Stets umstritten – die Zulässigkeit einer Impfpflicht
Stets umstritten – die Zulässigkeit einer Impfpflicht
Aufgrund der für alle bestehenden Einschränkungen und dem weitreichenden Einfluss der andauernden Corona-Pandemie auf berufliche und private Lebensbereiche, der ansteigenden Verfügbarkeit von Impfstoffen gegen SARS-COV-2 und der tragenden Rolle einer hohen Durchimpfungsrate in der Pandemiebekämpfung stellt sich medial und politisch vermehrt die Frage, ob es möglich sei, Personen auch zur entsprechenden Impfung zu verpflichten, um das Ziel einer möglichst großen Durchimpfungsrate zu erreichen. Die Thematik der Impfungen und noch vielmehr der Impfpflicht wird in Österreich seit jeher kontrovers betrachtet und eine solche steht im rechtlichen Spannungsverhältnis zu diversen Grundrechten. Vorrangig wird im Inland auf Freiwilligkeit, Aufklärung und „indirekten“ Druck gesetzt. Beispielhaft dafür erreichte im Jänner 2021 das Volksbegehren „Für Impf-Freiheit“ annähernd 260.000 Unterstützungserklärungen.* Ein Blick über den nationalen Tellerrand zeigt jedoch, dass eine Impfpflicht vielerorts bereits Realität ist, wobei der Zwang meist indirekt, aber höchst unterschiedlich ausgestaltet ist.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden erstmals Impfungen gegen Pocken in Österreich verabreicht. Bei den nachfolgenden Massenimpfungen gegen Pocken setzte man, im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, nicht auf eine Impfpflicht, sondern auf Empfehlungen und mittelbaren Zwang durch ausschließende Maßnahmen, wie den Entzug des Stipendiums oder den Ausschluss aus karitativen oder schulischen Einrichtungen.* Die unterschiedlichen und für den einzelnen Rechtsunterworfenen schwer auffindbaren Normen und Maßnahmen bezüglich Infektionskrankheiten, insb Pocken und Cholera, wurden durch das Epidemiegesetz 1913 kodifiziert und harmonisiert. Der erste Gesetzesentwurf sah zwar bereits die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht vor, in den weiterführenden Entwürfen wurde aber mangels politischem Konsens von einer Impfpflicht abgesehen.* Es war selbst für damalige Standards kein modernes Seuchengesetz, auch zwei Novellen brachten keine wesentlichen inhaltlichen Veränderungen und auch keine Impfpflicht. Bis zum Anschluss an das Deutsche Reich wurde lediglich für gewisse Angehörige des Militärs eine Impfpflicht normiert.* Im Zuge dieser Einführung wurde auch eine allgemeine Impfpflicht erneut diskutiert, ein entsprechender Entwurf konnte jedoch aufgrund der politischen Ereignisse nicht mehr zum Gesetz erhoben werden.*
Mit der „Einführung reichsrechtlicher Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in der Ostmark vom 14. Juli 1939“ und der Übernahme des deutschen Impfgesetzes 1874 wurde erstmals in Österreich eine allgemeine Impfpflicht gegen Pocken eingeführt. Der § 1 Abs 1 dieser Bestimmung sah vor, dass jedes Kind vor dem Ablauf des Kalenderjahres, das auf das Geburtsjahr folgt, gegen Pocken geimpft werden muss, außer es hat nach ärztlichem Zeugnis bereits die Krankheit überstanden.* Eine weitere Ausdehnung der Impfpflicht auf andere Krankheiten erfolgte jedoch nicht.
