24

Für eine kollisionsrechtliche Anknüpfung ist die nationale Definition der Erwerbstätigkeit maßgeblich

KRISZTINAJUHASZ (WIEN)
  1. Für die Feststellung der Rangfolge der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten ist die Ausübung einer Beschäftigung entscheidend (Art 68 Abs 1 VO [EG] 883/2004). Die VO (EG) 883/2004 verweist bezüglich der Definition des Begriffs „Beschäftigung“ sowie bezüglich der mit einer Beschäftigung „gleichgestellten Zeiten“ auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten (Art 1 lit a iVm Art 11 Abs 2 der VO [EG] 883/2004).

  2. § 24 Abs 2 Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) definiert den Erwerbstätigkeitsbegriff und führt die mit einer Erwerbstätigkeit gleichgestellten Zeiten unter Hinweis auf das MSchG/VKG (oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften) aus.

  3. Nur bei Erfüllung der nationalen Gleichstellungserfordernisse liegt – bis zum zweiten Lebensjahres eines Kindes – gem § 24 Abs 3 KBGG eine gleichgestellte Situation iSd Art 68 iVm Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Beurteilung der subsidiären Leistungszuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: „VO 883/2004“) für die Erbringung von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld („Sonderleistung I“ nach § 24d Abs 1 KBGG) als Ausgleichszahlung an die in Deutschland wohnhafte Kl anlässlich der Geburt ihres zweiten Kindes.

Die Kl lebt mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern, dem Sohn [...] geboren 2016 und der Tochter [...] geboren 2018, in Deutschland. Sie ist seit 2013 bei einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland beschäftigt, ihr Beschäftigungsort liegt in Österreich. Ihr Ehemann ist als Angestellter in Deutschland erwerbstätig. Die Kl befindet sich seit dem 14.5.2016 [...] im Karenzurlaub. Ihr Dienstverhältnis ist aufrecht. Nach der Geburt des ersten Kindes nahm der Ehemann der Kl von 14.7.2016 bis 13.8.2016, sowie von 14.6.2017 bis 13.7.2017 (deutsche) Elternzeit in Anspruch. Die Kl erhielt [...] deutsches Basiselterngeld sowie [...] Elterngeld plus, insgesamt in einer Höhe von 4.844 €. [...]

Die Kl beantragte vorerst das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 10.3.2018 bis 9.3.2019. Am 27.7.2018 modifizierte sie ihren Antrag dahin, dass sie die Gewährung der Sonderleistung I gem § 24d KBGG begehrte. Mit Bescheid [...] lehnte die Bekl diesen Antrag ab.

Das Erstgericht sprach der Kl [...] eine Ausgleichszahlung zum österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 10.3.2018 bis 9.3.2019 zu. [...] Die gleichzeitig von beiden Elternteilen nach der Geburt des ersten Kindes konsumierte Karenz habe keine Auswirkungen auf den Kinderbetreuungsgeldbezug nach der Geburt des zweiten Kindes.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. Nach dem MSchG und VKG sei eine gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile grundsätzlich nicht zulässig. [...] Die gleichzeitige Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den einen Elternteil und einer österreichischen Karenz durch den anderen Elternteil sei jedoch nach dem MSchG nicht ausgeschlossen. [...] Die gleichzeitige Inanspruchnahme der (deutschen) Elternzeit durch den Ehemann [...] und die Inanspruchnahme einer österreichischen Karenzzeit durch die [...] Kl schließe nicht aus, dass Österreich Beschäftigungsstaat sei. Infolge des Beschäftigungsorts des Vaters in Deutschland und des in Deutschland gelegenen Wohnorts der Kinder sei Deutschland vorrangig und Österreich subsidiär leistungszuständig (Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO 883/2004). [...] Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Bekl [...].

