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Keine Bindung des Gerichts im Regressprozess an den Leistungsbescheid des Sozialversicherungsträgers

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)
OLG Linz 17.12.2018 11 Ra 56/18mLG Salzburg 31.7.2018 11 Cga 5/18
  1. Im Regressverfahren nach § 334 ASVG besteht im Hinblick auf den Umfang des Aufwandersatzanspruchs des Sozialversicherungsträgers keine Bindung an den Bescheid über die Gewährung der Leistung, wenn der Schädiger an diesem Verfahren nicht beteiligt war. Die bisher gegenteilige Rsp wird nicht aufrecht erhalten.

  2. Die im Leistungsbescheid festgelegte Höhe entspricht grundsätzlich dem tatsächlichen Aufwand des Sozialversicherungsträgers im Hinblick auf die nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen iSd § 334 ASVG. Der Schädiger kann jedoch einwenden, dass dem Sozialversicherungsträger eine vorwerfbare Obliegenheitsverletzung bei Prüfung dieser Ansprüche zur Last zu legen ist, bei deren Einhaltung der Aufwand geringer gewesen wäre.

Der Bekl beabsichtigte im Frühjahr 2014 eine Sanierung der Ferienwohnungen im Dachgeschoss seines Hauses. Auf der Baustelle arbeiteten vier Personen über Vermittlung des Maschinenrings L*, darunter auch J*. [...]

Aufgabe von J* auf der Baustelle des Bekl war das Verlegen von Rigipsplatten im Dachgeschoss, wobei die Platten zunächst nach oben befördert werden mussten. Dafür war ein vor dem Haus aufgestellter Lastenaufzug vorgesehen, den der Bekl von einem Bekannten ausgeliehen hatte. Vor Beginn der Arbeiten hatte er das Zugseil ausgewechselt. Der Lastenaufzug entsprach nicht dem Stand der Technik und hinsichtlich Konstruktion, Bau- und weiterer Schutzmaßnahmen nicht den Rechtsvorschriften betreffend Sicherheit und Gesundheitsanforderungen. Es waren weder Fangvorrichtungen zur Verhinderung eines Absturzes der Plattform noch Notführungen, eine Überlastsicherung, Notendschalter, Puffer, Not-Aus-Schalter oder Ähnliches vorhanden. Darüber hinaus lagen keine Betriebsanweisung oder Hinweise zur Bedienung und Nutzung, Wartungsanleitungen oder technische Daten zur Anlage vor. Es existiert kein Prüfbuch für technische Überprüfungen. Ob eine Abnahmeprüfung anlässlich der Erstinbetriebnahme erfolgte, ist nicht bekannt. [...]

Am 8.5.2014 lud J* zusammen mit zwei anderen Arbeitern Rigipsplatten in den Aufzug. Gemeinsam fuhren sie in Richtung 2. Obergeschoss. Kurz vor dem Ausstieg fiel jedoch plötzlich und unerwartet die gesamte Aufzugsplattform samt den darauf befindlichen Personen zu Boden. J* erlitt einen Trümmerbruch der rechten Speiche im Bereich des Handgelenks mit Abriss des Ellengriffelfortsatzes, einen Bruch des rechten Handkahnbeines sowie einen erstgradig offenen Verrenkungsbruch des rechten Sprunggelenks. Zum Absturz der Plattform war es dadurch gekommen, dass das Tragseil gerissen war. Die Ursache dafür kann nicht festgestellt werden.

[...] Mit Bescheid der Kl (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt [AUVA]) vom 12.4.2016 wurde eine Leistungspflicht der Kl aufgrund des Vorfalls festgestellt. J* wurde ein Teilbetrag der am 18.8.2016 fällig gewordenen Versehrtenrente inklusive Sonderzahlungen von 22.620,12 € ausbezahlt. Weitere 19.029,58 € sind fällig. [...]

Die Kl begehrt [vom Bekl auf der Grundlage des § 334 ASVG] die Zahlung von 41.649,70 € sA und die Feststellung der Haftung des Bekl gegenüber der Kl für die von ihr in Zukunft zu erbringenden Leistungen aus dem Unfall des J* vom 8.5.2014. Der Bekl habe den Arbeitsunfall des J* grob fahrlässig verschuldet. [...] Mit Bescheid vom 12.4.2016 sei eine Leistungspflicht der Kl für den Unfall festgestellt worden. Aufgrund dessen sei eine Versehrtenrente inklusive Sonderzahlungen ausbezahlt worden. Weitere 19.029,58 € seien zur Zahlung fällig. Da die Kl auch weiter Leistungen zu erbringen habe, habe sie ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Haftung des Bekl

Der Bekl bestritt [...]. Eine Versehrtenrente im Ausmaß von 40 % stehe J* nicht zu. Er weise keine unfallkausalen Beeinträchtigungen mehr auf. Es bestehe keine Bindungswirkung an einen verwaltungsbehördlichen Bescheid für Parteien des Zivilverfahrens, die an diesem Verwaltungsverfahren nicht beteiligt gewesen seien.

