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Kostenerstattungsanspruch für Krankenhausbehandlung in der Türkei setzt Einhaltung eines speziellen Verfahrens voraus

MONIKAWEISSENSTEINER

Wird das Verfahren gem Art 5 der Durchführungsverordnung nicht eingehalten (Anmerkung: und kein Urlaubskrankenschein vorgelegt), besteht kein Kostenerstattungsanspruch der versicherten Person gegenüber dem Versicherungsträger.

Eine Leistungsklage auf Kostenerstattung aus der KV setzt voraus, dass die Kosten vorher von der versicherten Person getragen wurden.

Sachverhalt

Die Kl, die in Österreich wohnt und bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) versichert ist, verbrachte ihren Sommerurlaub 2017 in der Türkei; sie verfügte über keinen Urlaubskrankenschein. Es steht nicht fest, dass sie sich zum Zweck der Inanspruchnahme einer ärztlichen Behandlung in die Türkei begeben hat. Nachdem sie starke Schmerzen und Blutungen bekam, wurde sie in einem privaten Krankenhaus operiert, nach dem Auftreten von Komplikationen wurde sie ein zweites Mal behandelt, und es wurde ihr ein Stent implantiert. In vier Honorarnoten wurden insgesamt umgerechnet € 8.725,18 in Rechnung gestellt. Die Kl begehrte von der ÖGK die Rückerstattung von € 8.532,22; der türkische Versicherungsträger teilte der ÖGK mit, dass der Gesamterstattungsbetrag € 288,09 betrage.

Verfahren und Entscheidung

Mit Schreiben vom 22.7.2019 beantragte die Kl die Erlassung eines Bescheides über den Kostenerstattungsanspruch. Mit Säumnisklage vom 30.10.2019 begehrte sie die Kostenrückerstattung, diese Klage wurde zur Verbesserung zurückgestellt.

Mit Bescheid vom 30.10.2019 bestimmte die Bekl den Anspruch auf Kostenerstattung mit € 288,09, das Mehrbegehren wurde abgewiesen. Mit ihrer verbesserten und auch gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrte die Kl nach einer Einschränkung nun € 8.244,13. Die Bekl habe sie so zu stellen, wie wenn sie in der Türkei versichert sei und auch gem dem Abkommen zwischen Österreich und der Türkei den gesamten Rechnungsbetrag zu ersetzen, zumindest aber gem § 131 ASVG 80 % dessen, was der Träger bei Inanspruchnahme eines Vertragspartners zu bezahlen gehabt hätte. Die Bekl bestritt nicht, dass es sich um einen Notfall gehandelt habe, da die Kl aber das vorgesehene Verfahren nicht eingehalten habe, sei Grundlage für die Kostenerstattung die Auskunft des türkischen Trägers. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge. Die Einwände der Kl gegen die Richtigkeit der Auskunft des türkischen Trägers seien unsubstantiiert geblieben, es bestehen keine Bedenken gegen die Richtigkeit. Die Revision sei zulässig, weil es an einer höchstgerichtlichen Rsp fehle.

Der OGH dagegen hält die Revision für nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt werde und weist sie zurück.207

Originalzitate aus der Entscheidung

„1.1 Sowohl der persönliche als auch der sachliche Anwendungsbereich des AbkSozSi-Türkei sind im vorliegenden Fall unstrittig eröffnet (Art 2 Abs 1 Z 1 lit a und Art 3 lit a AbkSozSi-Türkei). […]

‚Artikel 11

Sachleistungen

(1) Eine Person, welche die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates erfüllt und

a) … oder

b) deren Zustand während eines Aufenthaltes im Gebiet des anderen Vertragsstaates unverzüglich Leistungen erfordert und sich die Person nicht zum Zwecke der Inanspruchnahme einer ärztlichen Betreuung in den anderen Vertragsstaat begeben hat, oder

c) …,

hat Anspruch auf Sachleistungen zu Lasten des zuständigen Trägers vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsortes nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob sie bei diesem versichert wäre. …‘

Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin unstrittig erfüllt.

1.3 Der Umstand, dass die Klägerin während ihres Aufenthalts in der Türkei Sachleistungen in Anspruch genommen hat, die der türkische Sozialversicherungsträger für die Beklagte als zuständigen österreichischen Sozialversicherungsträger im Weg der Sachleistungsaushilfe erbracht hat, löst primär einen – hier nicht zu behandelnden – Anspruch des türkischen Sozialversicherungsträgers gegen den zuständigen österreichischen Sozialversicherungsträger auf Kostenerstattung gemäß Art 15 AbkSozSi-Türkei aus (iVm Art 15 [Vereinbarung zur Durchführung des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit, Anm] DV).