Die Revision ist zulässig, weil im Geltungsbereich des § 24 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 noch keine Rsp des OGH zur Frage besteht, ob die Karenz des einen Elternteils bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil eine der Beschäftigung iSd Art 1 lit a VO 883/2004 gleichgestellte Situation darstellt. Die Revision ist auch berechtigt.

Die Revisionswerberin bringt im Wesentlichen vor, dass bei Anwendung des Art 68 VO 883/2004 für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld die in § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 festgelegten einschlägigen nationalen Gleichstellungserfordernisse gelten. Um Karenzzeiten mit Zeiten einer Erwerbstätigkeit gleichhalten zu können, müssten die für den Anspruch auf Karenz vom MSchG/VKG geforderten Voraussetzungen eingehalten werden. Ua dürfte keine länger als einen Monat andauernde gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile vorliegen. Dies gelte selbstverständlich auch, wenn der andere Elternteil eine ausländische Karenzzeit in Anspruch nehme. Da der Ehemann der Kl länger als einen Monat in deutscher Elternzeit (Karenz) gewesen sei, sei die gleichzeitige Karenzzeit der Kl beendet. Ab diesem Zeitpunkt sei sie (ohne Bezüge) nicht erwerbstätig. Ihre karenzierte Beschäftigung stelle keine gleichgestellte Situation iSd Art 68 iVm Art 1 lit a VO 883/2004 dar. Österreich sei mangels eines grenzüberschreitenden Anknüpfungspunkts nicht mehr für die Gewährung von Familienleistungen (subsidiär) leistungszuständig. Diese Ausführungen sind berechtigt.

1.1 Die Kl ist Grenzgängerin gemäß der Definition nach Art 1 lit f VO 883/2004, in deren persönlichen Geltungsbereich sie, sowie ihr Ehemann und ihre Kinder fallen (Familienangehörige gem Art 1 lit i VO 883/2004). 250

1.2 Der sachliche Geltungsbereich der VO umfasst ua Familienleistungen iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j der VO 883/2004, zu denen das österreichische Kinderbetreuungsgeld zählt (EuGHC-543/03, Dodl und Oberhollenzer; C-347/12, Wiering; RS0122905), auch wenn es als Ersatz des Erwerbseinkommens gewährt wird (RS0122905 [T4]).

2. Familienleistungen werden nach den Art 67-69 der VO 883/2004 koordiniert. [...]

2.1 [...]

2.2 Art 68 Abs 1 VO 883/2004 legt zwecks Vermeidung von Doppelleistungen fest, welcher Staat vorrangig zuständig ist [...].

2.3 Art 67 (Exportverpflichtung) und Art 68 (Prioritätsregeln) der VO 883/2004 knüpfen an die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art 11 der VO 883/2004 an. Zunächst ist daher festzustellen, welchen Rechtsvorschriften die Kl unterliegt.

3.1 Nach Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, dies unabhängig davon, wo die betreffende Person ihren Wohnsitz hat. [...]

3.2 Zu prüfen ist daher, ob die von der Kl in Anspruch genommene Karenz gem § 15 MSchG als „Beschäftigung“ iSd Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 zu qualifizieren ist und zur Anwendbarkeit österreichischen Rechts führt oder – falls dies zu verneinen ist – auf das deutsche Recht (als Recht ihres Wohnsitzstaats) abzustellen ist.

3.3 Der Begriff der „Beschäftigung“ iSd VO 883/2004 wird in deren Art 1 lit a definiert. [...] Damit verweist Art 1 lit a VO 883/2004 auf das Sozialrecht des betreffenden Mitgliedstaats (10 ObS 117/14z SSV-NF 29/13 = EvBl 2016/4, 32 [Niksova] = DRdA 2016/3, 37 [Kunz] = ZAS 2016/5, 33 [Petric]).

3.4 Gleichzeitig fingiert Art 11 Abs 2 der VO 883/2004 unter bestimmten Umständen eine Beschäftigung. Bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, wird davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben.

3.5 Darüber hinaus gilt als Beschäftigung iSd Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 auch eine „gleichgestellte Situation“. [...]