Das Erstgericht gab der Klage statt. [...] Der Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers setze grobes Verschulden voraus, das hier zu bejahen sei. Die Höhe des Anspruchs ergebe sich aus den Leistungsbescheiden, an die die Gerichte gebunden seien. Aufgrund der Tatbestandswirkung des Bescheids gelte diese Bindung auch für Personen, die an dem Zustandekommen des Bescheids nicht beteiligt waren.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Bekl gegen dieses Urteil nicht Folge. Es teilte die Ansicht des Erstgerichts, dass aufgrund der völligen Missachtung sämtlicher Schutzvorschriften der Arbeitsunfall grob fahrlässig herbeigeführt worden sei. Hinsichtlich der Höhe bestehe eine Bindung an den rechtskräftigen Bescheid des Sozialversicherungsträgers über den Umfang der Sozialversicherungsleistungen.

Die Revision an den OGH ließ das Berufungsgericht nicht zu, da keine über den Einzelfall hinausgehenden Rechtsfragen zu behandeln seien.

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision des Bekl ist zulässig und teilweise berechtigt:

1. Im Revisionsverfahren wendet sich keine der Parteien dagegen, dass es sich beim Unfall des J* um einen nach § 176 Abs 1 Z 6 ASVG einem Arbeitsunfall gleichgestellten Unfall bei einer betrieblichen Tätigkeit handelt, die sonst ein nach § 4 ASVG Versicherter ausübt. In einem solchen Fall ist nach stRsp § 334 ASVG unabhängig davon anwendbar, ob die Tätigkeit an sich unfallversicherungspflichtig war (8 ObA 336/98i). 209

2. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der DG oder ein ihm gem § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, den Trägern der SV alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen. Durch ein Mitverschulden des Versicherten wird die Haftung weder aufgehoben noch gemindert (Abs 3). [...]

Zu Recht sind [...] die Vorinstanzen davon ausgegangen [...], dass der Bekl grob fahrlässig gehandelt hat, indem er die Nutzung des Lastenaufzugs für Personen zugelassen hat.

Damit besteht aber der Regressanspruch nach § 334 ASVG dem Grunde nach zu Recht.

3. § 334 ASVG sieht einen Ersatz für „alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen“ vor. Der Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers gem § 334 ASVG ist nach stRsp originärer Natur. Es handelt sich somit nicht um einen abgeleiteten Anspruch, der gem § 332 ASVG auf den Sozialversicherungsträger übergeht, sondern um einen solchen kraft eigenen Rechts. Der Anspruch des Sozialversicherungsträgers besteht daher unter den in § 334vSVG normierten Voraussetzungen unabhängig davon, ob und inwieweit dem Geschädigten ein privatrechtlicher Schadenersatzanspruch zusteht. Es handelt sich um einen zivilrechtlichen Aufwandersatzanspruch des Sozialversicherungsträgers, der freilich eine Schadenersatzhaftung für grobes Verschulden dem Grunde nach voraussetzt (Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm, § 34 ASVG Rz 2; vgl auch Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek4 § 334 Rz 1 f).

Die Vorinstanzen haben zum Umfang des Ersatzanspruches eine Bindung an den Leistungsbescheid der Kl angenommen. Die Revision geht dagegen davon aus, dass mangels Beteiligung des Bekl am Verwaltungsverfahren eine Bindung gegen Art 6 EMRK verstößt.

4. Der OGH vertritt in stRsp eine Bindung der Gerichte an rechtskräftige Bescheide der Verwaltungsbehörden, mit denen eine für den Zivilrechtsstreit maßgebliche Vorfrage entschieden wurde, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn diese Bescheide fehlerhaft (gesetzwidrig) sein sollten (RS0036880; RS0036981; RS0036864). Der Zivilrichter hat den Bescheid im Allgemeinen nicht auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen (RS0036975 [T4]).

Die für jede Bindung der Zivilgerichte an eine Entscheidung einer Verwaltungsbehörde vorausgesetzte Rechtskraft (vgl RS0036880) erfasst aber auch im Verwaltungsrecht grundsätzlich nur die Parteien des Verwaltungsverfahrens. Dritte können (abgesehen von einer Rechtskrafterstreckung) nur (mittelbar) durch die Gestaltungs- oder Tatbestandswirkung eines Bescheids gebunden sein (RS0036865 [T1], RS0036975 [T5], RS0121545). Bindungen an nachteilige Wirkungen eines Verfahrens, in das der nun davon Betroffene nicht eingebunden war und die er als unabänderlich hinnehmen müsste, verstoßen nach überwiegender Auffassung gegen Art 6 EMRK und können daher meist nicht bestehen (2 Ob 71/15b mwN; vgl auch Trenker, Bindung des Zivilgerichts an verwaltungsbehördliche/gerichtliche Entscheidungen, JBl 2016, 488 [495]; Musger, Verfahrensrechtliche Bindungswirkung und Art 6 MRK, JBl 1991, 420 [425]; Spitzer, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Zivilprozess, ÖJZ 2003, 48 [55 f]).

