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Keine Heimopferrente bei Misshandlung im Rahmen eines Lehrverhältnisses

ELISABETHHANSEMANN

Bei Gewalterfahrungen im Rahmen eines Lehrverhältnisses in einem Kloster bei gleichzeitiger räumlicher Unterbringung im Kloster liegt keine „Unterbringung“ iSd § 1 Abs 1 Heimopferrentengesetz (HOG) vor, die Anspruchsvoraussetzungen für eine Heimopferrente sind daher nicht zur Gänze erfüllt. Auch eine den gesetzlich umschriebenen Tatbeständen gleichzuhaltende Fremdunterbringung liegt nicht vor, da die Kl – anders als „Heimkinder“ oder „Pflegekinder“ – zumindest rein rechtlich die Möglichkeit hatte, das Autoritätsverhältnis selbst zu beenden.

Sachverhalt

Die 1948 geborene Kl bezieht von der Bekl eine Invaliditätspension. Mit Bescheid vom 27.2.2019 lehnte die Bekl den Antrag der Kl auf Zuerkennung einer Heimopferrente mit der Begründung ab, es fehle die Anspruchsvoraussetzung der Unterbringung der Kl in einer kirchlichen Einrichtung iSd § 1 Abs 1 HOG. Die Kl begehrte mit ihrer Klage die Zuerkennung einer Heimopferrente im gesetzlichen Ausmaß mit der Begründung, sie habe während ihres Aufenthalts im Kloster als „Lehrling“ zur Kindergärtnerin durch eine Klosterschwester zwischen 1962 und 1964 massive psychische und physische Gewalt erlitten. Ua wurde die Kl geschlagen (einmal wurde sie mit einem Schürhaken so geschlagen, dass dieser im Rücken stecken blieb und eine Ärztin geholt werden musste), mit dem Umbringen bedroht und gezwungen, ihr eigenes Erbrochenes zu essen. Die Kl berichtete ihrem Vater von den Misshandlungen, dieser kündigte auch an, mit der Direktorin von Kindergarten und Internat zu sprechen, dazu kam es allerdings nicht. Im Winter 1964 floh die Kl zu Fuß aus der Einrichtung zu ihren Eltern, infolgedessen erkrankte sie an einer Lungenentzündung. Das Beschäftigungsverhältnis wurde daraufhin beendet, eine Anzeige wurde nicht erstattet. Die Kl erhielt von der Stiftung Opferschutz der Katholischen Kirche zwar eine pauschalierte Entschädigungsleistung von € 15.000,- zuerkannt, jedoch mit dem Hinweis, dass die Voraussetzungen nach § 1 Abs 1 HOG nicht vorliegen.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge. Die Kl habe die Gewalt nicht als Zögling eines Kinder- oder Jugendheimes, sondern als Lehrling durch den Lehrherrn, der ihr auch eine Unterkunft zur Verfügung gestellt hat, erfahren. Gewalt gegen Lehrlinge oder jugendliche DN sei nicht vom HOG umfasst.

Die Revision der Kl war zulässig, da Rsp des OGH zur Auslegung des Begriffs „Unterbringung“ in § 1 Abs 1 HOG fehlt, sie war jedoch nicht berechtigt.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…] 3. Der Gesetzgeber hat den Kreis der nach § 1 Abs 1 HOG anspruchsberechtigten Personen eng umschrieben. Er hat die Gewährung einer Heimopferrente als besondere Fürsorgeleistung und spezifische Reaktion auf ein Unrecht geschaffen, das typischerweise und in besonderer Intensität sogenannten ‚Heimkindern‘ bzw ‚Pflegekindern‘ widerfahren ist. Er stellt daher auf kindliche und jugendliche Opfer von Gewalt ab, die solcher Gewalt im Rahmen einer regelmäßig länger dauernden Unterbringung in Fremdpflege, der sie sich nicht entziehen konnten, ausgesetzt waren. Er stellt diese nicht allen anderen Opfern von Gewalt gleich. Da der Gewährung einer Fürsorgeleistung wie der Heimopferrente keine Gegenleistung des Anspruchsberechtigten gegenübersteht und keine sonstige Verpflichtung des Staats zugrunde liegt, hat der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs durch die dargestellte enge Umschreibung des Kreises der anspruchsberechtigten Personen nicht den ihm zustehenden weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum verletzt (VfGHG 189/2018; G 226/2018). […]

4.2 Der Umstand, dass die Klägerin eine pauschalierte Entschädigungsleistung von der Stiftung Opferschutz der Katholischen Kirche in Österreich erhalten hat, hat – entgegen den Ausführungen in der Revision – (nur) zur Folge, dass ihr Opferstatus (die erlittene Gewalt) nicht mehr gesondert zu prüfen ist. Die Intention ist, jene Opfer, welche eine pauschalierte Entschädigungsleistung erhalten haben, nicht neuerlich mit dieser Gewalttat zu konfrontieren (Madlener, HOG 237). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die weiteren Anspruchsvoraussetzungen vom Entscheidungsträger, und – infolge der sukzessiven Kompetenz: neuerlich und von dessen Entscheidung unabhängig – vom Arbeits- und Sozialgericht zu prüfen ist, was sich aus den Verfahrensbestimmungen des HOG ergibt. […]

