KimDie Pensionsversicherung der Angestellten in Österreich und Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts

Verlag des ÖGB, Wien 2019, 496 Seiten, kartoniert, € 36,–

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Schon der Autor ist bemerkenswert: Byung Ho Kim war seit 1979 bis zu seiner Ruhestandsversetzung 35 Jahre lang Diplomat seines Heimatstaates, der Republik Korea, ua auch Gesandter in Österreich sowie Botschafter in Kirgisien und Dänemark. Studien an der Universität Göttingen von 1984-1986 förderten des Autors intellektuelles Interesse an der Sozialpolitik Bismarcks, insb auch an der Entwicklung der Gruppe der Angestellten zu einem – damals neuen – Mittelstand und an der Mittelstandspolitik im deutschen Kaiserreich. Die bestehenden Lücken in der Forschungslandschaft zu diesen Themen zu verringern, sind das erklärte Anliegen seiner, von der historischkulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien als Dissertation angenommenen Arbeit. Der Autor arbeitet akribisch die Umstände der Entstehung der PV in Österreich und Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Weite Teile des Buches sind davon inspiriert, dass Kim der Nachlass von Anton Blechschmidt zur Verfügung stand, aus dem er zahlreiche Briefe aufgearbeitet und daraus plastische Bilder der Vernetzung in der damaligen Zeit entworfen hat, wie schon einige Überschriften zeigen (Transnationales Lernen und Transfer der Ideen 277; Blechschmidts Korrespondenz als ein Spiegel für die Bewegung der Pensionsversicherung für Deutschland 288). Die von Josef Ehmer betreute Arbeit ist ein wirtschafts- und sozialgeschichtliches Werk, das gleichwohl auch für uns JuristInnen wichtig ist, weil es sich als eine Fundgrube von nicht leicht zugänglichem Quellenmaterial zur Sozialrechtsgeschichte darstellt, das vom Autor akribisch gehoben und verwertet wurde. Die Umstände der Entstehung dieses Buches und sein koreanischer Autor sind ein Beweis dafür, wie stark das deutsch-österreichische „Bismarck‘sche“, durch das Umlageverfahren charakterisierte 276 und relativ krisenfeste System der sozialen Sicherheit gerade heute über die Grenzen des Kontinents hinaus ausstrahlt.

Das nahezu 500 Seiten umfassende Werk berichtet zunächst detailreich über die Entstehung des Pensionsversicherungsgesetzes „der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten“ vom 16.12.1906. Die Einleitung führt uns in die lange, rund 20 Jahre dauernde Vorgeschichte ein und gibt einen ersten Überblick über die gesellschaftlichen Entwicklungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und die dazu vertretenen Analysen (Karl Marx, Gustav Schmoller, Max Weber, um die Wichtigsten herauszugreifen), insb auch, wie sich der „beamtenähnliche“ Angestellte in seinem Selbstverständnis vom Proletarier abzuheben und abzugrenzen beginnt. Die Kampagne zum Pensionsgesetz wurde – wie man heute sagen würde – evidenzbasiert geführt: Eine Fragebogenaktion von 1896 (104.000 Fragebögen an DN und DG, wovon 25 % gültig ausgefüllt wurden) und eine berufsgruppenorientierte Zählung der Angestellten, einschließlich der Erhebung ihrer sozialen Umstände (Familienstand, Kinder etc), bildeten wichtige Grundlagen für die Argumentation.

Nach diesem „Vorspann“ beschäftigt sich Kim im ersten Teil mit den Quellen zum Ursprung der PV in Österreich, beginnend mit 1888, als eine von vielen Petitionen „der Privatbeamten-Localgruppe des Ersten Allgemeinen Beamtenvereins“ den Weg in das damalige k.k. Gesamtministerium und in die beiden Häuser des Reichsrates fand. Der Autor breitet viele Quellen aus, die Überlegungen der unterschiedlichen Interessengruppen bis zur Gesetzwerdung reflektieren. An der Spitze dieser Bewegung stand der stv Obmann der Privatbeamten-Lokalgruppe, Anton Blechschmidt, eine Legende der frühen SV, wie aus Kims Buch deutlich wird. Das Netzwerk Blechschmidts beschränkte sich nicht auf Österreich, sondern umfasste auch DN-Organisationen in Deutschland, mit denen er regen Gedankenaustausch pflegte.

1892 schlossen sich 6.000 sogenannte „Privatbeamte“ und 400 Unternehmer der Petition an, die die „Errichtung eines Pensionsinstitutes der Privatbeamten im Wege der Gesetzgebung“ forderte. Dies bedeutete eine Forderung nach zwingendem Recht und nicht bloß fakultativer vertraglicher Pensionsvorsorgen, die damals schon in beträchtlicher Zahl existierten. Nach den inhaltlichen Vorstellungen sollte das Pensionsausmaß 80 % des Gehaltes und nach dem Todesfall des Mitgliedes 60 % des Gehaltes für die Familie betragen (S 60), zwei „magische“ Zahlen, denen wir in den folgenden mehr als hundert Jahren im System immer wieder in ähnlichem Zusammenhang begegnen sollten.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem „Netzwerk der Angestellten“, das hinter der Kampagne stand. Die Widerstände waren beträchtlich, bis hin zu Verschlechterungen des Gesetzes durch Abänderungsanträge im letzten Moment des parlamentarischen Prozesses (wie zB die Streichung der Werkmeister und Verkäufer aus dem Geltungsbereich). Was Anton Blechschmidt zu der Anmerkung veranlasste: „Es ist unglaublich, was in der Pensionsfrage schon zusammengelogen worden ist und wie ungemein albern die große Menge der Dienstgeber ist.“Kims Quellen machen denn auch deutlich, dass der von den DG in der Regel perhorreszierte und den