Die Tatbestandswirkung setzt voraus, dass die Rechtsordnung an die bloße Tatsache der Existenz des Bescheids Rechtsfolgen knüpft (2 Ob 143/17v mwN).

Gestaltungswirkung ist anzunehmen, wenn ein Bescheid eine gegenüber jedermann wirkende neue Rechtslage schafft (2 Ob 143/17v mwN).

Nach Walter (Die Bindung der Zivilgerichte an rechtskräftige präjudizielle Bescheide, ÖJZ 1996, 601 [611]) kann die Gestaltungswirkung zu den Tatbestandswirkungen gerechnet werden, da hier Tatbestände an Rechtslagen anknüpfen, die durch Bescheide (oder andere Staatsakte) geschaffen wurden (beispielsweise Verneinung der Staatsbürgerschaft, Scheidung der Ehe). Dabei müsse jeweils untersucht werden, ob man es mit einem „Statusfall“ zu tun habe, dh einem Fall, in dem sicher sei, dass die Rechtsordnung nicht allen künftig von der Gestaltung Betroffenen Parteistellung im Bescheiderlassungsverfahren einräumen wollte (konnte) und die Rechtswirkung dennoch allgemein sein sollte, oder ob in subjektive Rechte Dritter eingegriffen werde, die am Bescheiderlassungsverfahren nicht beteiligt waren (oder beteiligt hätten werden sollen).

5. Unstrittig war der Bekl am Verwaltungsverfahren, in dem die Kl den Umfang der Leistung an den Geschädigten festlegte, nicht beteiligt. Eine Bindung kann sich daher nur aus einer Tatbestandsoder Gestaltungswirkung des Bescheides ergeben.

6. 334 ASVG sieht einen Ersatz für alle „nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen“ vor.

Die Vorgängerregelung der RVO enthielt zur Höhe des Ersatzanspruchs eine ausdrückliche Bindung an die Bescheide der UV. Nach § 907 RVO iVm § 901 Abs 1 RVO hatte über die Ersatzansprüche ein ordentliches Gericht zu erkennen, das an die Entscheidung darüber gebunden war, ob ein entschädigungspflichtiger Unfall vorliegt und in welchem Umfang und von welchem Versicherungsträger die Entschädigung zu gewähren ist.

Aus welchen Gründen das ASVG keine ausdrückliche Bestimmung über eine solche Bindung enthält, lässt sich den Materialien nicht entnehmen. Der Ausschussbericht (AB 613 BlgNR 7. GP 29) enthält nur den Hinweis, dass an der Regelung der Ansprüche im Verhältnis Schädiger, Geschädigter und SV, „die sich schon im alten österreichischen Recht vorfindet“, nichts geändert werden soll.

Der OGH schloss sich in der E 2 Ob 245/60 der Ansicht Wedls (Schadenersatz und Haftung nach dem ASVG, JBl 1955, 589 [594]) an, dass das Gericht auch nach dem ASVG an die im Sozialversicherungsverfahren getroffene rechtskräftige Entscheidung darüber, in welchem Umfang Leistungen zu gewähren sind, gebunden ist. Nach der E 2 Ob 128/62 ist zu differenzieren: Ist zu beurteilen, ob ein Arbeitsunfall, also eine der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der §§ 333 und 334 ASVG 210 vorliegt, ist eine Bindung der Gerichte an die im Bescheid des Trägers der SV zum Ausdruck kommenden Auffassung zu verneinen. Soweit es jedoch um den Umfang dessen geht, was der Träger der SV dem Versicherten nach dem ASVG zu gewähren hat, ist eine Bindung des Gerichts an den rechtskräftigen Bescheid des Trägers der SV zu bejahen: Dies finde im Wortlaut und iSd § 334 ASVG („... so hat er alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen“) seine Begründung. Der den Trägern der SV durch § 334 ASVG gewährte Anspruch auf Ersatz dessen, was sie nach dem ASVG zu leisten hätten, sei nur dann in vollem Umfang gewährleistet, wenn die Entscheidung der nach dem ASVG dazu berufenen Stellen über den Umfang der zu gewährenden Leistungen der Überprüfung durch das Gericht nicht unterlägen.

Dieser Rechtsauffassung schlossen sich auch die nachfolgenden Entscheidungen 2 Ob 243/64, 8 Ob 8/71, 8 Ob 133/72, 8 Ob 227/73 an. In der E 8 Ob 8/71 wurde dabei auch die Frage, ob die Behauptung einer Verbesserung des Gesundheitszustands des Geschädigten, verbunden mit einer geringeren Minderung der Erwerbsfähigkeit als dem Bescheid zugrunde gelegt, einer Überprüfung durch die Gerichte zugänglich sei, unter Hinweis auf die Bindung verneint.

