HerbolsheimerArbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2019, 552 Seiten, € 109,90

HERBERTKALB (LINZ)

Der Autor bietet eine konzise und umfangreiche verfassungsdogmatische Analyse des kirchenspezifischen Arbeitsrechts von Evangelischer und Katholischer Kirche. Diese Regelungen betreffen einen großen Personenkreis, so zählen nach Angaben der Gewerkschaft verdi die beiden Kirchen und ihre Wohlfahrtsträger – Diakonie und Caritas – mit ca 1,3 Mio Beschäftigten zu den großen AG, bei Caritas und Diakonie sind knapp 1 Mio Menschen hauptamtlich tätig. Unübersehbar waren die juristischen Diskurse über die Zulässigkeit eines kirchenspezifischen Arbeitsrechts stark durch eine „primär institutionell interpretierte Sichtweise“ geprägt, doch wird diese Perspektive auch auf dem Hintergrund religionssoziologischer Veränderungen zunehmend durch einen individualrechtlich- freiheitsverbürgenden Blickwinkel modifiziert. Diese Orientierung zeigt sich auch in der Ablösung des Begriffs „Staatskirchenrecht“ durch „Religionsrecht“, mit der die individualrechtliche Komponente der Religionsfreiheit in den Vordergrund gerückt wird.

Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in der traditionell kirchenfreundlichen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gerät im europäischen Mehrebenensystem zunehmend unter Druck von EGMR und insb EuGH. Folgerichtig kontrastiert der Verfasser das Recht kirchlicher AG auf Selbstbestimmung in ihren eigenen Angelegenheiten mit den Grundrechtsgewährleistungen der kirchlichen Mitarbeiter.

Im ersten Teil präsentiert Volker Herbolsheimer eine Bestandsaufnahme des kirchenspezifischen Arbeitsrechts und verweist auf die terminologische Unschärfe der Wendung „kirchliches Arbeitsrecht“, denn es gibt nur „kirchenrechtliche Modifikationen vom weltlichen Arbeitsrecht, die zum Teil in Form einer Ergänzung, zum Teil in Form einer sektoralen Ersetzung für den kirchlichen Bereich von Bedeutung sind“.

Grundlage für die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie ist das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, wonach jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet (Art 140 Grundgesetz [GG] iVm Art 137 Abs 3 Weimarer Verfassung [WRV]). Begründet werden von beiden Kirchen die arbeitsrechtlichen Abweichungen mit dem vielschichtigen und kontrovers diskutierten Begriff der „Dienstgemeinschaft“, den es juristisch sachgerecht umzusetzen gilt.

Die arbeitsrechtlichen Spezifika werden vom Verfasser in drei Säulen dargelegt. Im Bereich des Individualarbeitsrechts werden die besonderen Loyalitätspflichten und deren Auswirkungen im Umgang mit Bewerbern (zB erweitertes Fragerecht) und bei Verletzung arbeitsvertraglicher Loyalitätsobliegenheiten die Möglichkeit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses analysiert. Im kollektiven Arbeitsrecht wird als zweite Säule das kircheneigene Koalitionsrecht erörtert. Überwiegend haben die großen christlichen Kirchen den sogenannten „dritten Weg“ gewählt, in dem das staatliche Tarifvertragssystem mit seinem Arbeitskampfrecht durch paritätisch besetzte Kommissionen ersetzt wird. Die dritte Säule bildet das kirchliche Mitarbeitervertretungsrecht mit derzeit nur wenigen basalen Unterschieden zum weltlichen Betriebsverfassungsrecht.

Im zweiten Teil werden relevante Verfassungspositionen im Spannungsfeld von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und Grundrechtsverbürgungen der Mitarbeiter reflektiert. Bei Analyse des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts wird bei Interpretation der „eigenen Angelegenheiten“ auf das durch die Kirchen plausibilisierte jeweilige Selbstverständnis abgestellt. Davon ausgehend können die individualrechtlichen Loyalitätspflichten und das kirchenspezifische Koalitionssystem als „eigene Angelegenheiten“ qualifiziert werden, das Modell der „Dienstgemeinschaft“ bietet aber – so der Verfasser zutreffend – keine ausreichende Legitimationsgrundlage für sämtliche Regelungen der Mitarbeitervertretung. Bei der Reichweitenbestimmung des Selbstbestimmungsrechts „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ favorisiert der Autor die Abwägungslösung, ein Befund, der auch für die Justiziabilität religionsgemeinschaftlicher Angelegenheiten vor staatlichen Gerichten gilt.