DN angelastete Klassenkampf im Zusammenhang mit der Altersversorgung der DN von den DG selbst recht heftig geführt wurde. An dieser Haltung hat sich – dies sei hier nicht unterdrückt – bis heute im Kern offenbar wenig geändert: Immerhin haben es die DG kürzlich für angezeigt gefunden, ein kurzes Zeitfenster größeren politischen Einflusses auf den Gesetzgeber dazu zu nützen, in den Gremien der Selbstverwaltung der SV der DN (!!) eine Parität der DG-Vertreter (!!) durchzusetzen. Einen derart feindseligen politischen Handstreich gegen den sozialen Gegenspieler hatte man davor durch mehr als 100 Jahre nicht gewagt.

Im dritten Teil des Werks wird der Einfluss des österreichischen Gesetzwerdungsprozesses auf die deutsche Entwicklung dargestellt, die erst 1911 ihren Abschluss fand; dies vor dem Hintergrund einer ersten „Globalisierung“, wie Kim die rasante Entwicklung des Welthandels gegen Ende des 19. Jahrhunderts nennt. Die Verabschiedung des österreichischen Gesetzes im Dezember 1906 wurde bei den Interessenvertretungen in Deutschland allgemein als „Ansporn“ zur Forcierung der Bemühungen um entsprechende Regelungen für die deutschen Privatbeamten verstanden, wie mit zahlreichen Dokumenten, einschließlich jenen der deutschen Reichstagsdebatte, belegt wird. Diese sind insofern interessant, als darin die österreichische Lösung zwar einerseits als vorbildhaft erwähnt, zugleich aber ihre Schwächen und Fehler hervorgehoben werden, die Deutschland vermeiden wollte. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland existierten bereits zahlreiche privatrechtlich organisierte Pensionskassen, deren System bis zu einem gewissen Grad in die Gesetzesvorhaben eingeflossen ist, wie etwa die Beitragshöhe in der Größenordnung von 7-8 % des Einkommens oder das Kapitaldeckungssystem, von dem das österreichische Pensionsgesetz 1906 noch geprägt war. Ein wesentlicher Kulminationspunkt der Vollzugsprobleme der österreichischen Lösung war die Abgrenzung der sogenannten geistigen tätigen Angestellten (für die das Gesetz gelten sollte) vom Rest der „Privatbeamten“. Ein führender deutscher Sozialpolitiker berichtete nach einer Studienreise in die Monarchie im Jahr 1910 nicht nur von „neunsprachigen Formularen“, in denen sich Nationalitätenkämpfe in „ganz wesentlicher ungünstiger Weise Geltung zu schaffen“ gewusst hätten, sondern auch von einer „eigenartigen Spruchpraxis des k.k. Verwaltungsgerichtshofes“, welche auf eine ganz wesentliche Einschränkung des Versichertenkreises hinauslaufe (265 f, vgl dazu auch R. Müller, DRdA 2015, 490 insb die in FN 6 referierte Rsp aus 1910).

Man erlebt mit, wie Blechschmidt frühe Kontakte zu prominenten deutschen politischen Akteuren (vom Reichskanzler abwärts) nutzte, um aufgrund von deren wohlwollenden Kommentaren auf die österreichische Politik Druck zu machen (266 ff). Ein besonders reger Gedankenaustausch erfolgte mit Albert Kamecke, dem Vorsitzenden des Mitteldeutschen Verbandes für staatliche PV der Privatbeamten. Die Korrespondenz Blechschmidts spiegelt aber auch die Widerstände wider, mit denen er bis zuletzt und auch dann noch zu kämpfen hatte, als man bereits alles in trockenen Tüchern wähnte. Das Werk ist dadurch auch eine Fundgrube für die Quellenforschung über sozialpolitische Fragen am Ausgang des 19./Beginn des 20. Jahrhunderts. 277

Ein Kapitel des dritten Teils ist der soziologischen Frage nach dem Selbstverständnis der Privatbeamten, insb der Charakterisierung des „beamtenähnlichen“, gewidmet, wobei sich Kim ua auf maßgebliche Untersuchungen von Otruba aus 1981 stützen konnte. Der Autor behandelt dies im Spiegel zeitgenössischer sozialversicherungsrechtlicher Literatur, statistischer Vergleiche und Selbstzeugnisse der Gruppe. Eingehend schildert er auch den Streit um die im letzten Moment aus dem Gesetz gestrichenen Werkmeister und Handlungsgehilfen, aber auch den Einfluss des damals bereits etablierten Genossenschaftsgedankens und damit des Selbsthilfe-(und Selbstverwaltungs-)gedankens auf den Sozialschutz. Am Ende skizziert Kim die ebenfalls von Blechschmidt maßgeblich beeinflusste Entwicklung zum Handlungsgehilfengesetz 1910, dem Vorläufer des Angestelltengesetzes.

Die Reichhaltigkeit der Information, die man aus dem vorliegenden Werk gewinnen kann, ist hier nur stichwortartig anzudeuten; es vermittelt mit seinem Material einen Eindruck von der politischen Atmosphäre zur vorletzten Jahrhundertwende. Es sei allen an der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bzw der Sozialrechtsgeschichte Interessierten zur anregenden Lektüre ans Herz gelegt. Mit besonderem Dank des Rezensenten an den Verfasser, der seinem früheren Dienstort Österreich mit diesem Buch ein beachtliches Geschenk gemacht hat.