Bereits 1967 setzte sich Walter in der FS Schmitz (Probleme der Bindung an sozialversicherungsrechtliche Entscheidungen im Zivilprozess 459 ff) kritisch mit dieser Judikatur auseinander. Er verwies darauf, dass nach dem Wortlaut des § 334 ASVG Maßstab dafür, welche Leistungen zu ersetzen seien, das Gesetz nicht ein Bescheid sei. Der Bescheid entscheide nur die vom Sozialversicherungsträger an den Versicherten zu erbringenden Leistungen. Für die Annahme einer weitergehenden Bedeutung gebe es keine hinreichenden Gründe.

In der jüngeren Literatur wurde dagegen, ohne grundsätzlich die Bindung der Gerichte an den Bescheid des Sozialversicherungsträgers über den Umfang der Leistung in Frage zu stellen, nur die Frage einer Schadensminderungspflicht bzw eines Mitverschuldens des Sozialversicherungsträgers thematisiert. Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek § 334 ASVG Rz 39 halten es für überlegenswert, ob der Regressanspruch durch ein eigenes Verschulden des Sozialversicherungsträgers gemindert werden könne (etwa wegen Nichtbeanstandung eines gefährlichen Betriebs oder wegen Erteilung unrichtiger Ratschläge durch die AUVA). Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm, § 334 ASVG Rz 26 sieht einen Ersatz der gesamten infolge der Schädigung erforderlich gewordenen Sozialversicherungsleistungen in jenen Fällen als nicht gerechtfertigt an, in denen die Aufwendungen durch ein Verschulden des Sozialversicherungsträgers bzw dessen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht erhöht wurden.

Der erkennende Senat hat dazu erwogen:

§ 334 ASVG enthält, wie dargestellt, nach seinem Wortlaut zur Höhe von Regressansprüchen keine Bindung an den Bescheid über die vom Sozialversicherungsträger an den Geschädigten zu erbringenden Leistungen. Dafür, dass die in der Vorgängerbestimmung enthaltene Bindung nur deshalb entfallen ist, weil der Gesetzgeber eine solche Bindung als „überflüssig“ angesehen hat, finden sich keine Hinweise im Gesetzwerdungsprozess.

Aber auch der Zweck des Gesetzes, der Ersatz der Leistungen des Sozialversicherungsträgers an den Geschädigten durch den Schädiger, bietet keine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass der Schädiger zu ersetzen hat, was der Sozialversicherungsträger nicht aufgrund des Gesetzes, sondern aufgrund eines gesetzwidrigen Bescheids darüber hinaus leistet (so schon Walter, FS Schmitz 461). Zur vergleichbaren Frage von Regressansprüchen von Sozialhilfeträgern aufgrund der Gewährung von Sozialhilfeleistungen hat der VwGH ebenfalls keine Bindung an den Gewährungsbescheid angenommen, weil der Regresspflichtige nicht Partei des Verfahrens war (vgl VwGH93/08/0158; 2001/11/0029; 2000/11/0196; 2005/10/0108). Dem hat sich auch der OGH für Fälle angeschlossen, in denen Entscheidungen über solche Ersatzansprüche auf den Rechtsweg verwiesen waren (4 Ob 192/06y). Nach diesen Entscheidungen schließt die Intention des Gesetzes, dass der tatsächlich getragene Aufwand ersetzt werden soll, nicht aus, dass im Regressverfahren geprüft wird, ob dieser Aufwand auch dem nach dem Gesetz zu Tragenden entspricht.

Weder der Gesetzeswortlaut noch der Gesetzeszweck bieten daher eine ausreichende Grundlage für die Annahme einer Tatbestandswirkung des Bescheids im Leistungsverfahren für das Regressverfahren.

Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Entscheidung über die Verpflichtung des Schädigers zur Leistung eines zivilrechtlichen Aufwandersatzes die Beurteilung von „civil rights“ auch des Schädigers iSd Art 6 EMRK darstellt. Die Annahme einer Bindung in diesem Verfahren an nachteilige Wirkungen eines anderen Verfahrens, in das der nun davon Betroffene nicht eingebunden war, kann damit – selbst bei Annahme einer Tatbestandswirkung – gegen Art 6 EMRK verstoßen.

7. Eine Bindung lässt sich auch nicht aus einer Rechtsgestaltungswirkung des Bescheids im Leistungsverfahren ableiten.

Anders als etwa in den prinzipiell ähnlichen Fällen der Feststellung der Behinderteneigenschaft handelt es sich nicht um eine Art „Statusentscheidung“, die eine Reihe von Rechtswirkungen in verschiedene Richtungen entfaltet, ohne dass alle Betroffenen oder Berührten dem Verfahren beigezogen werden müssen oder auch nur können. Gegenstand des Leistungsverfahrens in der UV ist vielmehr, welche Ansprüche der Versicherte gegen den Sozialversicherungsträger hat. Eine Gestaltung der Rechtslage „gegenüber jedermann“ ist damit nicht intendiert.