4.1 Eine Definition des Begriffs „Beschäftigung“ iSd Art 1 lit a VO 883/2004 ist für den Bereich des pauschalen und des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 KBGG festgelegt (RS0130043). [...]

4.2 Gem § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2013/117BGBl I 2013/117 ist unter Erwerbstätigkeit iS dieses Bundesgesetzes zu verstehen „die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. [...] gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung [...] während eines Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz 1979 (MSchG), BGBl. Nr. 221, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten [...] zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter-Karenzgesetz (VKG), BGBl. Nr 651/1989, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes“.

4.3 [...] Die Aussage dieser Entscheidungen [Anm: OGH10 ObS 148/14h, 10 ObS 115/16h] lässt sich dahin zusammenfassen, dass § 15 Abs 1a MSchG iVm § 15a Abs 2 MSchG sowie § 2 VKG [...] keine ausdrückliche Aussage zur gleichzeitigen Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil träfen. [...]

4.4 Mit der Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 wurde dem § 24 KBGG ein dritter Absatz angefügt. [...]

4.5 Nach den Gesetzesmaterialien zu § 24 Abs 3 KBGG strebte der Gesetzgeber die Klarstellung an [...], dass für die Zwecke der VO 883/2004 nicht „europarechtliche Zuständigkeitsregeln (anwendbares Recht), sondern – europarechtskonform – auf die jeweiligen nationalen Voraussetzungen abgestellt wird“ (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11).

[...]

5.1 Felten (in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6/1) weist darauf hin, dass mit § 24 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53die einer Erwerbstätigkeit gleichzustellenden Situationen ausdrücklich wieder eingeschränkt werden. [...]

5.2 Holzmann-Windhofer (in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz, § 24 Anm 2.2.5.2 [153]), verweist zu den Gleichstellungserfordernissen im Zusammenhang mit der Karenz nach dem MSchG und dem VKG auf die Voraussetzungen und Bedingungen des MSchG. [...]

5.3 Sonntag (Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [7]) geht davon aus, dass sich § 24 Abs 3 KBGG als inhaltsleer erweise, weil darin vorausgesetzt werde, dass die gleichzeitige Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil eine österreichische Karenz ausschließe. [...]

6.1 Der Ansicht der Revisionswerberin [...] ist zu folgen:

Sowohl die Definition des Begriffs „Beschäftigung“ in Art 1 lit a der VO 883/2004 als auch jene in Art 11 Abs 2 VO 883/2004 verweisen auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten. Maßgeblich für die kollisionsrechtliche Anknüpfung ist demnach die nationale Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ sowie des Begriffs „der einer Beschäftigung gleichgestellten Situation“. Beide Begriffe wurden vom Gesetzgeber für den Bereich des Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 und 3 KBGG (zulässigerweise) definiert (RS0130043).

6.2 [...] Im Hinblick auf die während der Karenzzeit nach dem ersten Kind eingetretene weitere Schwangerschaft muss eine lückenlose Aneinanderreihung von Mutterschutz und Karenzzeiten vorliegen, die eine „Gleichstellungskette“ auslöst (Holzmann-Windhofer in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeld § 24 Anm 2.2.5.3 [154]).

6.3 [...] Die neue Regelung des § 24 Abs 3 KBGG ist nach ihrem objektiven Zweck dahin zu verstehen, dass [...] bei gleichzeitiger (mehr als einmonatiger) Inanspruchnahme einer ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil keine Leistungszuständigkeit 251 Österreichs und daher keine Exportverpflichtung mehr gegeben sein soll. Die Revisionswerberin weist zutreffend darauf hin, dass damit keine diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen definiert werden, [...] weil Elternteile, die in verschiedenen Mitgliedstaaten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, jenen Elternteilen gleichgestellt werden, die lediglich in Österreich eine Erwerbstätigkeit ausüben. Der in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht, aus dem Grundsatz der Freizügigkeit sei abzuleiten, dass die nach dem deutschen Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG) mögliche gleichzeitige Inanspruchnahme der Elternzeit durch beide Elternteile den Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld nicht hindern dürfe, ist entgegenzuhalten, dass [...] das Unionsrecht kein einheitliches Sozialrecht [schafft] [...], sondern das Sozialrecht der Mitgliedstaaten unberührt [lässt]. [...] Der Europäischen Union steht keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das sozialrechtliche Sachrecht zu, weshalb sie auch nicht eine Harmonisierung der Sozialleistungssysteme schaffen kann (RS0111028). [...]

