische Kinderabsetzbetrag (§ 33 Abs 3 Einkommensteuergesetz [EStG]) als mit der Familienbeihilfe funktionsgleicher Teil der Ausgleichszahlung ausgezahlt wird.

SACHVERHALT

Die Kl und ihre am 29.1.2019 geborene Tochter sind österreichische Staatsbürgerinnen und leben in Vorarlberg. Der Vater des Kindes wohnt in der Schweiz und ist im Fürstentum Liechtenstein unselbständig beschäftigt. Seit der Geburt des Kindes bezieht er in Liechtenstein die Familienzulage von CHF 280,- monatlich. Die Kl erhält den österreichischen Kinderabsetzbetrag in Höhe von € 58,30 als Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe ausbezahlt.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid vom 18.10.2019 lehnte die bekl Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) den Antrag der Kl vom 27.2.2019 auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld in der Variante 851 Tage für den Zeitraum ab 29.1.2019 ab.

Die Kl begehrt in ihrer Klage den Zuspruch von Kinderbetreuungsgeld von € 14,53 täglich ab Geburt bis 28.5.2021. Es schade ihrem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht, dass der – allein bezugsberechtigte – Vater die Kinderzulage im Fürstentum Liechtenstein beziehe.

Die Bekl wendet ein, die nur in Höhe des österreichischen Kinderabsetzbetrags bezogene Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe erfülle nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 1 iVm § 2 Abs 8 KBGG. Der österreichische Kinderabsetzbetrag sei keine der österreichischen Familienbeihilfe gleichartige Leistung, weshalb er auch nicht auf die liechtensteinische Familienzulage angerechnet werde. Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Bezug der Familienbeihilfe in eigener Person sei nur dann erfüllt, wenn die Familienbeihilfe in voller Höhe bezogen werde.

Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren statt.

Der OGH hielt die Revision der Bekl für zulässig, aber für nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] [11] Nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG hat ein Elternteil Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) besteht und Familienbeihilfe für dieses Kind tatsächlich bezogen wird.

[12] Bei – wie hier – getrennt lebenden Eltern muss der antragstellende Elternteil, der mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, die Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG in eigener Person erfüllen (§ 2 Abs 8 KBGG).

[13] § 2 Abs 1 Z 1 KBGG lautete in der Fassung vor der Novelle BGBl I 2007/76BGBl I 2007/76 wie folgt:

‚Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld hat ein Elternteil, sofern für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 besteht oder für dieses Kind nur deswegen nicht besteht, weil Anspruch auf eine gleichartige ausländische Leistung besteht.‘

[14] Die Materialien nannten dazu das Beispiel eines Grenzgängers, der in Liechtenstein beschäftigt ist und seinen Wohnsitz in Österreich hat. In diesem Fall sollte trotzdem Kinderbetreuungsgeld gebühren […].

[15] Die zusätzliche Anforderung des tatsächlichen Bezugs von Familienbeihilfe in § 2 Abs 1 Z 1 KBGG wurde mit der Novelle BGBl I 2007/76BGBl I 2007/76[…] eingeführt […]. [Dadurch] sollte klargestellt werden, dass die Gerichte an die Entscheidungen der zuständigen Finanzbehörden gebunden sind […].

[16] Den ersatzlosen Entfall der auf gleichartige ausländische Familienleistungen bezugnehmenden Regelung in § 2 Abs 1 Z 1 KBGG mit der Novelle BGBl I 2007/76BGBl I 2007/76erklärte der Gesetzgeber damit, dass nach der in grenzüberschreitenden Sachverhalten anzuwendenden Verordnung (EWG) 1408/71 sowohl Familienbeihilfe als auch Kinderbetreuungsgeld Familienleistungen seien. Bei einer aufgrund der Verordnung nachrangigen Zuständigkeit Österreichs sei die Voraussetzung für einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung auch dann erfüllt, wenn im vorrangig zuständigen Staat Anspruch auf eine gleichartige ausländische Familienbeihilfe bestehe (dem Grund nach also Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe als Ausgleichszahlung im Sinn der VO bestehe) und diese tatsächlich bezogen werde […].

[17] Nach der Absicht des Gesetzgebers sollte daher Österreich auch dann zur Leistung von 134 Kinderbetreuungsgeld (bei nachrangiger Zuständigkeit als Ausgleichszahlung in Höhe des Differenzbetrags zwischen österreichischem Kinderbetreuungsgeld und ausländischer gleichartiger Familienleistung) verpflichtet sein, wenn nur deshalb kein Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe besteht, weil für das Kind eine der österreichischen Transferzahlung vergleichbare ausländische Beihilfenleistung bezogen wird.