Soweit der VfGH zur Feststellung der Invalidität/ Behinderteneigenschaft (VfGH, B 639/87; ihm folgend: 8 ObA 32/18s; RS0110655) auch damit argumentiert, dass die Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit die Befassung mit höchstpersönlichen Umständen in der Sphäre des Behinderten erfordert und ein Vielparteienverfahren dafür ebenso ungeeignet ist wie eine mehrfache 211 Wiederholung ähnlicher Verfahrensschritte in mehreren Verfahren mit unterschiedlichen Zwecken, lässt sich dies nicht auf die Regressfälle des § 334 ASVG übertragen. Gegenstand des Leistungsverfahrens sind zwar ebenfalls höchstpersönliche Umstände des Versicherten. Anders als bei der Feststellung der Behinderteneigenschaft ist aber der AG hier nicht nur mittelbar von der Wirkung des Bescheids betroffen. Der Leistungsbescheid bestimmt den Umfang des Aufwands des Sozialversicherungsträgers, der über den Regress auf den AG überwälzt werden soll.

Eine Bindung des Gerichts im Regressprozess an den Leistungsbescheid des Sozialversicherungsträgers ist daher zu verneinen.

8. Das führt jedoch nicht dazu, dass die Existenz des Bescheids als solches unbeachtlich ist.

In der E 9 Ob 83/10m wurde darauf verwiesen, dass auch ein Bescheid, dessen Bindungswirkung verneint wird, Teil der Rechtswirklichkeit sei. Mangels Bindung stehe aber der Einwand offen, dass die ohne Erhebung eines Rechtsmittels in Rechtskraft erwachsene bescheidmäßige Verpflichtung durch die Erhebung eines Rechtsmittels hätte abgewendet werden können. Zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt hat der OGH in der E 2 Ob 71/15b darauf verwiesen, dass ein Überwiegen der materiell-rechtlichen Wertungen zur Schadenszurechnung angenommen wird, wenn eine Entscheidung im Vorverfahren nur die Höhe des vom Bekl zu ersetzenden Schadens konkretisiert. Dem Rechtsgedanken des Art 6 EMRK könne in solchen Fällen – unter Bedachtnahme auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – auch durch eine Obliegenheit des Kl Rechnung getragen werden, den Bekl, soweit die Verfahrensgesetze es ermöglichen, zur Beteiligung am Vorverfahren aufzufordern oder zumindest den Schaden durch Erhebung von Rechtsmitteln gering zu halten.

Diese Überlegungen können auch für den vorliegenden Fall nutzbar gemacht werden:

Der Regressanspruch der UV kommt nur zum Tragen, wenn der AG (oder der ihm Gleichgestellte) durch ein grob fahrlässiges oder vorsätzliches, rechtswidriges Verhalten einen Aufwand des Sozialversicherungsträgers verursacht hat, der sich in den mit Bescheid zugesprochenen Leistungen konkretisiert. Mit Vorliegen eines rechtskräftigen Bescheids ist der Sozialversicherungsträger zur Leistungserbringung verpflichtet (vgl aber etwa auch § 99 ASVG). Damit umschreibt der Bescheid grundsätzlich den Aufwand, der dem Sozialversicherungsträger durch das schuldhaft, rechtswidrige Verhalten des AG tatsächlich verursacht wurde. Dem Regresspflichtigen muss jedoch die Möglichkeit offenstehen, geltend zu machen, dass dem Sozialversicherungsträger im Rahmen der Feststellung der Leistungspflicht gegenüber dem Geschädigten eine vorwerfbare Verletzung einer Obliegenheit zur Last zu legen ist, die relevanten Einfluss auf den Umfang der Leistungspflicht hatte. Nur in einem solchen Fall kann davon ausgegangen werden, dass ein Aufwand getätigt wurde, der nicht „nach diesem Bundesgesetz zu gewährende Leistungen“ umfasst.

9. Zusammengefasst ergibt sich daher:

Die Rsp, dass im Regressverfahren nach § 334 ASVG im Hinblick auf den Umfang des Aufwandersatzanspruchs des Sozialversicherungsträgers eine Bindung an den Bescheid über die Gewährung der Leistung besteht, wird, wenn der Schädiger an diesem Verfahren nicht beteiligt ist, nicht aufrecht erhalten.

