UrbanGute Arbeit in der Transformation – Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus
VSA Verlag, Hamburg 2019, 264 Seiten, € 19,80
UrbanGute Arbeit in der Transformation – Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus
Das hier zu besprechende Buch erhebt zwei ambitionierte Ansprüche: Zum einen geht es um die Darstellung der gegenwärtig beobachtbaren tiefgreifenden Transformationen der kapitalistischen Ökonomie und der von ihr geprägten gesellschaftlichen und systemischen Realitäten. Zum anderen werden diese Befunde mit dem normativen Konzept „Guter Arbeit“ (ein in Deutschland fest umrissener Terminus) konfrontiert. Wie der Untertitel ankündigt, geht es in der Folge um Interventionen zur Realisierung „Guter Arbeit“ und (im Vorfeld) um „eingreifendes Denken“.
Der Verfasser ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Privatdozent für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Mitherausgeber der renommierten „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und steht daher für eine solide Verankerung sowohl in der gewerkschaftlichen Praxis als auch in einschlägigen theoretischen Diskursen.
Richtig stellt Hans-Jürgen Urban fest, dass zur Frage der Transformation des Kapitalismus sehr unterschiedliche Deutungen vorliegen, die sich hinter dem Blankett-Begriff „Post-Fordismus“ versammeln. Methodisch konstatiert er in Anschluss an Polanyi („Die große Transformation“) eine Entbettung kapitalistischer Märkte aus der staatlichen Regulierung. Das wirke sozial spaltend, zerrütte die Gesellschaft und fördere postdemokratische Autoritarismen.
Gute Arbeit ist für Urban sowohl ein forschungsprogrammatischer als auch ein gewerkschaftspolitischer Strategiebegriff. Ziel sei es, in der gegenwärtigen Transformation der Arbeit grundlegende Dynamiken zu sondieren, ihnen entgegenzutreten und sie auf einen Entwicklungspfad zu lenken, der den Nachhaltigkeitserfordernissen von Arbeit, Gesellschaft und Natur genüge. Für den Autor ist „Gute Arbeit“ aber mehr als der Kernbestand an „Sozialeigentum“, wie er sich im Wohlfahrtskapitalismus zumindest ansatzweise etablieren konnte (tarifvertraglich gesicherte Einkommen und Arbeitszeitstandards, gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen und Garantien im Bereich der sozialen Sicherheit), sondern darüber hinaus – und damit in Konflikt mit der Eigentums- und Verfügungsordnung der kapitalistischen Grundstruktur – auch individuelle Autonomie und innerbetriebliche Demokratie. Urban weist hier darauf hin, dass immer dann die Keule der „Mindestrendite“ ausgepackt wird, wenn sich die Ziele der Beschäftigten zu stark gegen die Profitabilitätsmaxime richten.
In der derzeitigen Situation sei vorab eingreifendes Denken gefragt. Dieses zeige die Notwendigkeit von Veränderungen auf und begründe die Möglichkeit einer verändernden Praxis. Daraus sollte sich eine interventionistische Politik ergeben. In Teil 2 des Buches geht es um die Begründung eines arbeitskraftzentrierten Strategieansatzes. Gegenübergestellt werden drei arbeitspolitische Konzepte: Der Cost-Cutting-Ansatz (Verbesserung der betrieblichen Wettbewerbsfähigkeit durch Kostensenkung), der innovations- und wettbewerbsorientierte Ansatz (Verbesserung der betrieblichen Wettbewerbsfähigkeit durch Innovationen) und der arbeitskraftzentrierte Ansatz, bei dem es um eine Profilierung der arbeitsorientierten Interessen im Wettbewerb geht. Dieser Ansatz sei gegenmachtorientiert und konfliktorisch, Humanisierungsstandards stehen im Vordergrund und Wettbewerbsfähigkeit werde als vorgegebener Zwang und nicht als Strategieziel anerkannt.264
In Teil 3 des Buches thematisiert Urban mehrere arbeitspolitische Felder und Transformationskonflikte, ua den demographischen Umbruch (Altersversorgung), die Leistungsintensivierung („Geißel der modernen Arbeit“), ua die neuen Arbeitszeitregimes mit ihren Folgen (zB Erschöpfung, Dauererreichbarkeit) und den Zusammenhang zwischen Zeit, Arbeit und Gesundheit. Oskar Negt folgend geht er davon aus, dass sich Herrschaft daraus konstituiere, dass jemand über die Mikroorganisation von Raum und Zeit verfügt. Urban spricht hier von „Chronokratie“, also von Zeitherrschaft.
