RichardiArbeitsrecht im Wandel der Zeit – Chronik des deutschen Arbeitsrechts

C.H. Beck Verlag, München 2019, XII, 194 Seiten, gebunden, € 29,80

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Die Zielgruppe des Buchs ist nicht zweifelsfrei festzustellen. Das kurze Vorwort des Autors, Emeritus der Universität Regensburg und angesehener deutscher Arbeitsrechtsprofessor, gibt keine Aufschlüsse: es enthält Danksagungen für die Anregung zu dem Buch aus dem Verlag C.H. Beck und für die Mitwirkung daran sowie eine Widmung.

Für Interessierte, die das deutsche Arbeitsrecht gut kennen, wird der gegebene Überblick wenig Neues bieten, am ehesten wird der historische Teil von Interesse sein, der die Entwicklung dessen, was wir heute Arbeitsrecht nennen, vom Feudalzeitalter bis zur Industrialisierung und die Ausbildung des Arbeitsrechts als eigenes Rechtsgebiet auf den ersten rund 40 Seiten schildert. Als österreichischer Arbeitsrechtler hat man mit dem deutschen Arbeitsrecht zwangsläufig irgendwann Bekanntschaft gemacht, sei es aufgrund der Verschiedenheit (Arbeitskampfrecht), sei es aufgrund der Parallelität mancher Entwicklungen (Kollektives Arbeitsrecht). Der Blick über den Zaun zum deutschen Nachbarn gehört zur guten wissenschaftlichen Tradition. Für diese Gruppe Interessierter bietet Richardis „Chronik“ ein Erinnern an einige Meilensteine der Entwicklung von Lehre, vor allem aber der Rsp in Deutschland. Das Erinnern beschränkt sich aber auf einige wenige Schwerpunkte; dieser bruchstückhafte Zugang ist wohl zugleich auch Spiegel des wissenschaftlichen Interesses des Autors.

Nach dem „praehistorischen“ Teil bis zum ersten Weltkrieg steht am Beginn des deutschen kollektiven Arbeitsrechts das Stinnes-Legien-Abkommen vom 18.11.1918, das von den AG-Verbänden mit den AN-Vertretern geschlossen wurde und auf dessen Grundlage wechselseitig (und noch vor der Verankerung 265 der Koalitionsfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung 1919) die Befugnis zur kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen anerkannt wurde. Diese Vereinbarung war Grundlage ua der Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918. Auch in Österreich traten rasch nach dem Ersten Weltkrieg gesetzliche Reglungen über das kollektive Arbeitsrecht mit dem Betriebsrätegesetz, RGBl 1919/283, und dem EinigungsamtsG, StGbl 1920/16, in Kraft, zahlreiche weitere bahnbrechende Gesetze wie 8-Stunden-Tag, Angestelltengesetz ua folgten bald nach. Der durch den Ersten Weltkrieg entstandene sozialpolitische Rückstau war angesichts der selbstbewusst ihre politischen Rechte einfordernden gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft da wie dort enorm. Betrachtet man aber die realen politischen Verhältnisse jener Zeit, wie sie sich innerhalb weniger Jahre dauerhaft ausprägten, dann kann man wohl von einem glücklichen Mondfenster sprechen, das von den gewerkschaftlichen Kräften und der sie unterstützenden politischen Linken genutzt werden konnte. In Deutschland griff allerdings der Staat in den 1920er-Jahren durch Zwangsschlichtung und Notverordnungen mit festen Löhnen und Gehältern in die Autonomie des Sozialpartners ein, in der Diagnose von Richardi eine Art Steilvorlage (aber wohl nicht die einzige) für den Nationalsozialismus (55).