Da der Bescheid jedoch die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Erbringung von Leistungen und damit den zu tragenden Aufwand für den Sozialversicherungsträger gegenüber dem Geschädigten bindend regelt, entspricht die dort festgelegte Höhe grundsätzlich dem tatsächlichen Aufwand des Sozialversicherungsträgers im Hinblick auf die nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen iSd § 334 ASVG. Der Schädiger kann jedoch einwenden, dass dem Sozialversicherungsträger eine vorwerfbare Obliegenheitsverletzung bei Prüfung dieser Ansprüche zur Last zu legen ist, bei deren Einhaltung der Aufwand geringer gewesen wäre.

10. Im konkreten Fall hat der Bekl erkennbar vorgebracht, dass die Kl ihrer Verpflichtung zur Prüfung des Umfangs der von ihr zu erbringenden Leistungen nicht entsprochen hat.

Da die Änderung der Rsp zur Bindung an den Bescheid der UV überraschend ist und das Verbot von Überraschungsentscheidungen auch für den OGH gilt, ist beiden Parteien die Gelegenheit zur Konkretisierung ihres Vorbringens zu dieser Frage zu geben. Vom Bekl wird dabei insb darzulegen sein, welche Maßnahmen die Kl vorwerfbar zu welchem konkreten Zeitpunkt verabsäumt hat und inwieweit dies (für welchen Zeitraum) zu einer Minderung der Ansprüche des Geschädigten geführt hat.

[...] Zur Höhe des Anspruchs und hinsichtlich des Feststellungsbegehrens war der Revision iSd Aufhebungsantrags Folge zu geben.

ANMERKUNG
1.
Rechtsnatur des Anspruchs nach § 334 ASVG

Gem § 332 ASVG gehen – außer im Falle des § 333 ASVG bei Vorsatz des DG -Schadenersatzansprüche, welche eine verletzte Person gegen den Schädiger hätte, auf den Sozialversicherungsträger über, der Leistungen aus der KV, UV oder PV aus diesem Grunde zu erbringen hat. Im Falle der Verursachung des Arbeitsunfalls durch den DG, dessen Vertreter oder den sogenannten „Aufseher im Betrieb“ (§ 333 Abs 1 und 4 ASVG) entstehen derartige Schadenersatzansprüche des DN gem § 333 Abs 1 überhaupt nur dann, wenn die schädigende Person vorsätzlich gehandelt hat. In allen anderen Fällen (also bei allen Formen der Fahrlässigkeit) sind Schadenersatzansprüche des DN (der insoweit zur Gänze auf Leistungen der gesetzlichen SV verwiesen wird) gegen den DG, dessen Vertreter und den Aufseher im Betrieb ausgeschlossen, 212 weshalb insoweit auch kein Rechtsübergang nach § 332 ASVG stattfinden könnte. Der Gesetzgeber hat einen derartigen Rechtsübergang gem § 332 Abs 3 für alle Ansprüche nach § 333 ASVG generell ausgeschlossen, sodass ein solcher Rechtsübergang auch im Falle eines vorsätzlich verursachten Arbeitsunfalls nicht stattfindet.

§ 334 Abs 1 ASVG sieht an dessen Stelle bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit der schädigenden Person einen originären Regressanspruch gegen DG, dessen Vertreter oder den Aufseher im Betrieb für „alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen“ vor; ausdrücklich ausgenommen ist die Verunstaltungsentschädigung nach § 213a ASVG. Die Höhe des im Regresswege zu leistenden Ersatzes wird im Falle der Unfallrente (oder anderer Geldleistungen aus der UV) durch Erlassung eines Bescheides durch den Versicherungsträger fixiert, Sachleistungen, wie zB die gesamte Krankenbehandlung, werden hingegen vom Gesetz gem § 334 Abs 2 iVm § 328 ASVG relativ vergröbert pauschaliert, und zwar mit dem halben Krankengeld pro Tag der „mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankenbehandlung“.

2.
Bindung unbeteiligter Dritter an Verfahrensergebnisse?

Noch in der RVO (§ 901 Abs 1 und § 907 Abs 2 RVO zur Zeit der Geltung in Österreich, zuletzt bis zum Sozialgesetzbuch [SGB] VII in Deutschland §§ 638, 642 Abs 2 RVO) war ausdrücklich eine Bindung des Regressgerichtes an den Rentenbescheid vorgesehen (jetzt in Deutschland § 108 bzw § 112 SGB VII), nicht aber im ASVG. Der OGH hat aber entsprechend seiner damals generellen Tendenz der Zurückhaltung bei der Beurteilung von Verwaltungsakten trotz Fehlens einer ausdrücklichen Norm weiterhin eine Bindung an den Rentenbescheid angenommen (OGH 17.5.1964, 2 Ob 243/64; OGH 2.2.1971, 8 Ob 8/71; OGH 4.7.1972, 8 Ob 133/72; OGH 6.11.1973, 8 Ob 227/73). Die Entwicklung der Lehre wird in der Begründung des vorliegenden Beschlusses sehr schön dargestellt, sodass es hier keiner Wiederholung bedarf. Die Lehre hat zunächst nur vereinzelt (Walter) die Bedeutung des Art 6 EMRK für die Relativierung der Bindungswirkung von staatlichen Rechtsakten (Urteilen, Beschlüssen, Verwaltungsakten) gegenüber Dritten erkannt. Dennoch hielt man noch auf dem 3. Österreichischen Juristentag (ÖJT) (Gutachten Fasching) ohne weiteres die Bindung des Zivilgerichts an strafgerichtliche Erkenntnisse gem § 268 ZPO für verfassungskonform (zu gegenteiligen Diskussionsbeiträgen wie zB von Bydlinski siehe Fink, Ist § 268 ZPO verfassungswidrig? ZVR 1989, 321 bei FN 23-28; ähnlich, aber erst nach dem 3. ÖJT auch Fasching, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts [1984] Rn 826).