[18] § 4 FLAG hat folgenden relevanten Inhalt:

‚§ 4 (1) Personen, die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe haben, haben keinen Anspruch auf Familienbeihilfe.

(2) Österreichische Staatsbürger, die gemäß Abs 1 oder § 5 Abs 5 vom Anspruch auf die Familienbeihilfe ausgeschlossen sind, erhalten eine Ausgleichszahlung, wenn die Höhe der gleichartigen ausländischen Beihilfe, auf die sie oder eine andere Person (§ 5 Abs 5) Anspruch haben, geringer ist als die Familienbeihilfe, die ihnen nach diesem Bundesgesetz ansonsten zu gewähren wäre.(3) Die Ausgleichszahlung wird in Höhe des Unterschiedsbetrags der gleichartigen ausländischen Beihilfe und der Familienhilfe, die nach diesem Bundesgesetz zu gewähren wäre, geleistet. […](6) Die Ausgleichszahlung gilt als Familienbeihilfe im Sinn dieses Bundesgesetzes; die Bestimmungen über die Höhe der Familienbeihilfe finden jedoch auf die Ausgleichszahlung keine Anwendung.‘

[…]

[20] Es ist unstrittig, dass die vom Vater des Kindes bezogene liechtensteinische Kinderzulage iSd VO (EG) 883/2004 der österreichischen Familienbeihilfe gleichartig ist und deren Höhe übersteigt. Nach dem Wortlaut des § 4 Abs 2 und 3 FLAG würde sich die Ausgleichszahlung somit mit Null bemessen. Die Kl erhält allerdings auch den österreichischen Kinderabsetzbetrag ausgezahlt. Nach der Ansicht der Kl und der Vorinstanzen genügt diese Auszahlung, um die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 8 KBGG iVm § 2 Abs 1 Z 1 KBGG zu erfüllen.

[…]

[22] Der an die Familienbeihilfe gebundene und mit ihr ausbezahlte Kinderabsetzbetrag hat wirtschaftlich den Charakter eines Zuschlags zur Familienbeihilfe. Der Grund für die getrennte Regelung der Familienbeihilfe im FLAG und des Kinderabsetzbetrags im Einkommensteuergesetz wird im Schrifttum im Finanzausgleich gesehen. […]

[23] Anlässlich der Anpassung der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrags an das Preisniveau des Wohnstaats mit dem Bundesgesetz BGBl I 2018/83BGBl I 2018/83hielt der Gesetzgeber in den Materialien fest, dass zwischen Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag Funktionsgleichheit bestehe, weil der Kinderabsetzbetrag funktional nicht als Steuerentlastung, sondern als Beihilfe in Form einer Direktzahlung an den gleichen Empfängerkreis unter den gleichen Voraussetzungen gezahlt wird. Die Regelung in § 33 Abs 3 EStG sei als lex fugitiva zu den Regelungen des FLAG 1967 über die Höhe der Familienbeihilfe zu qualifizieren. […]

[24] Der Gesetzgeber qualifiziert den Kinderabsetzbetrag somit selbst als eine der nach dem FLAG auszuzahlenden Familienbeihilfe funktionsgleiche Transferleistung. Mit diesem Argument rechtfertigt er die Gleichbehandlung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag bei der Indexierung durch die Anpassung an das Preisniveau des Wohnstaats.

[25] Übersteigt die ausländische Beihilfenleistung die österreichische Familienbeihilfe (ohne Berücksichtigung des Kinderabsetzbetrags) und würde in Österreich ein Differenzbetrag auf die Familienbeihilfe entsprechend dem Wortlaut des § 4 Abs 2 und 3 FLAG nicht tatsächlich ausgezahlt, müsste der Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld (als Ausgleichszahlung in Höhe der Differenz zu gleichartigen ausländischen Familienleistungen) an der Voraussetzung der tatsächlichen Auszahlung der Familienbeihilfe scheitern, obwohl die Summe der nach der VO (EG) 883/2004 zu koordinierenden ausländischen Familienleistungen jene der österreichischen Leistungen nicht erreicht. Ein derartiges unionsrechtswidriges Ergebnis zu verfolgen, kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden.

[26] Ergebnis: Die Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Bezugs von Familienbeihilfe in § 2 Abs 1 Z 1 KBGG ist auch dann erfüllt, wenn sich aufgrund einer höheren ausländischen Familienbeihilfeleistung die Ausgleichszahlung auf die österreichische Familienbeihilfe nach der Differenzrechnung des § 4 Abs 2 und 3 FLAG mit Null bemisst und tatsächlich nur der österreichische Kinderabsetzbetrag (§ 33 Abs 3 EStG) als mit der Familienbeihilfe funktionsgleicher Teil der Ausgleichszahlung ausgezahlt wird.

