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Entziehung des zu Unrecht zuerkannten Rehabilitationsgeldes bei nachträglicher Veränderung des Gesundheitszustandes

JOHANNANADERHIRN (LINZ)
  1. Die (materielle) Rechtskraft des Bescheids über die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld steht im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität gem § 255b ASVG bei der Gewährung dieser Leistung einer späteren Entziehung gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann entgegen, wenn der Sachverhalt im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt unverändert ist.

  2. Ist jedoch im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität iSd § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgeldes eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorüber gehender Invalidität iSd § 255b ASVG begründet haben, so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt.

Die 1969 geborene Kl erwarb insgesamt 294 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach dem ASVG. Sie war von 2005 bis Anfang 2015 als Kindergartenassistentin berufstätig. Mit – rechtskräftigem – Bescheid vom 14.11.2016 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag der Kl vom 19.7.2016 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab, weil dauerhafte Invalidität nicht vorliege. Bei der Kl wurde jedoch ab 1.8.2016 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten angenommen, weshalb als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Kl das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation waren nicht zweckmäßig. Ab dem 1.8.2016 bestand für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV, das die Kl auch ab 1.8.2016 bezog. Für diese Einschätzung war nach den Feststellungen und dem unstrittigen Inhalt des im Verfahren verwendeten Gewährungsgutachtens vom 12.10.2016 (Blg ./5) ein Zustand nach Bandscheibenoperation L4/L5 im September 2014, MRT-gesicherte Protrusionen der gesamten Lendenwirbelsäule mit Nervenwurzeltangierung L3, L4 und L5 beidseits und S 1 links, sowie ua eine Kniegelenksabnützung links maßgeblich.

Damals wäre die Kl jedoch trotz ihrer – im Einzelnen vom Erstgericht festgestellten – leidensbedingten Einschränkungen in der Lage gewesen, ganztägig leichte körperliche Arbeiten zu verrichten. Mit dieser Leistungsfähigkeit hätte die Kl noch als Tagportierin arbeiten können. Österreichweit waren dafür ausreichend Arbeitsplätze vorhanden. Eine Tätigkeit als Kindergartenassistentin war der Kl aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 13.2.2019 sprach die Bekl aus, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 31.3.2019 entzogen werde.

Die Kl ist über den Ablauf des 31.3.2019 hinaus zwar in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt; sie ist jedoch weiterhin in der Lage, ganztägig leichte körperliche Arbeiten zu verrichten. Die vom Erstgericht auch für den Entziehungszeitpunkt im Einzelnen festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen der Kl entsprechen jenen im Gewährungszeitpunkt, dies aber mit zwei Ausnahmen:

Verbessert hat sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt ihre Steh- und Gangleistung. Im Gewährungszeitpunkt waren der Kl ganztägig leichte körperliche Arbeiten bei maximal drittelzeitigem Gehen und/oder Stehen (maximal 20 Minuten ununterbrochen) möglich. Im Entziehungszeitpunkt war es der Kl möglich, bis maximal zweidrittelzeitig im Stehen und/oder Gehen zu arbeiten (maximal 40 Minuten ununterbrochen). Insb hat sich, wie sich aus den dislozierten Feststellungen des Erstgerichts in seiner Beweiswürdigung ergibt, zwar nicht die Beweglichkeit des linken Kniegelenks der Kl gebessert, allerdings dessen Belastbarkeit. Denn im Herbst 2016 bestanden Abnützungen des Kniegelenks und mittlerweile wurde ein künstliches Kniegelenk implantiert.

Verschlechtert hat sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt die Feinstmotorik bei der Kl. Während diesbezüglich im Gewährungszeitpunkt keine Einschränkungen bestanden, sind der Kl im Entziehungszeitpunkt feinstmotorische Arbeiten nur mehr bis zu drittelzeitig und maximal fünf Minuten am Stück zumutbar.

Der Kl ist nach wie vor eine Arbeitstätigkeit als Tagportierin zumutbar, ein ausreichender Arbeitsmarkt ist vorhanden. Die Tätigkeit als Tagportierin erfordert keine feinstmotorischen Manipulationen. Eine Tätigkeit als Kindergartenassistentin wäre der Kl aus gesundheitlichen Gründen nach wie vor nicht möglich. Mit ihrer Klage begehrt die Kl die Feststellung, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten über den 31.3.2019 hinaus vorliege und über diesen Zeitpunkt hinaus ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe. [...]

Das Erstgericht wies das Begehren auf Feststellung des Vorliegens vorübergehender Invalidität über den 31.3.2019 hinaus ab. Hingegen stellte es fest, dass die Kl über den 31.3.2019 hinaus weiterhin Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe. [...] Die Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids stehe [...] der Entziehung des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld entgegen. Hingegen liege keine vorübergehende Invalidität vor, weshalb das darauf gerichtete Feststellungsbegehren nicht berechtigt sei. 242

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl gegen den klageabweisenden Teil des Urteils des Erstgerichts nicht Folge [...]. Hingegen gab es der Berufung der Bekl gegen den klagestattgebenden Teil des Urteils des Erstgerichts Folge [...].

Zur Berufung der Bekl sei das Verfahren ergänzungsbedürftig. Ob eine für die Entziehung des Rehabilitationsgelds wesentliche Änderung eingetreten sei, hänge nicht bloß davon ab, ob sich das Leistungskalkül des Versicherten bessere, sondern auch davon, ob dies Einfluss auf das Verweisungsfeld habe und sich dieses aufgrund der Verbesserung des Leistungskalküls vergrößert habe. Es fehlten Feststellungen, ob die Kl trotz der verbesserten Geh- und Stehleistungen nur auf den Beruf der Tagportierin verwiesen werden könne. Vergrößere sich das Verweisungsfeld trotz dieser Verbesserung nicht, sei die Entziehung des Rehabilitationsgelds nicht gerechtfertigt. Der Rekurs an den OGH sei zulässig, weil Rsp zur Frage fehle, ob eine bloße Besserung des Leistungskalküls eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gem § 99 ASVG darstelle. [...]