Zu einer grundlegenden Änderung der Sichtweise führte schließlich die Aufhebung des § 268 ZPO durch den VfGH (1990/VfSlg 12.504). Wenige Monate vor dieser E finden wir aber schon eine ähnliche Wende in der Rsp des OGH abseits des § 268 ZPO: Danach würden Bindungen an nachteilige Wirkungen eines Verfahrens gegen den in Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK enthaltenen verfahrensrechtlichen Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, wenn der nunmehr davon Betroffene in das frühere Verfahren nicht eingebunden gewesen sei, gleichwohl aber dessen Ergebnisse als unabänderlich hinnehmen müsste. Diese Grundsätze würden es gebieten, dass der Einzelne vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen hat, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (seit OGH 1 Ob 694/89 SZ 63/4 stRsp, zuletzt OGH23.5.2018, 10 Ob 4/18p – siehe RS0074953).

3.
Einordnung der vorliegenden Entscheidung

Die vorliegende E ist also insofern nicht überraschend, als sie der mittlerweile stRsp des OGH zur (fehlenden) Bindungswirkung von rechtskräftigen Bescheiden oder Urteilen aus anderen Verfahren zu Lasten einer Prozesspartei entspricht, an denen diese Partei nicht beteiligt gewesen ist (vgl RIS OGH RS0097968). Die Gewährleistungen des Art 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren bzw Recht auf ein rechtliches Gehör durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht) erfordern, dass eine allfällige Bindung der Zivilgerichte an die Vorfragenentscheidung der Verwaltungsbehörde – soweit es sich um den durch die EMRK geschützten Bereich handle – nur bei einer entsprechenden Beteiligung der Parteien an einem Art 6 EMRK entsprechenden Vorverfahren zulässig ist (OGH8 Ob 128/09w SZ 2010/112). Der OGH musste also lediglich seine Rsp zu Art 6 EMRK auf 334 ASVG übertragen und die mehr als 50 Jahre zurückliegende gegenteilige Rsp zu dieser Bestimmung aufgeben. Damit trifft sich der OGH im Übrigen mit der deutschen Rsp, die trotz ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung der Bindung des Regressgerichts an Leistungsbescheide des Sozialversicherungsträgers diese Bindung auch davon abhängig macht, dass der Ersatzpflichtige am seinerzeitigen Verfahren beteiligt wurde (vgl nur Ricke in KassKomm § 112 SGB VII Rz 7). Der Gegenschluss des OGH aus dem nunmehrigen Fehlen früherer ausdrücklicher Bestimmungen der RVO zu diesem Thema war daher im Lichte der Garantien des Art 6 EMRK nicht erforderlich und ist auch nicht zwingend.

4.
Reichweite von Einwendungen gegen rechtskräftige Rentenbescheide

Was bedeutet diese Rsp für künftige Regressverfahren? Nach der praktischen Erfahrung liegt die Annahme eines überhöhten Rentenanspruchs als ein nennenswert wiederkehrendes Phänomen schon deshalb nicht nahe, weil das Rechtsverhältnis des Versicherungsträgers zur verletzten Person typischerweise kontradiktorisch ist und schon dies weitgehend verhindert, dass der Versicherungsträger freiwillig zu viel oder ohne zureichenden Rechtsgrund leistet; das Gegenteil ist häufiger 213 zu beobachten. Erschwert wird eine versehentliche „Überrentung“ zu Lasten des Regresspflichtigen auch noch dadurch, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit als Grundlage zur Berechnung der Rentenhöhe von einem medizinischen Sachverständigen (idR zunächst vom medizinischen Dienst des Trägers) eingeschätzt wird.