Die Entwicklung des Arbeitsverhältnisses im Nationalsozialismus vom schuldrechtlichen Vertrag zum personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis schuf mit letzterem ein Etikett, das bis in die 1970er-Jahre noch so sehr durch einen Teil der Lehre und leider auch der Rsp (bei uns zB OGH 1958/Arb 6931) irrlichterte, dass bei Systemen und Lehrbüchern neueren Datums RezensentInnen sich veranlasst gesehen haben, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass mit dieser Irrlehre „aufgeräumt“ (Strasser zu Richardi/Wlotzke [Hrsg], Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht,

) bzw über sie nur mehr in der „Mitvergangenheit“ berichtet wurde (Jabornegg zu Floretta/Spielbüchler/Strasser, Individualarbeitsrecht 2. Auflage, ). Richardis „Münchener Handbuch“ bleibt in seiner Chronik übrigens unerwähnt; es ist – wie man Strassers Würdigung in , entnehmen kann – als, seit des klassischen Systems von Hueck-Nipperdey letzten Auflagen, große Tat der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft gefeiert worden.

Die Entwicklung der Bundesrepublik als 1945 besetztes Land bis zur Etablierung der „sozialen Marktwirtschaft“ wird von Richardi anhand des sozialpolitischen Tauziehens, das es bis dahin gab, anschaulich geschildert, ebenso die ersten „Pflöcke“ der Rsp, die das neu gegründete Bundesarbeitsgericht (BAG) unter seinem ersten Präsidenten Hans Carl Nipperdey einzuschlagen vermochte, vor allem auf dem gesetzlich ungeregelten Gebiet des Arbeitskampfrechtes. Die vom Großen Senat des BAG begründete und als reines Richterrecht entwickelte Dogmatik bis hin zur Begründung einer Schadenersatzpflicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes für Streikschäden war und ist umstritten und wird – je nach gesellschaftspolitischem Standort – gelobt oder kritisiert, jedenfalls aber in der späteren Rsp der 1980er- und 1990er-Jahre vom BAG und vom BVerfG zum Teil zu Gunsten der DN-Seite behutsam korrigiert (dazu kritisch Richardi 152 f). In Österreich – daran sei erinnert – hat man es in den späten 1960er-Jahren auf diesem Gebiet zum Glück zu keinem derartigen dogmatisch kunstvollen Gebilde, sondern nur gerade einmal zum legendären „Bananenprozess“ gebracht, in dem der OGH im dritten Rechtsgang eine Haftung des ÖGB für die streikbedingt verdorbenen Bananen verneinte, eine E, die zu teils wütenden Reaktionen in der Literatur führten (vgl etwa Nipperdey/Bydlinski/Gschnitzer in ZAS 1966/H 6; Ostheim in GS Gschnitzer [1969] bzw den OGH verteidigend Kuderna, ZAS 1968, 7 ff und

). Mittlerweile steht das Arbeitskampfrecht fest auf europarechtlichem Boden mit höchst ungewisser Prognose (vgl umfassend Krejci, Recht auf Streik [2015]).