1.4 Für die praktische Durchführung des Art 11 AbkSozSi-Türkei enthält Art 5 DV eine ergänzende Regelung. Diese Bestimmung lautet auszugsweise:

‚Artikel 5

Gewährung von Leistungen

(1) In den Fällen des Artikels 11 des Abkommens hat der Versicherte dem aushelfenden Träger zum Nachweis des Anspruches eine Bescheinigung des zuständigen Trägers vorzulegen. Diese Bescheinigung gibt insbesondere die Zeitdauer an, für die Leistungen gewährt werden dürfen. Legt der Versicherte die Bescheinigung nicht vor, so hat der zuständige Träger über Ersuchen des aushelfenden Trägers in den Fällen des Artikels 11 Absatz 1 Buchstaben a und b des Abkommens eine solche Bescheinigung auszustellen.‘

Art 5 Abs 1 DV legt daher lediglich fest, auf welche Weise der Versicherte dem aushelfenden Träger den Nachweis seines Anspruchs auf Sachleistungen bei Krankheit aus der Krankenversicherung zu erbringen hat und welche Vorgangsweise einzuhalten ist, wenn der Versicherte die erforderliche Bescheinigung (Formular A/TR 3, ‚Urlaubskrankenschein‘) nicht vorlegt. Diese Bestimmung begründet entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin keinen (ihr zustehenden) Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber der Beklagten. […]

1.5 Eine ergänzende Regelung zu Art 5 DV enthält Art 6 DV. Diese Bestimmung lautet:

‚Artikel 6

Erstattung von Sachleistungen bei Nichteinhaltung des vorgesehenen Verfahrens

Die entstandenen Aufwendungen sind auf Antrag der betreffenden Person vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften mit den für den aushelfenden Träger maßgebenden Sätzen zu erstatten, sofern die vorgesehenen Verfahrensregelungen nicht eingehalten werden konnten. Der aushelfende Träger hat dem zuständigen Träger auf dessen Verlangen die erforderlichen Auskünfte zu erteilen.‘

Wird daher wie im vorliegenden Fall das Verfahren gemäß Art 5 DV nicht eingehalten, ermöglicht Art 6 DV einen Kostenerstattungsanspruch der versicherten Person gegenüber dem zuständigen Versicherungsträger. Diesen Anspruch hat die Beklagte nach der ihr vom türkischen Träger erteilten Auskunft erfüllt. Dem hält die Revisionswerberin entgegen, Art 6 DV gelange nicht zur Anwendung, weil das Verfahren gemäß Art 5 Abs 1 Satz 3 DV einzuhalten gewesen wäre, wonach die Beklagte über Ersuchen des aushelfenden türkischen Trägers die erforderliche Bescheinigung auszustellen gehabt hätte. Dieses Argument übergeht aber, dass das Verfahren nach Art 5 DV – wie ausgeführt – keinen Kostenerstattungsanspruch der versicherten Person gegen den zuständigen Krankenversicherungsträger begründet.

2.1 Zu Unrecht beruft sich die Revisionswerberin auf Art 12 AbkSozSi-Türkei, der die Erbringung von Geldleistungen in den Fällen des Art 11 Abs 1 AbkSozSi-Türkei regelt. Der Ausdruck ‚Geldleistung‘ bedeutet ‚[…] Geldleistung […] einschließlich aller ihrer Teile aus öffentlichen Mitteln, aller Zuschläge, Anpassungsbeträge, Zulagen sowie Kapitalabfindungen und Zahlungen, die als Beitragserstattungen geleistet werden‘. Diese Begriffsbestimmung soll sicherstellen, dass von der Exportverpflichtung alle Leistungen und Leistungsteile erfasst werden, soweit nicht ausdrücklich Ausnahmen vorgesehen sind […].

2.2 Eine Geldleistung aus der Krankenversicherung sind in diesem Sinn beispielsweise das Krankengeld (§ 138 ff ASVG) und das Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG) aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder der geminderten Arbeitsfähigkeit (§ 117 Z 3 ASVG) sowie das Wochengeld (§ 162 ASVG) aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft (§ 117 Z 4 lit d ASVG) […]. Einen solchen Anspruch auf Geldleistung hat die Klägerin jedoch nicht geltend ge208macht. Die von der Klägerin aus dem Versicherungsfall der Krankheit (§ 117 Z 2 ASVG) in Anspruch genommene Krankenbehandlung wird nach § 133 Abs 2 ASVG nicht als Geld-, sondern grundsätzlich als Sachleistung erbracht. Diese Sachleistung wurde von der Klägerin in der Türkei im Weg der Sachleistungsaushilfe auch in Anspruch genommen. Der nunmehr von ihr geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung resultiert daraus, dass die Klägerin Leistungserbringer aufsuchte, die in keinem Vertragsverhältnis zur Beklagten stehen, und dass das Verfahren gemäß Art 5 Abs 1 DV nicht eingehalten wurde. Das macht diesen Anspruch, mag er auch auf Geld gerichtet sein, noch nicht zu einem Anspruch auf eine Geldleistung im Sinn des Art 1 Abs 1 Z 10 AbkSozSi-Türkei. Ein Anspruch auf Geldleistung im Sinn des AbkSozSi-Türkei wäre überdies gemäß Art 5 Abs 2 DV – auf den sich die Klägerin gar nicht beruft – dann, wenn der Versicherungsfall im Gebiet des anderen Vertragsstaats eintritt, beim aushelfenden Träger geltend zu machen, der den Antrag an den zuständigen Träger weiterleitet.