In der Frage des Verhältnisses von Kirchenautonomie und unionsrechtlichem Antidiskriminierungsrecht und dessen Interpretation durch den EuGH – Urteil vom 17.4.2018 („Egenberger“) und vom 11.9.2018 („Chefarzt“) – verneint Herbolsheimer mit Verweis auf die mangelnde Einzelermächtigung und die Öffnungsklausel des Art 3 Abs 2 der RL 2002/14/EG eine Regelungskompetenz des Unionsrechts auf dem Gebiet des Staat-Religion-Verhältnisses und reflektiert § 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ohne die „Interpretationsanweisungen“ aus Luxemburg. Dies ändert aber mE an der durch den EuGH gestärkten Beurteilungskompetenz staatlicher Gerichte und einer damit einhergehenden, in der Literatur in ihrer Intensität allerdings unterschiedlich beurteilten Neuausrichtung der arbeitsrechtlichen Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts wenig. Abzuwarten ist die Reaktion des BVerfG, inwieweit der traditionell kirchenfreundliche zweite Senat bereit ist, seine eigene Judikatur stärker an der Rsp des EuGH auszurichten.

Ausgehend von grundrechtlichen Schutzpflichten stellt der Autor der Kirchenautonomie den verfassungsrechtlichen Schutz der Mitarbeiter gegenüber und betont im Rahmen der Abwägung – Abwägung als rationaler 271 Diskurs – die Grundrechtsgewährleistungen für die Mitarbeiter, unübersehbar eine der Vorzüge dieser exzellenten Monographie. Bei Beurteilung der tangierten Grundrechte differenziert der Verfasser sorgfältig die „binäre Prüfungsstruktur“ der Loyalitätspflichten, die abstrakte Wirksamkeit der Pflichten und die Zulässigkeit der konkreten sanktionierenden Kirchenakte, zB Kündigung. In der verfassungsdogmatischen Erörterung der abstrakten Ebene bewertet der Verfasser das Verbot praktizierter Homosexualität – ein massiver Einschnitt in einen nicht steuerbaren Teil der Persönlichkeit – als unzulässig, derselbe Befund gilt auch für das Verbot des Zusammenlebens mit Dritten: „Auch hier wird ein nicht steuerbares, die innerste Persönlichkeit ausdrückendes Bedürfnis untersagt, das trotz Freiwilligkeit des Betroffenen das hohe Gut kirchlicher Glaubwürdigkeit nicht zu übertreffen vermag.“ Weiters dürfe sich das Verbot des Kirchenaustritts nur auf die Kirche des DG beziehen, weil nur insoweit die Glaubwürdigkeit der Kirche tangiert sei. Eine staatliche Abstufungsbestimmung der Loyalitätspflichten wird vom Verfasser insb unter Verweis auf den Grundsatz der staatlichen Neutralität abgelehnt, „den staatlichen Gerichten bleibt daher grundsätzlich nichts anderes übrig, als die Haltung der Kirchen hinsichtlich Verkündigungsnähe und entsprechende Loyalitätspflicht zu akzeptieren“. Plausibel lehnt der Verfasser die Begrenzung des Prüfungsumfangs der Wirkung von Loyalitätspflichten durch das BVerfG auf „ordre public“, „Willkürverbot“ und „gute Sitten“ ab, denn das GG „fordert eine unbeschränkte Prüfung der Verhältnismäßigkeit und damit die Anwendung der allgemeinen Grundrechtsdogmatik“. Bei Sondierung der zweiten, konkreten, Ebene, der Frage nach dem „wie“ der Sanktionen, vertritt der Verfasser zutreffend die Notwendigkeit einer umfassenden, einzelfallbezogenen Sanktionsbewertung, ein Maßstab, den auch der EGMR anlegt (zB Obst ./. Deutschland vom 23.9.2010, Nr 425/03, Schüth ./. Deutschland vom 23.9.2010, Nr 1620/03, Siebenhaar ./. Deutschland vom 3.2.2011, Nr 18136/02).

Im Kollektivarbeitsrecht ist insb der Ausschluss von Arbeitskampfmaßnahmen umstritten, verfassungsdogmatisch zu reflektieren ist die Koalitionsfreiheit des Art 9 Abs 3 GG und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Der Verfasser sieht bei der Gestaltung des kircheneigenen Koalitionssystems keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit, sondern eine Ausgestaltung, deren Grenzen nicht abwägungsgeleitet, sondern durch Fokussierung auf den Kernbereich zu bestimmen sind. Dabei „geht der Maßstab des Art 9 Abs 3 GG dem des Art 137 Abs 3 WRV als spezieller Ausgestaltungsmaßstab vor“. Unter Berücksichtigung der Koalitionsautonomie als Kernbereich der Koalitionsfreiheit leitet der Verfasser notwendige Elemente, die der „dritte Weg“ aufweisen muss, ab. Im Streikrecht sieht er kein „funktionszwingendes Moment“ der Koalitionsfreiheit, eine Verpflichtung der Kirchen für Einräumung von Arbeitskampfmaßnahmen bestehe daher nicht.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Verfasser eine souveräne Auseinandersetzung mit den verfassungstheoretischen wie verfassungsdogmatischen relevanten Problemlagen unter besonderer Berücksichtigung der Grundrechtsgewährleistungen der Mitarbeiter bietet.