Der Name Hans Carl Nipperdeys kommt in dieser Chronik des Arbeitsrechts übrigens so oft vor wie kein anderer, nicht nur im Zusammenhang mit dem BAG (83 ff), sondern auch bei der Darstellung der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung (99 f) – er wirkte von seinem Kölner Lehrstuhl und als erster Präsident des BAG in den Augen Richardis als eine Art Lichtgestalt des deutschen Arbeitsrechts, als die er wohl nicht nur von Richardi gesehen wurde. Nipperdey hatte aber eine dunkle Vergangenheit: Er gehörte immerhin auch zu den führenden Rechtswissenschaftern des NS-Staates, welche die Anpassung des Arbeitsrechts an die Ideologie des Nationalsozialismus vorantrieben. Er war auch Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und gilt als Verfasser des Arbeitsordnungsgesetzes (AOG). Die Debatte über Nipperdeys NS-Verstrickungen war nach 1945 durchaus heftig (vgl zB die Hinweise bei Adomeit, Hans Carl Nipperdey als Anreger für eine Neubegründung juristischen Denkens, JZ 2006, 745, wobei schon der Titel des Beitrags die Ambivalenz Nipperdeys andeutet, der auch als einer der bedeutendsten Juristen der deutschen Nachkriegszeit gelten kann). Nipperdey steht als ein Beispiel von vielen für personelle Kontinuität der akademischen Lehre von Weimar über NS-Deutschland bis zur Bundesrepublik (vgl Ingo Müller, Furchtbare Juristen [1987] 238). Dieses Phänomen bleibt bei Richardi leider völlig ausgeklammert. Den Grund dafür kann man andeutungsweise auf S 102 lesen: Die Abrechnung der nach 1968 sich formierenden gewerkschaftsnahen Arbeitsrechtswissenschaft, als einer von deren Protagonisten Däubler kritisch hervorgehoben wird, mit dem Fortwirken der „Stars“ der NS-Zeit in der demokratischen Republik, ist für Richardi eine rein „ideologische Auseinandersetzung“, die „keiner Vertiefung“ bedürfe. Womit auch die Position Richardis sehr deutlich wird, der selbst Schüler von Alfred Hueck, dem literarischen „Zwilling“ Nipperdeys war und der den Topos „von der Strukturellen Unterlegenheit der einzelnen AN beim Abschluss von Arbeitsverträgen“ ernsthaft für einen Teil der „Irrungen und Wirrungen“ hält, die sogar vor dem BVerfG nicht haltgemacht hätten (103).

Im dritten und vierten Teil der Chronik wird die schon erwähnte Entwicklung von 1945 bis zur „sozialen Marktwirtschaft“ einschließlich der neueren Wissenschaftsgeschichte des Arbeitsrechts behandelt. Daran schließt sich (unter weitgehender Ausklammerung der späten 1960er-, sowie der 1970er- und 1980er-Jahre) auf ca 50 Seiten die Vor- und Nachgeschichte der deutschen Wiedervereinigung aus Sicht der Zusammenführung der zwei so unterschiedlichen Welten des Arbeitsrechts, wobei neben der Leistung der Gerichtsbarkeit 266 bei der Fortentwicklung des Arbeitsrechts das (Ver-) Fehlen einer Kodifikation des Arbeitsrechts in Gesamtdeutschland eines der zentralen Themen des Bedauerns Richardis ist, das sich durch das ganze Buch zieht.

Als Schlusspunkt setzt Richardi seine etwas eigenwillig anmutende Ablehnung des Begriffs der persönlichen Abhängigkeit in § 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), den er – wohl fälschlich – wörtlich und geradezu in einem feudalen Sinn versteht. Da ist die herrschende Arbeitsrechtsdogmatik (ebenso wie jene im Sozialversicherungsrecht) doch einen deutlich anderen und brauchbareren Weg gegangen. Die Ablehnung des Begriffs der persönlichen Abhängigkeit passt aber irgendwie zu Richardis Ablehnung der Annahme einer strukturellen Unterlegenheit der AN beim Vertragsabschluss.

Die „Chronik des deutschen Arbeitsrechts“ ist kein großes Werk, aber ein sehr persönliches Buch: Es spiegelt wohl in erster Linie die vielfältigen Interessen, die rechtspolitischen Positionen und auch manche Eigenwilligkeiten des Autors wider, die noch einmal zur Diskussion zu stellen ihm offenbar ein Anliegen war. Dennoch (oder vielleicht auch deshalb) haben wir es mit einem in den frühhistorischen Teilen sehr lesenswerten Werk zu tun, dessen gesellschaftspolitischer Hintergrund immer präsent bleibt, was einen Teil der Spannung vermittelt, die einen bis zuletzt nicht verlässt. Ein würdiges Resümee eines Großen der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft, der aber darin deutlich vermittelt, dass er an seinen schon ehedem eingenommenen Standpunkten auch im 21. Jahrhundert festhält.