Gegen das Teilurteil des Berufungsgerichts richtet sich die [...] Revision der Kl, mit der sie die Feststellung des Weiterbestehens vorübergehender Invalidität über den 31.3.2019 hinaus begehrt.

Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich zum einen der [...] Rekurs der Kl, mit dem sie die Weitergewährung von Rehabilitationsgeld anstrebt, und zum anderen der [...] Rekurs der Bekl, mit der diese die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

Die Revision und der Rekurs der Kl sind aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig, nicht jedoch berechtigt.

Der Rekurs der bekl PVA ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und berechtigt. [...]

Die Kl beruft sich für ihren Standpunkt darauf, dass die Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids einer Entziehung des Rehabilitationsgelds entgegenstehe. [...]

Die Bekl verweist demgegenüber in ihrem Rechtsmittel auf die Rsp zum Unfallversicherungs- und Pflegegeldrecht. [...]

Dazu wurde erwogen:

1.1 Die Entziehung des Rehabilitationsgelds als laufende Geldleistung aus der KV (§ 143a ASVG) ist nach § 99 Abs 1 ASVG zu beurteilen. [...]

1.2 [...]

1.3 Rehabilitationsgeld soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Ersatz für den Wegfall der befristeten Invaliditätspension sein [...]. Beim Rehabilitationsgeld handelt es sich [...] um eine unbefristete Dauergeldleistung (10 ObS 123/19i). Eine [...] wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands bewirkt nicht das Erlöschen des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld ohne weiteres Verfahren, sondern ist Voraussetzung dafür, dass es mit Bescheid gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG entzogen werden kann. [...]

2.1 Die Entziehung einer laufenden Leistung wie des Rehabilitationsgelds ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 50/15y SSV-NF 29/48); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RIS-Justiz RS0106704; RS0083941 [T1]). Der für den Vergleich maßgebliche Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids. Es ist der Zustand im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheids über das Vorliegen vorübergehender Invalidität iSd § 255b ASVG dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RS0083876; Schramm in SV-Komm [221. Lfg] § 99 ASVG Rz 6 mzwN).

2.2 [...] Zum Begriff der Änderung kann [...] auch für die Beurteilung der Entziehung von Rehabilitationsgeld auf die Rsp zurückgegriffen werden, wonach eine solche Änderung im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen kann (RS0083884). Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt (RS0083884 [T5], zuletzt zum Rehabilitationsgeld 10 ObS 123/19i).

3.1 Das Rehabilitationsgeld ist durch Bescheid (des Pensionsversicherungsträgers, § 143a Abs 1 ASVG) ua dann zu entziehen, wenn – wie die Bekl hier geltend macht – vorübergehende Invalidität von voraussichtlich mindestens sechs Monaten (§ 255b ASVG) nicht mehr vorliegt (§ 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG).

3.2 Im vorliegenden Fall lag allerdings nach den Feststellungen bei der Kl im Gewährungszeitpunkt keine vorübergehende Invalidität vor, sodass ihr das Rehabilitationsgeld materiell unrichtig zuerkannt wurde. Zwar hat sich der körperliche und geistige Zustand der Kl verändert; er hat sich in einem Teilbereich (Arbeiten im Stehen und Gehen) verbessert, in einem anderen Teilbereich (Feinstmotorik) verschlechtert. Diese Veränderung führt allerdings nicht dazu, dass die Kl im Entziehungszeitpunkt wieder am Arbeitsmarkt einsetzbar wäre: sie war dies vielmehr immer. Damit stellt sich die Frage, ob diese Veränderung des Gesundheitszustands der Kl unter Beachtung der materiellen Rechtskraft des Gewährungsbescheids eine Entziehung der Leistung rechtfertigt.

4.1 Der zentrale Gesichtspunkt bei der Auslegung der Voraussetzungen des § 99 Abs 1 ASVG liegt in der Rechtskraft der Gewährungsentscheidung (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 567). Aus der formellen Rechtskraft eines Bescheids erwächst grundsätzlich auch seine materielle Rechtskraft. Dabei handelt es sich um die mit dem Bescheid verbundene Bindungswirkung für die Behörden und Parteien, und zwar nicht nur hinsichtlich der normativen Aussagen, sondern auch hinsichtlich der Unabänderlichkeit und Unwiederholbarkeit. Auch rechtswidrige Bescheide erwachsen in materieller 243 Rechtskraft (Hengstschläger/Leeb, AVG [Stand 1.3.2018, rdb] § 68 Rz 12 ff).

4.2 Ihre ursprüngliche Identität verliert eine Sache erst durch eine Änderung der entscheidungsrelevanten Fakten. Wesentlich ist eine Änderung des Sachverhalts nur dann, wenn sie für sich allein oder im Verein mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgeblich erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann, und daher die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheids zumindest möglich ist (Hengstschläger/Leeb, § 68 AVG Rz 26 mzN). Liegt daher eine wesentliche, entscheidende Änderung in den Verhältnissen vor, greift der Bescheid des Sozialversicherungsträgers, mit dem der Leistungsanspruch entzogen wird, nicht in die materielle Rechtskraft des Gewährungsbescheids ein. Die materielle Rechtskraft eines Bescheids stellt zwar immer auf die Situation zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ab; nachträgliche Änderungen der Verhältnisse werden von ihr nicht erfasst (Rechberger/Oberhammer, Bestandskraft der Bescheide im Leistungsverfahren vor dem Sozialversicherungsträger und sukzessive Kompetenz, ZAS 1993, 85 [88]).