7. Zusammenfassend ist aus kollisionsrechtlicher Sicht ab der mehr als einmonatigen Inanspruchnahme von (deutscher) Elternzeit durch den Vater und gleichzeitiger Karenzzeit durch die Kl keine einer „Beschäftigung“ iSd § 11 Abs 2 VO 883/2004 gleichgestellte Situation mehr vorgelegen. Die bis dahin gleichgestellten Zeiten können keine weitere Gleichstellung auslösen. In kollisionsrechtlicher Hinsicht (Art 11 ff VO 883/2004) folgt daher, dass [...] Österreich für die Gewährung von Familienleistungen auch nicht subsidiär zuständig ist. Der Revision der Bekl ist daher Folge zu geben. [...]

ANMERKUNG
1.
Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit wird in der Europäischen Union – auch erfasst: Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz – durch die VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 geregelt. Die Verordnung betrifft bestimmte Zweige der sozialen Sicherheit, ohne dabei die nationalen Systeme durch ein einheitliches System zu ersetzen. In den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung fallen Rechtsvorschriften, die Leistungen bei Mutterschaft sowie gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft gem Art 3 Abs 1 lit b VO (EG) 883/2004 und Familienleistungen gem Art 3 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 betreffen.

1.1.
Zuständigkeitsverteilung nach Art 68 Abs 1 der VO (EG) 883/2004

Um Doppelleistungen zu vermeiden, wenn Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen zusammentreffen, normiert Art 68 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 sogenannte Prioritätsregeln und legt betreffend Leistungserbringung die vorrangige Zuständigkeit eines Mitgliedstaates fest. Dabei differenziert Art 68 VO (EG) 883/2004 zwischen zwei möglichen Kollisionsfällen.

1.2.
Leistungsgewährung aus unterschiedlichen Gründen

Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 regelt das Zusammentreffen von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten, wobei der Grund des Anspruches unterschiedlich sein kann. Dabei kommen drei Anspruchsgründe in Betracht. Vorrangig für die Auszahlung der Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Elternteil – selbständig oder unselbständig – eine Beschäftigung ausübt, selbst dann, wenn die Familie ständig in einem anderen Vertragsstaat lebt. Diesen nachgereiht sind Ansprüche, die durch eine Rente ausgelöst werden. An letzter Stelle folgen Ansprüche, die aufgrund des Wohnsitzes bestehen.

1.3.
Leistungsgewährung aus denselben Gründen

Bei einem Anspruchskonflikt durch die Kumulierung von Anspruchsberechtigungen, da Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten jeweils aus dem gleichen Grund (nämlich Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit; Rentenbezug; Wohnort) zur Anwendung kommen, bestimmt Art 68 Abs 1 lit b VO (EG) 883/2004 jenen Staat als vorrangig zuständig, in dem auch die Kinder ihren Wohnort haben.

