Goeke„Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960-1980

Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2020, 386 Seiten, gebunden, € 59,–

ANDREASRAFFEINER (BOZEN)

Wenn wir das Rad der Zeit bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückdrehen, erinnern wir uns an politisch linksorientierte AktivistInnen der Gruppe „Arbeitersache“, die mit ihrem Schlachtruf „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ ihre Solidarität mit MigrantInnen bekundeten. Was damals fast verpönt schien, kann auch als kollektive Erfahrung der Entfremdung umrissen werden. Just jene Erfahrung wurde im kapitalistisch strukturierten Prozess der Produktion gemacht. Die Losung durch die gezielte Begriffswahl aus dem nationalsozialistischen Wortschatz sorgte für die Bonner Migrationspolitik für den Graubereich, der parallel dazu auch als Nähe zum NS-Zwangsarbeitersystem angesehen werden kann. Es ist richtig, wenn man diesen Widerstreit von und für MigrantInnen ein wenig überspitzt-instrumentalisierend wertet und mit dem Wissen von damals für individuell angehauchte politische Zwecke missbraucht hat.

Goeke gelingt es in seiner als Buch veröffentlichten, an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) vorgelegten Dissertation, die Schnittmengen zwischen der Migrationshistorie, der Arbeiterbewegungsgeschichte und die Denkweise der politisch links angesiedelten Menschen mit Leben zu erfüllen und in der Folge sichtbar zu machen. Man merkt die Ambition und das hehre Vorhaben des Verfassers schon zu Beginn, als er die mannigfachen Erscheinungsformen der Proteste schildert, während im Jahrzehnt zuvor die stärker werdende Beschäftigung von AusländerInnen thematisiert und einhergehend angeschnitten wird. Der obligatorische Blick auf die Verschiebung der Forschungsgegenstände rund um die Migrationspolitik, darf selbstredend nicht fehlen. Temporär kann man diese Gebiete in die Zeit vor und nach dem Anwerbestopp ansiedeln. Es ist ein Verdienst des akkurat arbeitenden Autors, die bewussten und unbewussten Praktiken der Fremden, den Widerstand betreffend, gegen das System zu beschreiben. Unter dem System können beispielsweise existierende diskriminierende und gleichermaßen ausbeuterische Verhältnisse angeführt werden. In diesem Kontext werden nicht nur die Protestkundgebungen in Deutschland, sondern auch die Migrationsströme als ein Typus gesellschaftspolitischer Bewegungen geschildert.

Das zu rezensierende Werk, eingeteilt in drei Hauptkapitel, befasst sich nicht nur mit den MigrantInnen in Firmen, Betrieben und gewerkschaftlichen Strukturen, sondern auch mit den Gewerkschaftspositionen rund um die Migration und den Beziehungsmustern zwischen den Fremden und den außerparlamentarischen Linken. Da nicht die gewerkschaftliche und staatliche Politik der Migration, sondern die Denkweise der Fremden zum Hauptthema erkoren wurde, weist die vorliegende Publikation gar einige lückenhafte Überlieferungen auf. Der Autor versteht es dessen ungeachtet blendend, ältere und neue Literatur auszuwerten und 269 einhergehend mit der aktuellen Forschung zu verknüpfen. Dokumente zur teils wechselhaften und unbeständigen Historie wurden genau wie kleinere Archivalien in den wissenschaftlichen Kontext gestellt und dienten auf diese Weise als interessante Quellenfundstücke. Der Autor bewegt sich auch in zeithistorischen Sphären, in dem er als zusätzlich-ergänzte Quellen Interviews mit einstigen AktivistInnen anführt, aber leider – und das kann als Manko angesehen werden – nicht methodisch auswertet. Folglich wird es für den Leser etwas schwer nachzuvollziehen, welche Sinnhaftigkeit der Gespräche für den Arbeitsprozess erkenntlich ist.

Nach dem Nachskizzieren der Migrationspolitik der damaligen politischen Elite und der gesellschaftlichen und arbeitsmäßigen Verhältnisse der Fremden umreißt Goeke im zweiten Kapitel eine Menge wilder Streiks. Darunter versteht man jene Protestkundgebungen, die sich zu jener Zeit keineswegs an die Regeln für Arbeitskämpfe hielten. Im Bergbau kam es schon in den frühen 1960er-Jahren zu Niederlegungen der Arbeit; jedoch stießen diese Formen des Widerstreits nur auf ein verhältnismäßig begrenztes Echo. Für das Frühjahr des Jahres 1962 machte der mit einer spitzen Feder und viel Hintergrundwissen ausgestattete Verfasser eine kleine Streikwelle dingfest. Ob den regionalen Initiatoren die anderen Formen des Protests bekannt waren, steht auf einem anderen Blatt Papier. Aufgrund der relativ dünnen Überlieferung ist es auch müßig zu sagen, ob die Hypothese, MigrantInnen fingen erst nach ihrer Ankunft in Deutschland an, auf eine Verbesserung ihrer Lage hinzuarbeiten, auf fruchtbaren Boden stößt oder nicht.