Das Rechts-Überleitungsgesetz 1947 setzte erneut das Epidemiegesetz 1913 (in Folge EpiG), erstmals in größerem Umfang novelliert, in Kraft. Vorschriften, die zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten während des Nationalsozialismus bestanden haben, sollten, wenn diese fortschrittlicher waren, in das EpiG eingearbeitet werden. Das EpiG wurde 1950 wiederverlautbart und ist heute noch in Kraft. Der Abschnitt über die „Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten“, der bereits bei der Einführung des EpiG 1913 als veraltet bezeichnet wurde, änderte sich in den der Wiederverlautbarung folgenden Jahrzehnten nicht.*249
Die allgemeine Impfpflicht für Pocken wurde durch das BG vom 30.6.1948 über Schutzimpfungen gegen Pocken (Blattern) übernommen. Die in den §§ 1-3 normierte Impfpflicht erweiterte den verpflichteten Personenkreis um Personen, die in pockengefährdeten Berufen tätig sind. Bei der Einführung des Bundesgesetzes wurde jedoch von der ursprünglich im Entwurf enthaltenen Möglichkeit, die Impfpflicht mittels Verordnung auf andere Krankheiten wie Cholera oder Scharlach auszuweiten, abgesehen. Weitere Gesetze bezüglich Schutzimpfungen regelten bloß die Kostenbestreitung oder dienten der Qualitätssicherung. Die Impfpflicht gegen Pocken wurde erst 1980 aufgehoben. Heutige Impfprogramme stellen bloße Empfehlungen dar. Bei Schäden, die infolge einer empfohlenen Impfung auftreten, besteht eine Ersatzpflicht nach dem ImpfschadensG.* Seit 19.12.2020 ist auch die Schutzimpfung gegen Covid-19 eine Impfung iSd § 1b Abs 2 ImpfschadensG und unterliegt somit der Ersatzpflicht.*
Bevor die grundrechtliche Prüfung einer Impfpflicht vorgenommen wird, soll ein kurzer Überblick über derzeit geltende Normen gegeben werden, die als rechtliche Grundlage einer möglichen unmittelbaren Impfpflicht dienen könnten. Dies umfasst insb das EpiG und diverse Berufs- oder Landesgesetze.
Nach § 17 Abs 3 EpiG können für Personen, die sich berufsmäßig mit der Krankenbehandlung, der Krankenpflege oder Leichenbesorgung beschäftigen und für Hebammen besondere Verkehrs- und Berufsbeschränkungen sowie Schutzmaßnahmen, insb Schutzimpfungen, angeordnet werden. Der § 17 Abs 4 EpiG schafft die Möglichkeit, für die Bezirksverwaltungsbehörde im Einzelfall auch bestimmte gefährdete Personen, außerhalb des Personenkreises des Abs 3, zur Schutzimpfung zu verpflichten. Bei beiden Anwendungsfällen wird jedoch ein konkreter Anlassfall, wie das Auftreten einer meldepflichtigen Krankheit, vorausgesetzt.*
Die Rechtfertigung, eine allgemeine Impfverpflichtung für die in Abs 3 genannten Berufsgruppen beschließen zu können, liegt einerseits in der MultiplikatorInneneigenschaft dieser Berufsgruppen, da diese unter häufigem direkten Menschenkontakt und andererseits oftmals mit vulnerablen Personengruppen arbeiten.*
Die politische Zurückhaltung bezüglich einer Impfpflicht iS von Zwangsmaßnahmen ergibt sich anschaulich aus den Erläuterungen zum Initiativantrag, mit dem der Abs 4 leg cit eingeführt wurde:*
„Festgehalten sei, dass es sich bei einer entsprechenden Anordnung der Bezirksverwaltungsbehörde um die Anordnung einer Behandlungspflicht, nicht jedoch um eine Zwangsbehandlung handelt. Bei Verweigerung der angeordneten Behandlung können – sofern fachlich erforderlich – Quarantänemaßnahmen angezeigt sein, ansonsten kommt die Einleitung eines Verwaltungsstrafverfahrens in Betracht.“
Diverse Berufsgesetze für Gesundheitsberufe, wie das Gesundheits- und KrankenpflegeG, das medizinische AssistenzberufeG oder das HebammenG, beinhalten Bestimmungen, die als Anforderung für Berufsangehörige „die zur Erfüllung der Berufspflichten erforderliche gesundheitliche Eignung“ vorsehen. Eine nähere Definition wird nicht gegeben, jedoch könnte aus berufsrechtlicher Sicht das Vorliegen der gesundheitlichen Eignung auch an den Nachweis von bestimmten Impfungen geknüpft werden. Das Aufnahmekriterium einer MMR-(Masern-, Mumps-, Röteln-)Impfung für die Ausbildung an einer Schule für Gesundheits- und Krankenpflege wird beispielsweise als zulässig angesehen.*
Aufgrund der Kompetenzverteilung nach Art 12 Abs 1 Z 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) ist die Gesetzgebung über die Grundsätze der Heil- und Pflegeanstalten Bundessache und die Ausführung und Vollziehung Landessache. Der Bundesgesetzgeber kann daher vorschreiben, wie eine Krankenanstalt organisatorisch vorzugehen hat, um den gewünschten Behandlungserfolg zu erreichen. Das entsprechende Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz sieht jedoch keine Regelung hinsichtlich einer Impfverpflichtung des Personals vor, daher kann der jeweilige Landesgesetzgeber gem Art 15 Abs 6 B-VG selbst einen gewissen geforderten Impfstatus des Personals von Krankenanstalten festlegen.*250
Einzig das steirische Landesrecht sieht in § 26 Abs 7 Stmk KrankenanstaltenG eine solche Regelung vor:
„Soweit ein bestimmter Immunstatus für die Tätigkeit in einer oder mehreren Organisationseinheiten der Krankenanstalt aus medizinischen, hygienischen oder rechtlichen Gründen geboten ist, ist dafür zu sorgen, dass nur Personal, das über diesen Impfstatus verfügt, dort Zutritt hat. Das gilt auch für auszubildende Personen.“
Mit dieser Regelung wird der Rechtsträger von Krankenanstalten verpflichtet, innerhalb von entsprechenden Risikobereichen sicherzustellen, dass alle dort tätigen Personen einen bestimmten Impfstatus nachweisen. Damit soll gewährleistet werden, dass PatientInnen, insb in Intensiv- oder Chirurgiestationen, vor einer Infektion durch das Krankenanstaltspersonal geschützt sind.* Im Vergleich zu den oben genannten berufsrechtlichen Regelungen umfasst der Geltungsbereich dieser Norm einen weiteren, allgemeineren Personenkreis.