2.
Unionsrechtliche Definition der „Beschäftigung“ und der mit einer Beschäftigung „gleichgestellten Situation“

Obwohl für die Feststellung der Rangfolge der Zuständigkeiten die Ausübung einer Beschäftigung maßgeblich ist, existiert eine einheitliche europarechtliche Begriffsbestimmung nicht. Die Verordnung verweist vielmehr auf die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften: Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 bezieht sich auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten, das auf den jeweiligen Sachverhalt schließlich anzuwenden ist und subsumiert unter „Beschäftigung“ jede Tätigkeit oder „gleichgestellte Situation“, die nach nationalem Recht als solche zu qualifizieren ist, ohne diese Begriffe selbst zu konkretisieren. Die im Art 1 VO (EG) 883/2004 angeführten Normen nehmen insofern eine Sonderstellung ein, da sie als Legaldefinitionen über keinen eigenständigen Regelungsgehalt verfügen. Sie erlangen innerhalb anderer Bestimmungen ihre rechtliche Bedeutung. Der Begriff „Beschäftigung“ hat somit Bedeutung im Art 11 Abs 3 VO (EG) 883/2004 bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts (Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht 252 [2018] 126-129). Nach Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, dies unabhängig davon, wo die betreffende Person ihren Wohnsitz hat. Geht die Person keiner Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach, sind gem Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats anwendbar.

Eine weitere Auslegung des Beschäftigungsbegriffes findet sich im Beschluss Nr F1 vom 12.6.2009 zur Auslegung des Art 68 der VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Prioritätsregeln beim Zusammentreffen von Familienleistungen. Im Beschluss wird ua auch klargestellt, dass Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung einer Erwerbstätigkeit durch unbezahlten Urlaub zum Zweck der Kindererziehung (also Karenzzeiten, zB nach § 15 MSchG) – solange dieser Urlaub nach einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist – als eine „Beschäftigung“ anzusehen sind. Der Beschluss der Verwaltungskommission bezieht sich allerdings bloß auf Art 68 VO (EG) 883/2004 und lässt dabei Art 11 VO (EG) 883/2004 außer Betracht. Nach Felten ist es daher fraglich, ob sich im Falle einer Karenzierung die anzuwendende Rechtsvorschrift weiterhin nach dem ehemaligen Beschäftigungsstaat oder nach dem Wohnsitzstaat richtet. Bei der Annahme des Wohnsitzstaatsprinzips hätte der Beschluss allerdings keinerlei eigene Bedeutung mehr. Somit ist davon auszugehen, dass der Beschäftigungsbegriff des Art 11 VO (EG) 883/2004 jenem des Art 68 VO (EG) 883/2004 entspricht. Versteht man zudem Art 68 VO (EG) 883/2004 nicht ausschließlich als Prioritäts- bzw Antikumulierungsvorschrift, sondern auch als Kollisionsnorm zur Feststellung des anzuwendenden Rechts, würde man aufgrund des systematischen Zusammenhanges mit Art 67 VO (EG) 883/2004 zum selben Ergebnis gelangen (Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6). Der Beschäftigungsbegriff bei Familienleis tungen ist somit durch den Beschluss Nr F1 der Verwaltungskommission sehr wohl unionsrechtlich determiniert.

3.
Nationale Definition der „Erwerbstätigkeit“ und der mit einer Erwerbstätigkeit „gleichgestellten Situation“

Der Gesetzgeber nahm mit der Änderung des KBGG für Geburten nach dem 28.2.2017 geltenden Fassung (BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53; § 50 Abs 14 und Abs 15 KBGG) nicht nur eine umfassende Umgestaltung des KBGG vor, sondern reagierte gleichzeitig auf die Judikatur des OGH zu unionsrechtlichen Fragen. Mit der Novelle wurde § 24 KBGG mit einem dritten Absatz ergänzt, wobei § 24 Abs 2 KBGG im Wesentlichen unverändert geblieben ist.