4.3 Nach stRsp in Sozialrechtssachen ist ein Leistungsentzug nicht gerechtfertigt, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben sich nämlich die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung nicht wesentlich geändert, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung der Leistung entgegen. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (10 ObS 20/92, SSV-NF 6/17 mwH; RS0083941 [T6]). § 99 ASVG bietet keine Grundlage für die Korrektur einer fehlerhaften Zuerkennung von Pensionen (vgl nur die Nachweise bei Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG,

[3 f]), da diese Vorschrift kein Abgehen vom Grundsatz der materiellen Rechtskraft zulässt (10 ObS 89/87 SSV-NF 1/43). Der Sozialversicherungsträger darf daher nicht unter dem „Mantel“ dieser Bestimmung eine Korrektur bereits ursprünglich verfehlter Entscheidungen vornehmen (Fink, Sukzessive Zuständigkeit 567 mzwH in FN 16).

4.4 Für den vorliegenden Fall folgt daraus als Zwischenergebnis, dass die Rechtskraft des Gewährungsbescheids der Entziehung aus dem Grund, dass die Kl wieder am Arbeitsmarkt einsetzbar ist, entgegensteht, weil sich dieses entscheidungsrelevante Merkmal nicht verändert hat.

5.1 Allerdings hat sich der gesundheitliche Zustand der Kl dennoch gegenüber dem Gewährungsbescheid verändert, insb auch teilweise verbessert. Da somit kein gegenüber dem Gewährungsbescheid unveränderter Sachverhalt vorliegt, stellt sich die Frage, ob diese Änderung vor dem Hintergrund der ursprünglich fehlerhaften Zuerkennung von Rehabilitationsgeld eine Durchbrechung der (materiellen) Rechtskraft des Gewährungsbescheids recht rechtfertigen kann, ob also Rechtmäßigkeit ausnahmsweise vor Rechtssicherheit zu reihen ist, weil der Schutz des Vertrauens des Leistungsempfängers auf die Rechtsrichtigkeit des Gewährungsbescheids geringeres Gewicht hat als die Rechtsrichtigkeit der Gewährungsentscheidung und damit die Wahrung der Interessen der Versichertengemeinschaft.

5.2 [...] Im vorliegenden Zusammenhang ist [...] vor allem die Bestimmung des § 101 ASVG von Bedeutung, denn die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld an die Kl erfolgte aufgrund eines wesentlichen Irrtums der Bekl über den Sachverhalt oder aufgrund eines offenkundigen Versehens iS dieser Bestimmung. Tatsächlich sah § 101 Abs 1 ASVG bis zur 9. Novelle des ASVG, BGBl 1962/13, die Möglichkeit vor, einen Zuerkennungsbescheid über eine Geldleistung auch dann zu berichtigen, wenn diese infolge eines Irrtums über den Tatbestand oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht zuerkannt, zu hoch bemessen oder nicht oder mit einem zu niedrigen Betrag zum Ruhen gebracht wurde (vgl zu dieser Bestimmung Haberschrek,

). Allerdings erhielt § 101 ASVG mit der 9. Novelle zum ASVG seine auch heute noch geltende Gestalt, wonach die in dieser Bestimmung angeordnete Durchbrechung der Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids nur mehr zu Gunsten des Versicherten möglich ist. Der Gesetzgeber brachte damit deutlich seinen Willen zum Ausdruck, Eingriffe in die Rechtskraft des Gewährungsbescheids nur nach Maßgabe der Bestimmungen der §§ 69, 70 AVG als zulässig zu erachten, sodass der Wert der Rechtssicherheit vor dem der Rechtmäßigkeit deutlich betont wurde (IA 147/A 9. GP 65 f).

5.3 [...] Auch nach der Novellierung dieser Bestimmung hielt die Rsp zu § 99 ASVG gerade auch in Fällen einer irrtümlichen Zuerkennung der Leistung wie ausgeführt am Grundsatz „Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit“ fest. Wesentliches Argument dafür war und ist, dass derjenige, dem eine laufende Leistung zuerkannt wurde, darauf vertrauen können soll, dass ihm diese tatsächlich zusteht und er auch in Zukunft weiter damit rechnen kann (Jabornegg,

; Schrammel, Rückforderung und Entziehung von zu Unrecht erbrachten Sozialversicherungsleistungen, ZAS 1990, 73 [80]). Dies spielt verständlicherweise gerade bei existenzsichernden Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit eine große Rolle.

5.4 Allerdings hat Jabornegg (

) das Spannungsverhältnis, das sich bei einer irrtümlich oder versehentlich zuerkannten Geldleistung zwischen der gebotenen Rechtssicherheit und der fehlenden materiellen Richtigkeit der Entscheidung ergibt, an folgendem Beispiel dargestellt: „Man stelle sich nur zwei Personen vor, denen jeweils mit gleicher Begründung eine Invaliditätspension zuerkannt worden ist: der einen zu Recht, der anderen auf Grund einer Fehleinschätzung des Sachverständigen zu Unrecht. Zu einem späteren Zeitpunkt ergibt eine Nachuntersuchung für beide einen gleichartigen Befund, der aber die Voraussetzungen für die Weitergewährung der Invaliditätspension nicht erfüllt. Dem einen kann nun die Pension nach 99 Abs 1 ASVG entzogen werden,244bei ihm ist im Sinn des Gesetzes eine wesentliche Änderung eingetreten. Der andere macht dagegen geltend, dass der jetzt festgestellte Zustand in Wahrheit genau jenem entspreche, der schon ursprünglich vorhanden war, weshalb eine Änderung im Leidenszustand nicht eingetreten sei und eine Entziehung nach § 99 Abs 1 ASVG nicht erfolgen könne. Auf den ersten Blick ist kaum einzusehen, dass jemand, der ohne Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen eine Invaliditätspension zuerkannt bekommen hat, diese gerade deshalb auch für die Zukunft soll beanspruchen können. [...]“ Er befürwortet zwar in weiterer Folge die Formel, dass Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen ist, hält aber einschränkend fest: „Wann immer dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes Rechnung getragen wird, gilt dies selbstverständlich nur für wirklich schutzwürdiges Vertrauen.“

5.5 [...]