3.1 Schließlich beruft sich die Klägerin auf einen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 131 ASVG und macht in diesem Zusammenhang geltend, dass diese Bestimmung den Art 6 DV verdränge.

3.2 Wie ausgeführt soll die österreichische soziale Krankenversicherung den Heilbedarf des Versicherten in der Form der Sachleistungen decken. An die Stelle von Sachleistungen tretende Geldleistungen des Krankenversicherungsträgers (‚Kostenerstattung‘) sollen im Bereich der Krankenbehandlung hingegen die Ausnahme bilden (RS0115953RS0115953). Um den gesetzlichen Auftrag des Sachleistungsprinzips in der Krankenversicherung zu verwirklichen, ist es erforderlich, den sozialversicherungsrechtlichen Kostenerstattungsanspruch nicht nur vom Entstehen eines wahlärztlichen Honoraranspruchs abhängig zu machen, sondern auch von der endgültigen schuldbefreienden Zahlung durch die versicherte Person (RS0113911RS0113911).

3.3 Eine Leistungsklage auf Kostenerstattung aus der Krankenversicherung setzt daher voraus, dass die Kosten vorher von der versicherten oder anspruchsberechtigten Person getragen wurden (10ObS361/01p&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True" target="_blank">10 ObS 361/01p SSV-NF 15/142, RS0111541RS0111541 [T1]). Die Klägerin hat jedoch [...] gar nicht vorgebracht, die ihr in der Türkei in Rechnung gestellten Beträge bezahlt zu haben. Der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass der Klägerin ein Anspruch auf Kostenerstattung schon aus diesem Grund nicht zusteht, tritt die Klägerin in ihrer Revision nicht entgegen. Es bedarf daher auch keines weiteren Eingehens auf die Frage, ob oder in welcher Höhe ein solcher Anspruch nach § 131 ASVG neben einem Anspruch nach Art 6 DV bestehen könnte (vgl dazu näher Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [60. Lfg] AbkAllgTeil Rz 43, 68; Mosler in SV-Komm [242. Lfg] § 131 ASVG Rz 3).“

Erläuterung

Eine österreichische Versicherte benötigt in ihrem Urlaub in der Türkei ärztliche Hilfe, weil plötzlich starke Schmerzen und Blutungen auftreten. Es wird ein Krankenhausaufenthalt mit einer anschließenden Stentimplantation notwendig. Die Behandlung wird allerdings in einem privaten Krankenhaus durchgeführt, außerdem verfügte die Versicherte über keinen Urlaubskrankenschein. Es finden sich keine Feststellungen, ob ein „Vertragskrankenhaus“ überhaupt zur Verfügung stand oder etwa aus medizinischen Gründen nicht mehr aufgesucht werden konnte. Die vorgelegten Honorarnoten (offenbar aus drei verschiedenen Krankenhäusern „A, U, K“) ergeben in Summe Kosten von über € 8.500,-. Von der Bekl wurden – gemäß der Auskunft des türkischen Trägers – € 288,- ersetzt. Die Kl begründete ihre Klage „dreifach“: Sie sei so zu stellen, als wäre sie in der Türkei mit einem (gemeint wohl die vorliegende Behandlung) umfassenden Leistungskatalog versichert; zweitens bestehe der Anspruch aufgrund des Abkommens und drittens wurde eine Wahlarztkostenerstattung nach ASVG begehrt. Die Bekl bestritt nicht, dass ein Notfall vorgelegen sei, machte aber geltend, dass das vorgesehene Verfahren nicht eingehalten worden sei. Die Kl unterlag in allen Instanzen.

Da die Kl Leistungen als Sachleistung in Anspruch genommen habe, bestehe primär ein Anspruch des türkischen gegenüber dem österreichischen Träger auf Kostenerstattung. Wenn kein Urlaubskrankenschein vorgelegt wird bzw werden konnte, hat die versicherte Person Anspruch auf Kostenerstattung. Diesen hat die Bekl nach den Angaben des türkischen Trägers erfüllt. Es besteht kein (darüberhinausgehender) Kostenerstattungsanspruch der Kl. Es liegt auch keine Geldleistung (wie etwa Kranken- oder Rehabilitationsgeld) iSd Abkommens vor, die zu exportieren wäre.

Die Kostenerstattungsregel des § 131 ASVG („Wahlarzterstattung“ in Höhe von 80 % des Vertragstarifs) kommt ebenfalls nicht zur Anwendung. Eine Leistungsklage setzt in einem derartigen Fall voraus, dass die Kosten von der anspruchsberechtigten Person vorher bezahlt wurden. Leider musste darauf vom OGH nicht mehr eingegangen werden, weil das diesbezügliche Vorbringen in der Revision nicht mehr aufrechterhalten wurde.209