3.1.
„Erwerbstätigkeit“ und „gleichgestellte Zeiten“ des § 24 Abs 2 KBGG

Für einen Anspruch auf das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld müssen neben allen allgemeinen Voraussetzungen (§ 2 Abs 1 Z 1, 2, 4 und 5 KBGG) auch das Erwerbstätigkeitserfordernis sowie die Negativvoraussetzung des Nichtbezuges von Leistungen der AlV erfüllt sein. Das Erwerbstätigkeitserfordernis ist im § 24 Abs 2 KBGG legal definiert. Demnach muss eine 182-tägige in Österreich kranken- und pensionsversicherungspflichtige, tatsächlich ausgeübte Erwerbstätigkeit unmittelbar vor der Geburt des Kindes vorliegen. Überdies gelten als der tatsächlichen Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Zeiten des Beschäftigungsverbotes nach dem MSchG sowie das Vorliegen einer Karenz nach dem MSchG oder VKG (oder nach vergleichbaren anderen österreichischen Rechtsvorschriften), wenn das Dienstverhältnis durch diese Zeiten bloß vorübergehend unterbrochen wurde. Für das Kinderbetreuungsgeld (für die einkommensabhängige und die pauschale Variante) gelten die in § 24 Abs 2 KBGG festgelegten einschlägigen nationalen Gleichstellungserfordernisse für die Anwendung des Art 68 der VO (EG) 883/2004 (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11).

3.2.
Ergänzung des § 24 KBGG durch Abs 3

Vor der Novellierung des KBGG (BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53) war unklar, welche Karenzfälle von der Gleichstellungsbestimmung des § 24 Abs 2 KBGG mit umfasst waren. Der OGH hat § 24 Abs 2 KBGG im Wege der unionsrechtskonformen Interpretation nicht nur Zeiten einer gesetzlichen Mutterschutzkarenz, sondern auch die einer vereinbarten Karenz sowie voran gegangene Zeiten eines Krankengeldbezuges als „Beschäftigung“ qualifiziert (OGH10 ObS 117/14z, Kunz in DRdA 2016, 37.) Zudem hielten § 15 Abs 1a iVm Abs 2 MSchG sowie § 2 VKG die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile für länger als einen Monat zwar für nicht zulässig, trafen aber keine ausdrückliche Aussage zur gleichzeitigen Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil (OGH10 ObS 148/14h, Rief in DRdA 2016/29, 259; OGH 24.1.2017, 10 ObS 115/16h). Dies hat den Gesetzgeber zu einer Klarstellung veranlasst, wodurch § 24 Abs 3 KBGG eingefügt wurde.

Gem § 24 Abs 3 KBGG liegt nur in den in Abs 2 genannten Fällen eine mit einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation vor. Die Dauer der Gleichstellung bestimmt sich nach der individuell beanspruchten Dauer der Karenz. Diese beginnt frühestens am Tag nach Ende des Beschäftigungsverbotes nach der Geburt des Kindes und endet spätestens am Tag vor dem zweiten Geburtstag des Kindes (Holzmann-Windhofer in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz [2017] § 24, S 154.). Zeiten, in denen mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen kein gesetzlicher Anspruch auf die österreichische 253 Karenz besteht, etwa bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer in- oder ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil, lösen somit keine österreichische Zuständigkeit aus (Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6/1). Demnach muss, um eine österreichische Zuständigkeit für die Gewährung einer Familienleistung aufgrund einer Beschäftigung oder einer gleichgestellten Situation überhaupt auszulösen, ein Anknüpfungspunkt zu Österreich – aufgrund einer Beschäftigung oder gleichgestellten Situation, definiert nach nationalem Recht – vorliegen.

3.2.1.
Kontroversen in der Literatur

Felten (in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozial versicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6/1) führt aus, dass der Gesetzgeber des § 24 Abs 3 KBGG sich zu Recht darauf berufe, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen autonom festzulegen. Dennoch dürfte er dabei keine diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen definieren. Genau aus diesem Grund hat der OGH in seinen Entscheidungen eine weite Definition des Beschäftigungsbegriffs zugelassen, da die einschränkenden Regelungen des § 24 Abs 3 KBGG vor allem Personen benachteiligen, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht haben. Felten bezweifelt somit – mE zu Recht – die Unionsrechtskonformität des § 24 Abs 3 KBGG.