6.1 Auch in der Rsp wurde in bestimmten Fällen – und zu Sondernormen gegenüber § 99 ASVG – eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids bejaht, mit dem eine Leistung aufgrund einer Fehleinschätzung gewährt wurde:

6.2 Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse gem § 183 Abs 1 ASVG im Unfallversicherungsrecht nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1 ASVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4 ASVG). Zum zweiten Tatbestand dieser Bestimmung hat der OGH ausgesprochen, dass hier jeder Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit – etwa um 5 % – wesentliche Bedeutung zukommen kann (10 ObS 15/11w SSV-NF 25/27; R. Müller in SV-Komm [219. Lfg] § 183 ASVG Rz 23). Wird daher einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von bloß 5 bis 10 vH aufgrund einer Fehlbeurteilung eine Dauerrente gewährt, rechtfertigt auch eine geringfügige Verbesserung seines Zustands, die zu einer etwa im Bereich von rund 5 bis 10 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit führt, iS einer Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eine Entziehung der zu Unrecht gewährten Dauerrente (10 ObS 87/16s SSV-NF 30/49). Denn es ist ein schwer vertretbares Ergebnis, wenn ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt wurde, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen muss, während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte (10 ObS 65/18h SSV-NF 32/62).

6.3 [...] Auch im Anwendungsbereich des § 9 Abs 4 BPGG wurde der Grundsatz der Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids, der aufgrund einer Fehleinschätzung zu Unrecht eine Leistung gewährte, im Fall der Entziehung eines ursprünglich zu Unrecht zuerkannten Pflegegelds (es bestand kein Pflegebedarf von mehr als 65 Stunden) bejaht, weil sich der tatsächliche Pflegebedarf im Zeitpunkt der (ungerechtfertigten) Gewährung von 46 Stunden pro Monat auf 40,5 Stunden pro Monat in zwei Bereichen, die für die Zuerkennung des Pflegegelds maßgeblich waren, reduziert hatte (10 ObS 78/17v SSV-NF 31/43). [...]

6.4 In beiden Fällen liegt kein schutzwürdiges Vertrauen des Leistungsempfängers vor allem auf die Weitergewährung der Leistung vor: Denn sie wurde ihm einerseits zu Unrecht zuerkannt. Andererseits hat sich in beiden Fällen der Sachverhalt im Zeitpunkt der Entziehung gegenüber demjenigen im Zeitpunkt der Gewährung geändert: einmal verringerte sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit, das andere Mal der Pflegebedarf. Mag diese Änderung auch nur geringfügig gewesen sein, so hätte dennoch eine vergleichbare Änderung zur Entziehung einer ursprünglich zu Recht zuerkannten Leistung führen können. Diesem Wertungswiderspruch kann nicht das Argument des Vertrauensschutzes auf die (materielle) Rechtskraft des Bescheids entgegengehalten werden.

7.1 Diese Grundsätze sind, wie dies bereits in der E 10 ObS 65/18h SSV-NF 32/62 ausgesprochen wurde, auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgelds anzuwenden, wenn – wie auch im vorliegenden Fall – der Entziehungsgrund des Wegfalls der vorübergehenden Invalidität (Berufsunfähigkeit) gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 lit b sublit aa ASVG geltend gemacht wird.

7.2 Rehabilitationsgeld unterscheidet sich unter dem hier zu prüfenden Aspekt des Vertrauensschutzes des Leistungsempfängers auf eine ihm aufgrund eines Fehlers des Pensionsversicherungsträgers zu Unrecht zuerkannte Leistung in mehreren Merkmalen deutlich von der Invaliditätspension (Berufsunfähigkeitspension), zu der die ältere [...] Rsp zu § 99 ASVG ergangen ist:

7.2.1 Anders als eine Pension verfolgt das Rehabilitationsgeld nicht den Zweck der Existenzsicherung nach der Beendigung des Erwerbslebens, sondern bezweckt, den krankheitsbedingten Einkommensausfall auszugleichen, und wird gerade deshalb gewährt, weil keine dauernde Arbeitsunfähigkeit besteht (10 ObS 133/15d SSV-NF 30/79). Sobald die vorübergehende Invalidität infolge erfolgreicher medizinischer Maßnahmen der Rehabilitation beendet ist, endet der Anspruch auf Rehabilitationsgeld. [...] Schon nach dieser gesetzlichen Konzeption kann der Bezieher von Rehabilitationsgeld zwar auf die Richtigkeit der Zuerkennung dieser Leistung, nicht aber uneingeschränkt auf deren zukünftige Gewährung vertrauen.

7.2.2 Rehabilitationsgeld wird nur für die Dauer „vorübergehender Invalidität“ gewährt (§ 255b ASVG), daher schon begrifflich nicht auf unbegrenzte Dauer. [...]

7.2.3 Auf den zukünftigen Weiterbezug von Rehabilitationsgeld darf der Leistungsempfänger auch deshalb nicht schon aufgrund der einmal gewährten Zuerkennung vertrauen, weil das weitere Vorliegen der vorübergehenden Invalidität (Berufsunfähigkeit) vom Krankenversicherungsträger gem § 143a Abs 1 Satz 2 ASVG jeweils bei Bedarf, jeden 245 falls aber nach Ablauf eines Jahres nach der Zuerkennung des Rehabilitationsgelds oder der letzten Begutachtung im Rahmen des Case Management (§ 143b ASVG) zu überprüfen ist. [...]

7.3 Aus diesen Gründen mag das Vertrauen des Leistungsempfängers darauf, dass ihm Rehabilitationsgeld rechtmäßig zuerkannt wurde, schützenswert sein. Ein – iS Jaborneggs und Schrammels – schützenswertes Vertrauen darauf, dass der Leistungsbezieher diese Leistung auch in Zukunft erwarten kann, besteht jedoch nur in geringerem Ausmaß.