In anderen Bundesländern gibt es bisher keine derartigen Regelungen, jedoch wird von einzelnen Trägern bzw Anstalten im Rahmen von Einstellungen in der Praxis auf einen gewissen Impfstatus abgestellt.
Die obigen historischen Ausführungen und Rechtsgrundlagen belegen die politische Realität, dass einer Impfpflicht auch mehr als 200 Jahre nach den ersten Impfungen mit Vorsicht begegnet wird.
Dem Stufenbau der Rechtsordnung folgend ist für die Beurteilung, ob eine unmittelbare Impfpflicht rechtlich zulässig ist, eine Prüfung anhand der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte (in Folge Grundrechte) notwendig. Grundrechte gelten nur in Ausnahmefällen, beispielsweise das Folterverbot, absolut. Dh Einschränkungen von Grundrechten sind grundsätzlich möglich, wenn dieser Eingriff ein legitimes Ziel verfolgt, zweckmäßig, verhältnismäßig und erforderlich ist.
Auf der einen Seite könnte eine unmittelbare Impfpflicht in die Grundrechte des Einzelnen auf Leben (Art 2 EMRK), auf Privatleben (Art 8 EMRK) oder Religion- und Weltanschauungen (Art 9 EMRK) eingreifen. Andererseits könnte sich gerade aus diesen Grundrechten auch eine positive Handlungspflicht des Staates, eine Impfpflicht einzuführen, um die Gesellschaft vor ansteckenden Krankheiten zu schützen, begründen (dazu unten 3.4.).
Impfungen sind jedenfalls als Eingriff in die körperliche Integrität zu qualifizieren. Der Art 2 EMRK umfasst jedoch nur Fälle, bei denen potenziell lebensgefährdende Umstände hinzutreten. Dies wäre bei Impfungen bei Kontraindikationen des Einzelnen, wie Allergien, denkbar. Nebenwirkungen, die die Schwelle der Lebensgefahr nicht überschreiten, fallen somit nicht in den Schutzbereich des Art 2 EMRK. Der Art 2 EMRK verpflichtet jedoch die Staaten dazu, ein Kontroll- und Überwachungssystem zu implementieren, welches die Prüfung von Kontraindikationen, die Minimierung von Nebenwirkungen und von Todesfällen zum Ziel hat. In Österreich zählen dazu ua das Nationale Impfgremium, das Impfschadensgesetz und die daraus abgeleiteten Ansprüche und das Arzneimittelgesetz.
Eine gesetzliche Impfpflicht stellt daher nicht per se einen Eingriff in das Recht auf Leben dar. In Österreich, aufgrund des Kontroll- und Überwachungssystems, auch dann nicht, wenn vereinzelt Lebensgefahr oder Todesfälle auftreten.*
Der Schutzbereich des Art 8 EMRK ist äußerst weit und umfasst Eingriffe in die Identität, Integrität, Individualität und Selbstbestimmung. Im Hinblick auf medizinische Eingriffe und Behandlungen, wie auch die Impfung, bedeutet dies, dass diese grundsätzlich nur im Konsens mit dem Betroffenen durchgeführt werden dürfen. Eine unmittelbare Impfpflicht verfolgt gerade den Zweck, die Freiwilligkeit auszuschalten und würde daher einen Grundrechtseingriff nach Art 8 Abs 1 EMRK darstellen.*
Auch der Ausschluss aus einer gewissen sozialen Gruppe bzw Bildungseinrichtung von „nicht geimpften“ Personen oder die oben genannte Voraussetzung des § 27 Abs 6 des Stmk KrankenanstaltenG bzw der einzelnen Berufsrechte könnten einen Eingriff in das Privatleben nach Art 8 EMRK darstellen.