[…]“

ERLÄUTERUNG

Das Kinderbetreuungsgeld, die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag sind Familienleistungen iSd VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Die Verordnung legt in grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EU-/EWR-Staaten und der Schweiz fest, welcher Staat für die Auszahlung der Familienleistungen zuständig ist. Dabei wird die gesamte familiäre Situation unter Heranziehung beider Elternteile berücksichtigt (Familienbetrachtungsweise).

Vorrangig zuständig für die Auszahlung der Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat, in dem die Eltern erwerbstätig und sozialversichert sind (Beschäftigungsstaatprinzip). Nachrangig zuständig ist jener Mitgliedstaat, in dem die Eltern wohnen 135 (= Mittelpunkt der Lebensinteressen). Der nachrangig zuständige Mitgliedstaat muss Ausgleichszahlungen leisten, wenn die Familienleistungen im Beschäftigungsstaat niedriger sind. Die Familienbetrachtungsweise gilt auch für getrennt lebende Elternteile.

Im vorliegenden Fall ist der Vater in Liechtenstein (EWR-Mitglied) erwerbstätig, Mutter und Tochter leben in Österreich. Es handelt sich daher um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt, der nach oben angeführten Grundsätzen zu koordinieren ist. Aufgrund der Erwerbstätigkeit des Vaters in Liechtenstein ist Liechtenstein zur Zahlung der Familienleistungen vorrangig zuständig. Österreich ist aufgrund des Wohnsitzes von Mutter und Kind in Österreich nachrangig zuständig.

Die Kl begehrte von der ÖGK österreichisches Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung. Österreich ist als nachrangig zuständiger Staat grundsätzlich verpflichtet, Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung in Höhe der Differenz zu gleichartigen ausländischen Familienleistungen zu zahlen. Ob Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld besteht, ist nach den nationalen (= österreichischen) gesetzlichen Vorgaben zu beurteilen.

Im vorliegenden Fall war strittig, ob die Kl die Anspruchsvoraussetzungen gem § 2 Abs 1 Z 1 KBGG iVm § 2 Abs 8 KBGG erfüllt: Bei getrennt lebenden Elternteilen muss der Elternteil, der das Kinderbetreuungsgeld beziehen möchte, die Familienbeihilfe tatsächlich in eigener Person beziehen. Der OGH stellt in Zusammenschau mit der Vorgängerregelung und den dazugehörigen Materialien fest, dass nach der Absicht des Gesetzgebers Österreich auch dann zur Leistung von Kinderbetreuungsgeld (als Ausgleichszahlung) verpflichtet sei, wenn nur deshalb kein Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe besteht, weil für das Kind eine vergleichbare ausländische Beihilfenleistung bezogen wird.

Liechtenstein leistete aufgrund der vorrangigen Zuständigkeit die Kinderzulage an den Vater in Höhe von CHF 280,-. Bei der liechtensteinischen Kinderzulage handelt es sich um eine der österreichischen Familienbeihilfe gleichartige Familienleistung. Da die österreichische Familienbeihilfe niedriger ist als die liechtensteinische Kinderzulage musste Österreich als nachrangig zuständiger Staat keine Ausgleichszahlungen zur Familienbeihilfe leisten (siehe § 4 FLAG). Ausbezahlt wurde der Kl allerdings der Kinderabsetzbetrag gem § 33 Abs 3 Satz 1 EStG.

Der an die Familienbeihilfe gebundene und mit ihr ausbezahlte Kinderabsatzbetrag hat wirtschaftlich den Charakter eines Zuschlags zur Familienbeihilfe, auch wenn er nicht im FLAG sondern im EStG geregelt ist (= lex fugitiva). Der Kinderabsetzbetrag wird wie die Familienbeihilfe an das Preisniveau des Wohnstaats angepasst (indexiert). Es handelt sich beim Kinderabsetzbetrag um eine funktionsgleiche Transferleistung zur Familienbeihilfe. Der OGH erachtet daher die Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Bezugs von Familienbeihilfe in § 2 Abs 1 Z 1 KBGG als erfüllt, auch wenn sich wie im vorliegenden Fall aufgrund der höheren ausländischen Familienbeihilfeleistung die Ausgleichszahlung auf die österreichische Familienbeihilfe mit Null bemisst und daher tatsächlich nur der österreichische Kinderabsetzbetrag ausbezahlt wird.

ANMERKUNG DER BEARBEITERIN:

In der E werden die Begriffe „Kinderzulage“ und „Familienzulage“ synonym verwendet, was eventuell zu Missverständnissen führen könnte. Für diese Bearbeitung wurden die Begriffe so übernommen, wie sie in der E verwendet wurden, korrekt wäre mE der Begriff Kinderzulage.

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