7.4 Ergebnis:

7.4.1 Die (materielle) Rechtskraft des Bescheids über die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld steht im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität gem § 255b ASVG bei der Gewährung dieser Leistung einer späteren Entziehung gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann entgegen, wenn der Sachverhalt im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt unverändert ist.

7.4.2 Ist jedoch im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität iSd § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgelds eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität iSd § 255b ASVG begründet haben [...], so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgelds gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt.

Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

8.1 [...]

8.2 Die Kl war im Zeitpunkt der Zuerkennung von Rehabilitationsgeld am 1.8.2016 nicht vorübergehend invalid, sodass die Zuerkennung zu Unrecht erfolgte.

8.3 Im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt hat sich der gesundheitliche Zustand der Kl im Entziehungszeitpunkt [...] gebessert [...]. Diese Verbesserung betrifft einen Bereich – Arbeiten im Stehen und Gehen –, der für die Einschätzung der fehlenden Arbeitsfähigkeit der Kl im Gewährungszeitpunkt maßgeblich war, weil die Einschränkung insb auch auf die Abnützung des linken Kniegelenks der Kl zurückzuführen war.

8.4 Hingegen betrifft die Verschlechterung des Zustands der Kl die (neue) Einschränkung der Feinstmotorik. Diese spielte im Gewährungszeitpunkt keine Rolle. Sie führt auch im Entziehungszeitpunkt nicht zu dem Ergebnis, dass bei der Kl vorübergehende Invalidität bestünde.

8.5 Hätte die Kl Rehabilitationsgeld im Gewährungszeitpunkt zu Recht erhalten, weil insb auch die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Kl bei Arbeiten im Gehen und Stehen vorübergehende Invalidität entscheidend (mit-)begründet hätte, so hätte die Verbesserung ihres körperlichen Gesundheitszustands in diesem Bereich und die dadurch wiedererlangte Arbeitsfähigkeit zur Entziehung des Rehabilitationsgelds gem § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG geführt, dies ungeachtet der Verschlechterung im Bereich der feinstmotorischen Tätigkeiten. Nach den dargestellten Grundsätzen muss daher auch eine vergleichbare Verbesserung des körperlichen Gesundheitszustands der Kl zur Entziehung des ursprünglich zu Unrecht zuerkannten Rehabilitationsgelds führen.

9. Ausgehend davon erweist sich aber zusammenfassend die Rechtssache im klageabweisenden Sinn bereits als entscheidungsreif [...], sodass dem Rekurs der Bekl stattzugeben und das Klagebegehren mit Urteil zur Gänze abzuweisen ist. Hingegen erweisen sich die Revision und der Rekurs der Kl als nicht berechtigt.

[...]

ANMERKUNG
1.
Ausgangslage und Problematik

Das Problem im vorliegenden Sachverhalt besteht darin, dass der Versicherten zu Unrecht Rehabilitationsgeld zuerkannt worden ist, welches sie nun schon längere Zeit bezog. Verständlicherweise ist der Versicherungsträger bestrebt, im besten Fall (von seiner Warte bzw jener der Versichertengemeinschaft aus gesehen) den Fehler ex tunc mit entsprechender Rückforderung des zu Unrecht ausbezahlten Rehabilitationsgeldes aus der Welt zu schaffen. Wenn dies nicht möglich ist, wäre die „zweite Wahl“ zumindest die Richtigstellung des unrichtigen Zustands ex nunc, konkret also der Entzug des Rehabilitationsgeldes für die Zukunft.

2.
Rückforderung des bereits ausbezahlten Rehabilitationsgeldes?

In der vorliegenden E war eine Berichtigung des unrichtigen Zustands ex tunc kein Thema. Eine Rückforderung zu Unrecht erbrachter Geldleistungen wäre etwa nach § 107 ASVG möglich, wenn die versicherte Person zB bewusst unwahre Angaben gemacht hat oder sie erkennen musste, dass die Leistung nicht gebührte. Dafür gab es keinerlei Anhaltspunkte im Sachverhalt.

3.
Entziehung des Rehabilitationsgeldes für die Zukunft?
3.1.
Die Bedeutung der materiellen Rechtskraft von Bescheiden

Komplex ist im vorliegenden Fall die Beantwortung der Frage, ob der Versicherten das Rehabilitationsgeld für die Zukunft entzogen werden kann. Es geht dabei um das schwierige Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Vertrauens der Versicherten auf die Richtigkeit des Zuerkennungsbescheids einerseits und der objektiven Richtigkeit der Leistungsgewährung andererseits. Dazu kommt im Sozialversicherungsrecht das Interesse 246 der Versichertengemeinschaft daran, dass keine nicht gebührenden Leistungen ausbezahlt werden. Dieses Spannungsverhältnis führt zum Phänomen der materiellen Rechtskraft von Bescheiden, welches in § 68 AVG zum Ausdruck kommt (vgl Hengstschläger/Leeb, AVG § 68 Rz 12 mwN [Stand 1.3.2018, rdb.at]), und zur Frage nach deren Reichweite bzw Grenzen und deren Durchbrechungen. Ob der Bescheid rechtmäßig oder rechtswidrig ist, soll – von bestimmten Fällen abgesehen – nach Eintritt der formellen Rechtskraft nicht mehr neu aufgerollt werden können (Hengstschläger/Leeb, AVG § 68 Rz 2 mit detaillierten Ausführungen zum Zweck des § 68 AVG insgesamt).