4.3 Die Argumente der Revisionswerberin zielen darauf ab, dass eine Fremdunterbringung der Klägerin in den Jahren 1962 bis 1964 vorlag, die den gesetzlich umschriebenen Tatbeständen gleichzuhalten ist. Es steht außer Frage, dass die Klägerin während ihres Aufenthalts im Kloster F* außerordentliche Gewalt und Misshandlungen erleiden musste. Ungeachtet der – de facto, infolge des Verbots, die Kindergärtnerinnenschule zu besuchen – räumlichen Unterbringung der Klägerin allein im Kloster bleibt im Hinblick auf die dargestellte 231Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs kein Raum für die von der Klägerin gewünschte extensive Auslegung des Tatbestands des § 1 Abs 1 HOG. […]

4.4 Denn die Klägerin hatte – anders als ‚Heimkinder‘ oder ‚Pflegekinder‘ – zumindest rein rechtlich die Möglichkeit, das Autoritätsverhältnis selbst zu beenden, unabhängig davon, ob es sich beim Beschäftigungsverhältnis der Klägerin tatsächlich um eine ‚Lehre‘ handelte oder ob ein Dienstvertrag abgeschlossen wurde: Sowohl die Klägerin selbst, als auch – nach damaliger Rechtslage – ihr(e) gesetzlicher(n) Vertreter waren sowohl berechtigt, ein Lehrverhältnis bei Vorliegen eines wichtigen Grundes gemäß § 101 Z 2 GewO 1859 als auch ein Dienstverhältnis (vgl § 152 ABGB alt, nunmehr § 171 ABGB iVm § 1162 ABGB) vorzeitig zu lösen […].

5. Die Klägerin erlitt daher zwar außerordentliche Gewalt und erhielt dafür eine Entschädigungsleistung. Sie erlitt diese Gewalt aber nicht ‚im Rahmen einer Unterbringung‘ im Sinn des § 1 Abs 1 HOG, sondern im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs 1 HOG sind daher nicht zur Gänze erfüllt.“

Erläuterung

Die Heimopferrente nach dem HOG ist eine 12x jährlich gebührende Zusatzrente, welche Personen zusteht, die zwischen dem 9.5.1945 und 31.12.1999 im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen des Bundes, der Länder und Gemeinden, Gemeindeverbänden oder Kirchen, in Pflegefamilien, in Kranken-, Psychiatrie- oder Heilanstalten oder vergleichbaren Einrichtungen oder in entsprechenden privaten Einrichtungen (sofern die Zuweisung durch einen Jugendwohlfahrtsträger erfolgte) Opfer von Gewalt wurden und daher bereits einen Anspruch auf eine pauschalierte Entschädigungsleistung haben.

Die Rente gebührt in Höhe eines Fixbetrages iHv € 337,30 monatlich (Wert 2021) und ab dem Erreichen des Regelpensionsalters bzw ab dem früheren Bezug einer Eigenpension, eines Rehabilitationsgeldes oder einer wegen Erwerbsunfähigkeit weitergewährten Waisenpension, sowie bei Bezug von Mindestsicherung bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit. Durch die Rentenleistung soll den betroffenen Personengruppen ein etwaiger Einkommensnachteil, welcher durch staatliches Wegsehen bzw nicht Hinsehen entstanden ist, zumindest teilweise ausgeglichen werden.

Die Definition der Unterbringung ist vom Gesetzgeber bewusst eng gewählt worden. Der Gesetzgeber wollte gerade jene Personen, welche Gewalt im Rahmen einer Unterbringung in längerdauernder Fremdpflege erlitten haben, nicht allen anderen Opfern von Gewalt gleichstellen. Denn die betroffenen Personen erlitten Gewalt in Einrichtungen, deren Aufgabe es an und für sich ist, sich um das Wohl des Minderjährigen zu sorgen und diesen zu schützen. Auch konnten sich die betroffenen Personen dieser Fremdpflege zumeist rechtlich nicht entziehen. Daher waren die betroffenen Personen ihren Peinigern, sowohl in faktischer als auch in rechtlicher Hinsicht, ganz besonders ausgeliefert und hatten nur limitierte Möglichkeiten, Hilfe aufzusuchen. Auch der VfGH bestätigte, dass der Gesetzgeber mit der engen Umschreibung der Anspruchsberechtigten nach § 1 Abs 1 HOG noch im Rahmen seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums handelte (VfGH 3.10.2018, G 189/2018; VfGH 28.2.2019, G 226/2018).

Dass die Kl unermessliches Leid erlitten hat, bleibt auch im vorliegenden Fall unbestritten. Auch war die Kl aufgrund ihres jungen Alters und der Unterbringung im Kloster der Täterin ganz besonders ausgeliefert. Dennoch hätten – rein rechtlich – sie oder ihre Erziehungsberechtigten die Möglichkeit gehabt, das Lehrverhältnis zu beenden und sich der Gewalt zu entziehen. Weshalb die Kl bzw ihre Erziehungsberechtigten diesen Schritt erst rund zwei Jahre nach Beginn des Beschäftigungsverhältnisses getan haben, wurde in der gegenständlichen Entscheidung nicht erläutert und ist auch nicht entscheidungsrelevant. Die Tatsache, dass die Kl die Möglichkeit, sich der Gewalt zu entziehen, erst so spät genutzt hat, stellt in keiner Weise eine Mitverantwortung der Kl an ihrem erlebten Leid dar. Die sehr strengen Anspruchsvoraussetzungen des HOG sind damit aber nicht erfüllt.