Mit den zeitgenössischen Interpretationen im Blickwinkel schafft es der Verfasser, auch die Streiks fremder AN zu durchleuchten. Diese standen etwa in der Genuss- und Nahrungsmittelindustrie, aber auch bei Automobilzulieferern an der Tagesordnung. Dabei kommen auch die Arbeitsbedingungen der ausländischen Frauen nicht zu kurz. Die AG setzten auf die Unterstützung von Sicherheitskräften und der Gerichtsbarkeit. Wenn man zahlreiche Abschiebungen und Entlassungen infolge der frühen Konfrontationen als Parameter sieht, kann man das wertefrei als wenig positiv umschreiben. Anhand der Arbeitsniederlegung von italienischen Arbeitern im niedersächsischen Volkswagen-Mutterwerk belegt Goeke, dass ein kurzer Arbeiterkampf eine immediate Folge hinsichtlich eines längerfristigen Wandels mit sich bringen konnte. Die IG Metall, ihres Zeichens die weltweit größte organisierte AN-Vertretung und Einzelgewerkschaft in der Bundesrepublik Deutschland, intensivierte ihren Blick über den Brenner und warb zusätzliche italienische Arbeiter. Die Leitung des Volkswagenwerks gab indessen ihre Blockade der Gewerkschaftsarbeit auf. Kurzum war dieser Protest zu einem Motor des gesellschaftlichen Wandels und der Mitbestimmung auf Betriebsebene geworden.

In den ausführlichen Streikdarstellungen löst der Verfasser seinen Anspruch ein, deren Praktiken des Widerstands in das Zentrum des Interesses zu stellen. Dabei wird parallel dazu die Bedeutung der gewerkschaftlichen Unterstützungen und der Linken sichtbar. Ähnlich verhält es sich klarerweise auch mit den Spannungen zwischen den einzelnen AkteurInnen, die den scharfen Blick auf die Intersektion der Auseinandersetzung werfen. Durch die biografischen Beschreibungen und Protokolle wird die gewerkschaftliche Integration von Fremden veranschaulicht, wenngleich man diesen Themenkreisen etwas mehr Aufmerksamkeit schenken hätte können. Nicht umsonst werden die Gewerkschaften auch von einer multinationalen Arbeiterklasse aufgesucht, wenn es betriebsintern zu Reibereien oder Streitfällen kommt. Es muss sich nicht immer nur um einen Streik oder um eine Arbeitsniederlegung handeln.

Goeke versucht trotz aller Fachkenntnis und Themenschärfe, die beiden Hauptkapitel zu verbinden. Es wäre vermessen, wenn man sagen würde, dass es nur bei einem Versuch geblieben ist. Der Autor will MigrantInnen als handelnde Subjekte betrachten, doch hinsichtlich der Stellungen der Gewerkschaften und die teils verkrusteten Machtstrukturen innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes wäre es besser gewesen, den Prolog kürzer zu lassen. Dass gewisse, themenbezogene Schlagwörter über lange Strecken undefiniert bleiben, ist auch für einen Außenstehenden kaum bis gar nicht nachvollziehbar.

Positiv hingegen ist das dritte Hauptkapitel zu bewerten. Hier schafft es der Verfasser, stringent die Proteste für und von AusländerInnen zu beschreiben. Es handelt sich hierbei auf keinen Fall um abstrakte Bekundungen der Solidarität. In der Zeit zwischen 1960 und 1965 kam es durch Studierende aus dem arabischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Raum zu Protesten, die als Wende der Studentenbewegung vom Seminarmarxismus bis hin zur antiautoritären Revolte in die Geschichte eingegangen sind. Spanische und griechische GastarbeiterInnen nutzten ihren Arbeitsaufenthalt in Deutschland politisch motiviert, zumal in ihren Heimatländern ein Diktator das Sagen hatte. Der in der Einführung von Goeke festgehaltene Anspruch, die Bewegungen der Migration als politische Bewegung anzusehen, wurde auf dem Gebiet der Mikrohistorie dechiffriert. Quellenfunde erleichterten dem Autor die Niederschrift von Teilkapiteln zu West-Berliner „Basisgruppen“ oder zur „Arbeitersache“ in der bayrischen Landeshauptstadt München. Analog können auch die linksorientierten Gruppierungen angesehen werden, die mittels Brückenschlag zwischen StudentInnen, aber auch zwischen ArbeiterInnen ihren Vollzug suchten.

Die letzten Kapitel sind ebenfalls gut durchdacht und in der Folge als Erkenntnisgewinn zu betrachten, geht es ja um die Selbstorganisation gesellschaftspolitischer Provenienz seitens der Fremden. Vereine und Ausländerbeiräte können federführend im Vordergrund aufgelistet werden. Ein interessanter Paradigmenwechsel, auch Exkurs genannt, zu Bahnhöfen als keineswegs intendierten Orten der migrantischen Selbstorganisation, zeigt klar und unmissverständlich die Barrieren eines Migrationsverständnisses als gesellschaftliche Bewegung auf. Ferner ist es keinesfalls von der Hand zu weisen, dass die dortigen Praktiken widerständiger Natur eine wesentliche Grundlage fanden.

Wenn der Rezensent gnädig ist und den etwas konfusen Hauptteil ausklammert, ist die Arbeit gut gelungen. Goeke kann im Wesentlichen Themen verknüpfen. Man muss die fremdländische Form des Widerstands keineswegs als Heldentum charakterisieren oder verstehen, und da das der Autor auch nicht macht, fällt das Gesamturteil doch mehr als zufriedenstellend aus. 270 Für den lückenhaften Quellenstand kann der Verfasser nichts; dafür besticht das zu besprechende Buch auf der Makro- und Mikroebene der Geschichte. Inhaltlich ist das Werk gut aufgestellt, und es wäre der Wissenschaft zu wünschen, auch abseits der Migrationsforschung Schnittmengen zu suchen, die einerseits auf der vorliegenden Studie Goekes aufbauen und andererseits die Interdisziplinarität forcieren. Ob dies anhand verschulter Bachelorstudiengänge mit wenig Handlungsspielraum zur Wissenserweiterung durch das Beschnuppern oder Vertiefen anderer Studiengänge machbar ist, ist sicherlich eine notwendige Antwort wert, wenngleich sie eine Herausforderung für die Hochschulpolitik und die Reform von Curricula mit sich bringt.