3.2.
Die materielle Rechtskraft im Leistungsrecht der Sozialversicherung

Nun sind allerdings gem § 360b ASVG in Leistungssachen diverse Bestimmungen des AVG nicht anwendbar. So findet auch § 68 AVG keine Anwendung (vgl § 360b Abs 1 Teilstrich 10 ASVG). In der Lehre wird jedoch darauf hingewiesen, dass sich auch ohne Anwendbarkeit des § 68 AVG aus den (anwendbaren) §§ 69 bis 72 AVG (Wiederaufnahme, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) ergibt, dass die Bescheide der Sozialversicherungsträger grundsätzlich der Rechtskraft zugänglich sind (Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 360b ASVG Rz 8 mwN [Stand 1.12.2020, rdb.at]). Dies entspricht der Judikatur des VwGH (vgl zB VwGH89/08/0163 VwSlg 13.097A), der einen die österreichische Rechtsordnung beherrschenden Grundsatz der Rechtskraft behördlicher Entscheidungen annimmt, welchem der Versicherungsträger in seinen Entscheidungen zum Durchbruch zu verhelfen habe (vgl in diesem Kontext ausführlich mwN auch Hengstschläger/Leeb, AVG § 68 Rz 15). Im gegebenen Zusammenhang lohnt – und dem hat der OGH in der vorliegenden E ohnehin Augenmerk geschenkt – ein Blick in die Geschichte des § 101 ASVG. Gem § 101 in der Stammfassung des ASVG war hinsichtlich Geldleistungen bzw Renten, die infolge eines wesentlichen Irrtums über den Tatbestand oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht ua zuerkannt oder abgelehnt wurden, vom Tag der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen. Dazu wird in den Materialien (EB zu 599 BlgSten-ProtNR 7. GP 44 f) darauf hingewiesen, dass sich der Gesetzgeber in Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des GSVG zur Auffassung bekannt habe, dass die Bescheide der Versicherungsträger über Leistungsansprüche einer absoluten Rechtskraft überhaupt nicht fähig sind, sondern ohne Bindung an die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen materieller Unrichtigkeit trotz ihrer formellen Rechtskraft aufgehoben oder abgeändert werden können. Dieser Auffassung sei grundsätzlich zuzustimmen, da mit Rücksicht auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der Versicherungsleistungen jederzeit und ungehemmt durch formalrechtliche Bedenken die Herstellung des gesetzlichen Zustands möglich sein solle.

Wie auch der OGH erwähnt, wurde § 101 ASVG durch BGBl 1962/13 dahingehend geändert, dass eine solche rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands nur mehr zugunsten des Versicherten zu erfolgen hat (vgl dazu insgesamt Zupancic, Die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen, SozSi 1963, 395 ff). Die Materialien legen dazu ua dar (147/A 9. GP 65 f), dass der absolute Gesetzesbefehl, den gesetzlichen Zustand rückwirkend wiederherzustellen, insb dann zu unbilligen Härten führe, wenn die Leistung an sich zu Unrecht, aber schon seit Jahrzehnten erbracht worden ist. In der 90. Sitzung des NR vom 15.12.1961, 9. GP, betont der Abgeordnete Preußler zu dieser Neuregelung, dass die bisher geübte Praxis der jederzeitigen Aufhebbarkeit eines in Rechtskraft erwachsenen Bescheides, wenn sich nachträglich herausstellte, dass eine Geldleistung zu Unrecht erbracht wurde, zugunsten des Vertrauensgrundsatzes fallen gelassen wurde (siehe Sten-Prot S 3907 f). Festzuhalten ist: Wenngleich es bei § 101 ASVG um die rückwirkende Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes und nicht wie im vorliegenden Fall „nur“ um dessen Herstellung pro futuro geht, betont der Gesetzgeber hier generell die Bedeutung der Rechtskraft erlassener Bescheide und des Vertrauensschutzes auch im Sozialversicherungsrecht, was ihn augenscheinlich dazu bewogen hat, in § 101 die Durchbrechung der Rechtskraft nur mehr zugunsten des Versicherten anzuordnen (vgl auch Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG,

; Kohlegger, Wesentliche Änderung der Verhältnisse bei Leistungsansprüchen in der Sozialversicherung, in Wachter/Burger [Hrsg], Aktuelle Entwicklungen im Arbeits- und Sozialrecht 2009 [2009] 290 f; Fellinger in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 101 ASVG Rz 2 [Stand 1.8.2015, rdb.at]).

3.3.
§ 99 ASVG und die Besonderheiten des vorliegenden Sachverhalts

Nach dem oben Gesagten ist davon auszugehen, dass die Leistungsbescheide im Sozialversicherungsrecht ungeachtet der Nichtanwendbarkeit des § 68 AVG in Rechtskraft erwachsen. Das Rehabilitationsgeld wird unbefristet gewährt. Wird eine Leis tung ohne Enddatum zuerkannt, gilt die Rechtskraftwirkung auch für die Zukunft, solange keine Änderung der Sachlage oder Rechtslage eintritt. Dieser Grundsatz wird im Leistungsrecht der SV modifiziert bzw konkretisiert, zB durch § 183 oder § 99 (vgl Müller in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 183 ASVG Rz 1 [Stand 1.12.2020, rdb.at] sowie unten 3.4. und 3.5.). Wie der OGH in der vorliegenden E mwN dargelegt hat, bietet § 99 keine Grundlage für Korrekturen schon ursprünglich unrichtiger Bescheide. Die „Chance“ aus Sicht des Sozialversicherungsträgers bestand im vorliegenden Sachverhalt in der Tat darin, dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten im Verhältnis zum Gewährungszeitpunkt verändert, in einem Teilbereich auch verbessert hat. Geht man nach dem Wortlaut des § 99 ASVG, ist allerdings eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes bei schon ursprünglich nicht vorliegender vorübergehender Invalidität 247 und falscher Zuerkennung auch dann nicht möglich, wenn sich der Gesundheitszustand der Versicherten gebessert hat. Es muss nach dem Wortlaut vorübergehende Invalidität einmal vorgelegen haben (arg: „nicht mehr vorliegt“), was hier aber nicht der Fall ist. Dass das alles zu unbefriedigenden Ergebnissen führt, hat der OGH auch anhand des von Jabornegg gebrachten Beispiels nachvollziehbar dargestellt. Möglicherweise kann jedoch im vorliegenden Fall infolge der teilweisen Verbesserung des Gesundheitszustandes der Versicherten nach allgemeinen Grundsätzen bzw ungeachtet des Wortlautes nach dem Zweck des § 99 ASVG eine Entziehung trotzdem zulässig sein. Dazu ist auch zu klären, welche Auswirkung die Veränderung des Gesundheitszustandes auf die materielle Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids haben kann.

