Ecker-EckhofenArmut trotz Erwerbsarbeit – Eine Analyse der Effekte von Wohlfahrtsstaat und Regulierungen des Arbeitsmarktes auf arme Erwerbstätige in Europa

Verlag des ÖGB, Wien 2020, 186 Seiten, broschiert, € 24,90

WALTERSCHERRER (SALZBURG)

Es ist traurige Realität geworden, dass Erwerbsarbeit nicht vor Armut schützt. Der Begriff Erwerbsarmut umfasst daher Personen, die trotz Erwerbstätigkeit in einem Haushalt unter der Armutsgrenze leben. Grundlage für die Bemessung der Armutsschwelle ist das Haushaltseinkommen (netto, einschließlich Sozialtransfers), das mit der Zahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder gewichtet wird („äquivalisiertes Haushaltseinkommen“). Die Armutsgefährdungsschwelle liegt – wie in vergleichbaren Studien üblich – bei 60 % des Medianeinkommens in einem Land. So lag im Jahr 2016 in jenen 15 europäischen Ländern, die die Datenbasis für die Untersuchung liefern, die Erwerbsarmutsquote zwischen 3,1 % in Finnland und 13,9 % in Griechenland.

Vor diesem Hintergrund befasst sich die Arbeit mit zwei Fragestellungen: Wie unterscheidet sich die Betroffenheit soziodemografischer Gruppen von Erwerbsarmut in europäischen Nationalstaaten und Wohlfahrtsstaatsregimen? Und in welchem Ausmaß wird verschiedenen sozialen Gruppen der Erwerbsarmen durch Rahmenbedingungen des Wohlfahrtsstaates und Arbeitsmarktes geholfen?

Bezugspunkt für die Analysen sind zunächst Nationalstaaten, da die strukturellen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes im Wesentlichen auf der Ebene der Nationalstaaten geprägt werden und daher die Wirkungen von Arbeitsmarktregulierungen und wohlfahrtsstaatlichen Einflüssen sich vor allem auf dieser Ebene analysieren lassen. In der Folge werden die Nationalstaaten zu Gruppen zusammengefasst, die durch jeweils ähnliche Wohlfahrtsstaatsregimes gekennzeichnet sind. Der theoretische Rahmen der Arbeit wird durch politwissenschaftliche und soziologische Konzepte (Wohlfahrtsstaats- und Arbeitsmarkttheorien) abgesteckt, deren Bedeutung für die weiteren Analysen übersichtlich dargestellt wird. Das Ausmaß und die Struktur der Erwerbsarmut in den untersuchten Ländern werden umfassend beschrieben.

Der Schwerpunkt der Arbeit – und das ist ein großer Vorzug der Arbeit! – ist die empirische Analyse von Einflussfaktoren, die auf das Erwerbsarmutsrisiko wirken. Die wichtigste Datenbasis ist die Sozialerhebung über Einkommen und Lebensbedingungen von Privathaushalten in Europa (EU-SILC). Ein Drittel aller untersuchten Fälle von Erwerbsarmut stammt dabei aus den drei Ländern Griechenland, Italien und Spanien, welche alle zu den Ländern mit der höchsten Erwerbsarmutsquote gehören. Damit sind diese Länder deutlich überrepräsentiert, was bei der Erklärung der Einflussfaktoren, die auf das Erwerbsarmutsrisiko wirken, zu berücksichtigen ist.

Die erste Ebene der empirischen Analyse untersucht, wie verschiedene persönliche Merkmale mit dem Auftreten von Erwerbsarmut zusammenhängen. Auf dieser Ebene finden sich denn auch zahlreiche signifikante Zusammenhänge: Alter, Migrationshintergrund, Bildung, Haushaltstyp, Berufsstatus und Berufssparte haben einen signifikanten Einfluss darauf, in welchem Ausmaß eine Person dem Risiko von Erwerbsarmut ausgesetzt ist. Die empirische Untersuchung ergibt die erwarteten Ergebnisse, sie werden in der Arbeit auch erklärt. Es fällt auf, dass beim Merkmal „Geschlecht“, für das in allen von Julia Ecker-Eckhofen verwendeten Modellen ein statistisch hoch signifikanter Zusammenhang ausgewiesen wird, keine Erklärung gegeben wird: Warum Männer in signifikant höherem Maß von Erwerbsarmut betroffen sind als Frauen, wird nicht erklärt.

Die zweite Analyseebene umfasst makro-politische Einflüsse auf die Erwerbsarmut. Die wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben, gemessen in Prozent des BIP, haben statistisch signifikante Auswirkungen auf die Erwerbsarmut, wenn sie bei spezifischen Zielgruppen ansetzen. Staatliche Ausgaben für Familien verringern bei Einpersonenhaushalten und bei AlleinerzieherInnen- Haushalten das Risiko, in Erwerbsarmut zu fallen, ähnlich wirken Wohnausgaben für größere Haushalte und Sozialausgaben für Mehrkinderhaushalte. Weiters haben für bestimmte Gruppen von AN spezifische Arbeitsmarktregulierungen eine die Erwerbsarmut verringernde Wirkung. Insb verringert ein gesetzlicher Mindestlohn das Risiko der Erwerbsarmut für jene, die kürzlich den Arbeitsplatz wechselten, und für gering Qualifizierte.

Dagegen erhöht – entgegen den Erwartungen der Autorin – der Kündigungsschutz für befristet Beschäftigte deren Risiko, von Erwerbsarmut betroffen zu sein. 262

Während Ecker-Eckhofen dies auf die Zusammensetzung der Stichprobe zurückführt, könnte die Erklärung auch darin liegen, dass AG umso zurückhaltender bei der Einstellung von befristet Beschäftigten sind, je stärker deren Kündigungsschutz ist. Die Gewerkschaftsdichte schließlich hat keinen Einfluss auf das Entstehen von Erwerbsarmut, auch nicht für befristet Beschäftigte oder Teilzeitbeschäftigte.

Die empirische Analyse ist, wie bereits erwähnt, verdienstvoll. Damit unterscheidet sich die Arbeit wohltuend von ausschließlich konzeptionellen oder rein deskriptiven Studien. Die Ergebnisse sind aber mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren, bleiben doch wesentliche makroökonomische Einflüsse auf das Erwerbsarmutsrisiko unberücksichtigt. So könnte der Umfang von Erwerbsarmut nicht nur ein strukturelles Phänomen sein (wie in der Arbeit unterstellt wird), sondern es könnten auch konjunkturelle Einflüsse wirksam sein. Konjunktureinflüsse prägen die Arbeitskräftenachfrage über lange Zeit (man denke an die Jahre nach der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise) und können zumindest in manchen Jahren für die Erklärung des Erwerbsarmutsrisikos mindestens so bedeutsam sein wie wohlfahrtsstaatliche Ausgaben und Arbeitsmarktregulierungen. In der Arbeit wird aber weder der mögliche Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem Erwerbsarmutsrisiko thematisiert noch der zwischen dem Niveau oder der Veränderung der Arbeitslosigkeit und dem Erwerbsarmutsrisiko.