Sonntag (Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [7]) weist auf die OGH-E vom 22.10.2015, 10 ObS 148/14h hin, wonach aus den entsprechenden Regelungen im MSchG (§ 15 Abs 1a und § 15a Abs 2 MSchG) nicht zu entnehmen sei, dass die gleichzeitige Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil eine österreichische Karenz ausschließe. Da diese Regelungen des MSchG und des VKG durch die Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 keine Änderung erfahren haben, gelte Österreich bei Vorliegen einer entsprechenden Sachverhaltskonstellation weiterhin als Beschäftigungsstaat. Die Neuregelung des § 24 Abs 3 KBGG wäre demnach substanzlos. Für den vorliegenden Fall würde diese Interpretation bedeuten, dass die Inanspruchnahme der deutschen Elternzeit durch den anderen Elternteil der Karenz nach dem MSchG nicht entgegenstehe und Österreich somit subsidiär für die Bezahlung einer Ausgleichszahlung zuständig wäre. Sonntag betont, dass die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien angesichts der dargestellten europarechtlichen Rechtslage nicht nachvollziehbar sind. Der nationale Gesetzgeber kann die vom OGH unionsrechtlich begründete und mit nicht zu überbietender Klarheit dargestellte Rechtsfolge nicht beeinflussen. § 24 Abs 3 KBGG ist daher aus seiner Hinsicht abermals unionsrechtswidrig.

Holzmann-Windhofer (in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz, § 24, S 150-155) entspricht mit ihrer Rechtsansicht den Ausführungen in den Materialien zum Gesetz. Beide Tatbestände – Beschäftigungsverbot nach dem MSchG sowie Vorliegen einer Karenz nach dem MSchG oder VKG (oder vergleichbaren anderen österreichischen Rechtsvorschriften) – müssen den Gleichstellungserfordernissen des § 24 Abs 2 KBGG entsprechen. Sonderurlaube und andere Freistellungen („Karenzverlängerungen“) sind daher nicht gleichgestellt und damit nicht anspruchsbegründend. Werden die Voraussetzungen des MSchG/VKG nicht eingehalten, liegt eine gleichgestellte Situation nicht vor und die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Einkommensersatz bleibt verwehrt. Dazu gehöre auch das Verbot der gleichzeitigen (in- oder ausländischen) Karenz von Mutter und Vater mit Ausnahme eines Überlappungsmonats beim erstmaligen Karenzwechsel. Somit bestand kein Anknüpfungspunkt zu Österreich aufgrund einer Beschäftigung oder aufgrund einer der Beschäftigung gleichgestellten Situation, daher war Österreich im vorliegenden Fall nicht einmal nachrangig – für die Zahlung eines Differenzbetrages – zuständig. Diese Ansicht vertrat nicht nur die Revisionswerberin, sondern dieser wurde schließlich auch vom OGH in der hier vorliegenden E gefolgt.

4.
Abschließende Bemerkung

Der Europäischen Union steht keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das sozialrechtliche Sachrecht zu, weshalb sie auch keine Harmonisierung der Sozialleistungssysteme schaffen kann. Daher bleibt es (vorerst) bloß bei einer Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nach der VO (EG) 883/2004. Diesen Umstand betont selbst der OGH und führte aus, dass es aufgrund vom Fehlen eines gemeinsamen Sozialversicherungssystems in den Mitgliedstaaten und einer Vereinheitlichung der bestehenden nationalen Systeme zu möglichen Unterschieden sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten von Grenzgängern kommen kann und gab der Revision Folge. Die E des OGH orientierte sich sowohl am Gesetzeswortlaut als auch an der Gesetzesabsicht sowie dem Gesetzeszweck des § 24 Abs 3 KBGG. Somit blieb aber die in der Literatur aufgezeigte Frage der Unionsrechtskonformität der Regelung des § 24 Abs 3 KBGG unberücksichtigt und mögliche – auch künftige – Einschränkungen der Freizügigkeit werden dadurch in Kauf genommen. 254