3.4.
Auswirkung der Veränderung des Gesundheitszustandes der Versicherten auf die materielle Rechtskraft des Gewährungsbescheids nach allgemeinen Grundsätzen

Allgemein lässt sich festhalten, dass sich die materielle Rechtskraft des Bescheides nach § 68 AVG auf die entschiedene Sache beschränkt. Eine Sache verliert ihre ursprüngliche Identität erst durch eine Änderung der entscheidungsrelevanten Fakten. Wesentlich ist eine Änderung des Sachverhaltes nur dann, wenn sie den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgeblich erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die der Entscheidung zugrunde lagen, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann und daher die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheids zumindest möglich ist (vgl ausführlich mwN über Judikatur und Lehre Hengstschläger/Leeb, AVG § 68 Rz 23 ff). Nach diesen zu § 68 AVG herausgearbeiteten Grundsätzen wäre im vorliegenden Fall wohl keine entschiedene Sache mehr anzunehmen. Ursprünglich bejahte der Pensionsversicherungsträger auf Basis des damaligen Gesundheitszustandes der Versicherten das Bestehen vorübergehender Invalidität. Dass dies fälschlicherweise erfolgte, ist bei der Prüfung des Vorliegens der entschiedenen Sache unerheblich. Es ist dabei vom rechtskräftigen Vorbescheid auszugehen, ohne Überprüfung von dessen sachlicher Richtigkeit (vgl zB VwGH 26.2.2004, 2004/07/0014). Nunmehr nahm der Pensionsversicherungsträger offenbar wegen des veränderten Gesundheitszustandes der Versicherten keine vorübergehende Invalidität mehr an. Die konkrete Veränderung des Gesundheitszustandes ist hier aber davon unabhängig auch abstrakt geeignet, eine andere als die im Gewährungszeitpunkt erfolgte Beurteilung der maßgebenden Umstände herbeizuführen.

3.5.
Gesetzliche Konkretisierungen der Reichweite der materiellen Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht – speziell §§ 99 und 183 ASVG

Im vorliegenden Fall ist jedoch das ASVG maßgeblich, in welchem die Reichweite der materiellen Rechtskraft verschiedentlich modifiziert bzw konkretisiert wird. Der OGH verweist ua auf § 183 ASVG. Diese Regelung macht deutlich, dass schon eine geringfügige Verbesserung des Gesundheitszustandes für eine Entziehung der Rente genügt, wenn durch die Verbesserung ein Rentenanspruch wegfällt. Vgl dazu auch die Materialien zum SRÄG 1988, BGBl 1987/609(ErläutRV 324 BlgNR 17. GP 36) sowie Windisch-Graetz, ZAS 1993, 116 f und krit Müller, RdW 1988, 47 f. Der Vertrauensschutz endet zumindest in diesem Bereich nach dem Willen des Gesetzgebers dann, wenn eine – auch nur geringfügige – Veränderung (hier Verbesserung) im Gesundheitszustand dazu führt, dass der Anspruch auf eine bisherige Leistung wegfällt. Den Ausführungen des OGH zur Entziehung einer zu Unrecht gewährten Rente (Pkt 6.2 der E) ist zuzustimmen. Nachvollziehbar ist dabei auch, dass man als Vergleichsperson eine Person herangezogen hat, die die notwendige Minderung der Erwerbsfähigkeit für die Rente knapp erreicht hatte, sodass eine bloß geringfügige Verbesserung des Gesundheitszustandes für die Entziehung ausreicht. Jene Person, der die Rente zu Unrecht zuerkannt wurde, hat in Wahrheit ja nicht einmal diese Schwelle erreicht.