Ärzte können natürlich irren, und man könnte auf die Idee kommen, dem regressberechtigten Träger, obwohl dieser alles getan hat, um sich in der Rentenfrage sachverständigen Wissens zu bedienen, im Regressprozess entgegenhalten, dass ein anderer Arzt zu einem anderen Ergebnis gekommen ist oder kommen würde. Ließe man diesen Einwand zu, dann hätte man in jedem dieser Regressprozesse womöglich ein inzidentes Rentenkontrollverfahren. Rentenempfänger wären ohne ausdrückliche gesetzliche Vorschrift aber wohl nicht verpflichtet, sich im Regressprozess – also abseits der jährlich wiederkehrenden Möglichkeit des Versicherungsträgers zur Kontrolle der Fortdauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit gem § 183 Abs 2 ASVG – von Sachverständigen untersuchen zu lassen.

Der OGH hat einen solchen Weg begrüßenswerter Weise gleich verschlossen: Es ist im Regressprozess mitnichten der Einwand der „Überrentung“ schlechthin zulässig, sondern es kann lediglich der Einwand erhoben werden, dass dem Sozialversicherungsträger „eine vorwerfbare Obliegenheitsverletzung bei Prüfung des Rentenanspruchs“ zur Last zu legen ist, bei deren Einhaltung sein Aufwand geringer gewesen wäre.

5.
Was sind „Obliegenheiten“ des Sozialversicherungsträgers?

An den Begriff der „vorwerfbaren Obliegenheit“, die der OGH hier gebraucht, darf man keinen strengen sprachlichen Maßstab anlegen: Der Sozialversicherungsträger hat als drittleistender Versicherer gegenüber dem DG weder eine Schadensminderungspflicht (die eine Ersatzleistungsminderungspflicht oder einer Behandlungsminderungspflicht zulasten der verunfallten Person voraussetzen würde) noch bestehen sonst „Obliegenheiten“ gegenüber dem nach § 334 ASVG Regresspflichtigen. Gemeint hat der OGH mit „Obliegenheit“ offenbar die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Einhaltung im Gesetz begründeter Vorgaben, deren Verletzung dazu führt, dass die typische Konstellation, die zu einer gewissen Richtigkeitsgewähr des Rentenbescheides führt, gerade nicht vorliegt; es geht also um Verpflichtungen, denen der OGH gerade wegen des Erfordernisses einer Maßgeblichkeit des Rentenbescheides für die Schadenshöhe indirekt drittschützende Wirkung zumisst.

Als Beispiele für derartige Obliegenheitsverletzungen käme zB die Vornahme der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ohne medizinische Begutachtung in Betracht (wohl ein Extremfall); es könnten aber auch bei der Feststellung der MdE andere Fehler passiert sein, wie die Zugrundelegung eines Sachverständigengutachtens, das formell mangelhaft ist, weil es zB wohl eine Beurteilung, dazu aber keinen Befund enthält. Die Nichtbeiziehung eines nach der Sachlage erforderlichen Fachgutachters oder das Fehlen eines zusammenfassenden Gutachtens bei Relevanz mehrerer medizinischer Fachgebiete wäre ebenfalls als ein solcher Fehler qualifizierbar, Letzteres freilich nur dann, wenn das angenommene Ausmaß der MdE höher ist als die in jedem einzelnen Gutachten beurteilte MdE. Solange das Ausmaß der MdE in zumindest einem medizinischen Gutachten zur Gänze Deckung findet, wird eine solche Rechtsverletzung ohne denkbaren Einfluss auf das Ergebnis sein und daher außer Betracht bleiben können. Dem Sozialversicherungsträger kann nur eigenes Verschulden vorwerfbar sein, nicht aber ein Beurteilungsfehler eines medizinischen Sachverständigen.

Liegt eine derartige „Obliegenheitsverletzung“ des Sozialversicherungsträgers nicht vor, dann kann es auch unter dem Aspekt der Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK vertretbarerweise bei der Annahme bleiben, dass der Rentenbescheid den tatsächlich erforderlichen Aufwand des Sozialversicherungsträgers, der im Regressweg zu ersetzen ist, zum Ausdruck bringt.

Beratungsfehler der AUVA könnten hingegen allenfalls Amtshaftungsansprüche gegen den Bund begründen (vgl OGH RS0111538) und daher gegen die AUVA nicht angewendet werden.

6.
Ergebnis

Der OGH beseitigt mit dieser Entscheidung ein in der Lehre schon länger kritisiertes Defizit der Judikatur zu § 334 ASVG in Bezug auf die Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten: Die zulässigen Einwendungen gegen den Leistungsbescheid werden sich im Ergebnis auf grobe formelle Fehler des Sozialversicherungsträgers beschränken, die geeignet sind, von Einfluss auf die Einschätzung der Rentenhöhe zu sein. Ein fiktives Rentenverfahren zur Feinprüfung der formell ordnungsgemäß ermittelten Rentenhöhe ist wohl nicht intendiert. Dies halte ich mit Blick auf die bei einer Durchschnittsbetrachtung gegebene Richtigkeitsgewähr eines ordnungsgemäß zustande gekommenen Rentenbescheides auch unter dem Gesichtspunkt des Art 6 EMRK für zulässig. 214