Im folgenden Kapitel rückt Urban die „Burnout-Gesellschaft“, wie er sie nennt, in den Fokus der Transformationsdiskussion. Tatsächlich liegt er mit der Annahme ganz richtig, es handle sich um einen Griff nach dem ganzen Menschen. Eindrucksvoll ist der Blick auf den Zusammenhang des Ausfalls an Bruttowertschöpfung bezogen auf bestimmte Diagnosegruppen, wobei sich auch in Österreich ein ganz ähnliches Bild zeigt: Für diese Ausfälle sind die psychischen Krankheiten in hohem Ausmaß verantwortlich. Ein treibender Faktor sei der stark zunehmende „digitale Stress“. Ein weiterer Befund dürfte ebenfalls für Österreich zutreffen: Die Gefährdungsbeurteilung (nach dem ASchG) funktioniert nicht (ausreichend). Urban bezeichnet dies als „Rechtsverweigerung zu Lasten der lebendigen Arbeit“. Er fordert eine Präventionsbewegung von unten.
Auch der Digitalisierung in ihrem Verhältnis zu arbeitszentrierten Strategien widmet Urban ein gehaltvolles Kapitel. Für ihn ist die Digitalisierung eine technikbasierte Reorganisation der Kapitalstrukturen. Sie setze eine Metamorphose der stofflichen Gestalt des fixen Kapitals in Gang, die neue Formen der Unterordnung der Arbeitskraft und neue Strategien der betrieblichen Herrschaft hervorruft. Der Verfasser fordert eine arbeitskraftzentrierte Digitalisierungspolitik; man müsse sich entscheiden, ob man einen geschützten Wissensarbeiter oder einen prekären Entrepreneur anstrebe.
Neugierde erweckt die Überschrift „nicht jede Arbeit ist besser als keine“, denn sie verweist auf die perfiden Mechanismen der Erzeugung von Subalternität, eine Falle, in die allzu oft auch Gewerkschaften geraten, zB in Österreich in Zusammenhang mit der Mindestlohndebatte. Der Verfasser stellt hier Befragungen von Beschäftigten vor, aus denen sich Handlungsfelder ableiten lassen. Urban befürchtet zu Recht, dass die enormen Anstrengungen der Unternehmen, Digitalisierung und Dekarbonisierung voranzutreiben, dazu führen könnten, steigende Arbeitsbelastungen und Prekarisierungen aller Art hinzunehmen. Das Dilemma, das hier sichtbar wird, besteht darin, dass die Reformierbarkeit des Systems auf enge Grenzen stößt. Insofern zeigt sich ein Konstruktionsfehler rein gewerkschaftlicher Strategien, die Transformation des Systems als solchem nicht als ein (vorrangiges) strategisches Ziel zu definieren.
Im letzten Teil des Buches geht es um die Konturen einer ökologisch-sozialen Reformstrategie. Als Ausgangpunkt dient ein „magisches Viereck der Nachhaltigkeit“, in dem neben „guter Arbeit“ und beschäftigungspolitischer Nachhaltigkeit auch die ökologische Nachhaltigkeit vertreten ist. Das strategische Zentrum bildet der Begriff „Wirtschaftsdemokratie“. Dabei gehe es nicht um Detailplanungen oder die Eliminierung von Marktprozessen, sondern um einen gesellschaftlich diskutierten und demokratisch legitimierten Rahmen der ökonomischen Entwicklung, die gesellschaftlich gewollt und nicht durch Marktzwänge aufgeherrscht wird. Für Urban ist Wirtschaftsdemokratie der archimedische Punkt von Konversionskonzepten, die eine naturverträgliche Produktions- und Konsumtionsweise mit sozialen und Beschäftigungsinteressen ausbalancieren. Neugierig macht dabei die Auseinandersetzung mit der „Gretchenfrage“ (Urban), wie hältst du es mit dem Wachstum. Der Autor plädiert nicht für die inzwischen modisch gewordenen De-Growth-Ideen, sondern im Ergebnis für ein qualitativ reguliertes Wachstum. Wie dies realisiert werden könnte, ist das Thema des letzten Teiles dieses gehaltvollen und anregenden Buches, das für Österreich auch deswegen besonders lehrreich ist, weil die Organisationen der Arbeit eine umfassendere Systemtransformation – wie etwa das Konzept der Wirtschaftsdemokratie – aus dem Auge verloren haben.