Nun ist im vorliegenden Fall allerdings nicht § 183 ASVG maßgeblich, sondern § 99 ASVG. Grenzwerte wie bei der Versehrtenrente gibt es beim Rehabilitationsgeld nicht (vgl auch Atria in Sonntag [Hrsg], ASVG11 [2020] § 99 Rz 9). Betrachtet man speziell die Regelung des § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b) sublit aa) ASVG zeigt diese, dass das Rehabilitationsgeld zu entziehen ist, wenn vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliegt. Die vorübergehende Invalidität kann infolge einer Verbesserung des Gesundheitszustandes und sich daraus ergebender Verweisbarkeit wegfallen. Ist dies der Fall, ist unerheblich, ob sich der Gesundheitszustand konkret stärker oder weniger stark gebessert hat. Letzteres ist bei Personen denkbar, die schon ursprünglich „an der Grenze zur Verweisbarkeit“ waren; es wäre auch im vorliegenden Fall gerechtfertigt, eine solche Person als Vergleichsmaßstab heranzuziehen, da die Versicherte diese Grenze in Wahrheit schon ursprünglich sogar überschritten hatte. Bei ursprünglich richtiger Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität könnte es durchaus Fälle geben, in denen eine Verbesserung der Stehund Gangleistung in einem Ausmaß wie im vorliegenden Sachverhalt (und diese Verbesserung war gar nicht so unerheblich) zu einer Verweisbarkeit und daher zum Wegfall der vorübergehenden Invalidität führt. In der Tat läge ein Wertungswiderspruch vor, wenn im vorliegenden Fall die Entziehung des Rehabilitationsgeldes trotz Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht möglich wäre. § 99 bringt ua zum Ausdruck, dass das Vertrauen auf die Leistungsgewährung bei Eintritt gewisser Veränderungen verglichen mit dem Zeitpunkt der Leistungszuerkennung nicht mehr schützenswert ist. Diese Wertung kann auch auf Fälle ursprünglich unrichtiger Leistungszuerkennung übertragen werden. Die Versicherte hat in der Zwischenzeit ein künstliches Kniegelenk erhalten, was offenbar 248 mit ein Grund für die Verbesserung der Steh- und Gangleistung war. Zumindest der Umstand, dass das Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks zu einer Verbesserung des Leistungskalküls führen kann, wird der Versicherten auch bewusst gewesen sein. Die Ausführungen des OGH zum Vertrauensschutz in Bezug auf das Rehabilitationsgeld (vgl Pkt 7.2 der E) sind überzeugend. Anzumerken ist zudem, dass der EuGH nun aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des OGH entschieden hat (EuGH 5.3.2020, Rs C-135/19, Pensionsversicherungsanstalt gegen CW), dass es sich beim Rehabilitationsgeld um eine Leistung bei Krankheit und nicht bei Invalidität handelt, da es das Risiko vorübergehender Erwerbsunfähigkeit abdecken solle. Der EuGH betont in dieser E klar den Charakter des Rehabilitationsgeldes als vorübergehende Leistung. Dem Umstand, dass ein Großteil der BezieherInnen von Rehabilitationsgeld faktisch nicht mehr in das Erwerbsleben zurückkehrt und das Rehabilitationsgeld daher für diese Personen doch eine Existenzsicherung nach Beendigung des Erwerbslebens darstellt (vgl Zhang, DRdA-infas 2020/181, 432), kann aufgrund des ua mit der Einführung des Rehabilitationsgeldes klar ersichtlich verfolgten Zwecks („Eindämmung frühzeitiger Pensionsantritte aus gesundheitlichen Gründen“, „längerer Verbleib der Menschen im Erwerbsleben“, vgl insgesamt ErläutRV 2000 BlgNR 24. GP sowie zB Felten, Rehabilitationsgeld und Pension, SozSi 2018, 491 ff mwN) in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zukommen (so aber Zhang, DRdA-infas 2020/181, 432 zur vorliegenden E). Eine Berücksichtigung dieses faktischen Umstandes bei der Frage nach dem (Weiter-)Bestehen eines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld würde den Gesetzeszweck konterkarieren. Man muss sich dann eher die Frage nach der Tauglichkeit des Systems insgesamt stellen. Nach all dem ist die gegenständliche E des OGH nachvollziehbar. Es bleibt aber mE eine Frage offen, nämlich jene nach der Erweiterung der Verweisbarkeit der Versicherten, die vom Berufungsgericht als maßgeblich angesehen wurde, auf die der OGH jedoch nicht mehr eingegangen ist (vgl auch schon Sonntag in Sonntag [Hrsg], ASVG11 § 143a Rz 12).

3.6.
Erweiterung der Verweisbarkeit Voraussetzung für die Entziehung des Rehabilitationsgeldes im vorliegenden Fall?

Wurde einem Versicherten das Rehabilitationsgeld mangels in Betracht kommenden Verweisungsberufes zu Recht zuerkannt, kann es in der Folge bei Besserung des Gesundheitszustandes nur dann entzogen werden, wenn der Versicherte nunmehr zumindest auf einen Beruf verweisbar ist. Wenn es nun dem OGH – zu Recht – ein Anliegen ist, Wertungswidersprüche zu vermeiden (er stellt ja darauf ab, ob eine vergleichbare Änderung zur Entziehung einer ursprünglich zu Recht zuerkannten Leistung führen könnte), stellt sich schon die Frage, ob man dieses Erfordernis der Erweiterung der Verweisbarkeit dann nicht auch für Fälle wie den vorliegenden annehmen müsste. Dann hätte der OGH aber darauf eingehen müssen, welche Verweisungsberufe die Versicherte im Zeitpunkt der (unrichtigen) Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes ausüben konnte (ob nur die Tätigkeit als Tagportierin möglich war oder auch noch andere Tätigkeiten) und welche im Entziehungszeitpunkt. Es könnte dann für eine Entziehung nicht genügen, wenn zu beiden Zeitpunkten etwa nur die Tätigkeit als Tagportierin möglich gewesen wäre. Insofern könnte der Verschlechterung der Feinstmotorik schon Bedeutung zukommen, wenn diese möglicherweise eine Erweiterung der Verweisbarkeit verhindert hat. Auf der anderen Seite kann man natürlich auch die Ansicht vertreten, dass hier keine Vergleichbarkeit gegeben ist: In dem einen Fall (ursprünglich richtige Zuerkennung von Rehabilitationsgeld) erweitert sich die Anzahl der vom Versicherten ausübbaren Verweisungsberufe von 0 auf 1 (oder höher), es tut sich also der Arbeitsmarkt für den Versicherten „wieder auf“, was zu einem Verlust des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld führt. Hingegen ist in dem anderen Fall (ursprünglich unrichtige Zuerkennung von Rehabilitationsgeld) der Arbeitsmarkt dem Versicherten in Wahrheit schon von Anfang an „offengestanden“, woran auch eine Erweiterung der Verweisbarkeit nichts ändert. Die Erweiterung der Verweisbarkeit hat daher im ersten Fall eine ganz andere Relevanz als im zweiten.

4.
Ergebnis

Die vorliegende E ist ausführlich begründet und in den grundsätzlichen Fragen nachvollziehbar. Schade ist, dass der OGH auf die auch vom Berufungsgericht im gegebenen Fall für maßgeblich erachtete Frage der Erweiterung der Verweisbarkeit als Voraussetzung für die Entziehung des Rehabilitationsgeldes nicht eingegangen ist. Vielleicht kann er dies in einer späteren E nachholen. 249