Der Art 8 Abs 2 EMRK sieht jedoch zur Zulässigkeit von Eingriffen vor, dass ein Eingriff statthaft ist, insoweit „dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die [...] zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist“.
Zur Rechtsfrage, ob eine Impfpflicht zum Schutz der Gesundheit verhältnismäßig sein kann, hat 251der EGMR bereits in der Rs Solomakhin Stellung genommen. In diesem Fall ging es um die unfreiwillige Impfung gegen Diphterie. Der EGMR entschied, dass der Eingriff in die körperliche Integrität des ukrainischen Beschwerdeführers durch den öffentlichen Gesundheitsschutz und die Verhinderung der Ausbreitung der ansteckenden Krankheit gerechtfertigt ist.*
In die Gedanken- und Gewissensfreiheit würde durch eine allgemein und neutral formulierte Impfpflicht nicht eingegriffen werden. Eine Widersetzung staatlicher Anordnungen aufgrund der Unvereinbarkeit mit dem Gewissen wurde von den Straßburger Organen abgelehnt, soweit das Gesetz allgemein und neutral formuliert sei.*
Bestimmte Glaubens- und Religionsgemeinschaften lehnen Impfungen bzw deren Wirkstoffe ab. Diese Ablehnung könnte als religiöser Gebrauch oder Ritus für diese Personen einen Eingriff in den Schutzbereich nach Art 9 EMRK darstellen. Fraglich ist weiters, ob es möglich ist, Impfskepsis oder -ablehnung auch als Teil einer Weltanschauung zu qualifizieren und die Impfpflicht daher einen Eingriff in die Norm der EMRK darstellen kann. Als Weltanschauung gilt, wenn Überzeugung den Kriterien der Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit und der Anforderung einer zusammenhängenden Sichtweise auf grundlegende Fragen gerecht werden. Eine geschützte Weltanschauung könnte beispielsweise gegeben sein, wenn jeglicher (medizinischer) Eingriff abgelehnt wird und das gesamte Leben danach ausgerichtet wird. Die bloße Meinung, dass Impfungen nur den Pharmakonzernen nützen, erfüllt die gestellten Anforderungen nicht. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat 1998 in ihrer Entscheidung Boffa und 13 anderen gegen San Marino ausgesprochen, dass eine Impfung keinen Eingriff in den Art 9 EMRK darstellen kann, wenn sich diese Maßnahmen nicht spezifisch gegen eine Religion oder Weltanschauung richten. Der Eingriff in die Selbstbestimmung sei vielmehr nach Art 8 EMRK zu prüfen.*
Wie oben unter Pkt 2.2. bereits angemerkt, kann sich aus den Grundrechten, abgesehen vom Schutz vor ungerechtfertigten Eingriffen, auch eine gewisse positive Schutz- bzw Handlungspflicht des Staates zur Implementierung und Kontrolle eines funktionierenden Impfsystems begründen. Eine solche Handlungspflicht lässt sich insb aus den Art 2 und 8 EMRK ableiten, wenn die gewährten Grundrechte durch eine Krankheit gefährdet sind. Die Ermächtigungsbestimmung des § 17 Abs 3 und 4 EpiG ist Ausdruck dieses Schutzgedankens. Konkrete Vorgaben bei der Bekämpfung von Krankheiten sehen die Grundrechte nicht vor, daher bleibt den Staaten ein großer Handlungsspielraum.
Wenn Impfungen ein probates Mittel im Kampf gegen eine entsprechende Krankheit sind und durch freiwillige Maßnahmen die notwendige Durchimpfungsrate und der Schutz vulnerabler Gruppen nicht erreicht wird oder nicht erreicht werden kann, könnte die Einführung einer Impfpflicht gefordert sein.*
Ein Grundrechtseingriff kann nur zulässig sein, wenn dieser Eingriff ein legitimes Ziel verfolgt, zweckmäßig, verhältnismäßig und erforderlich ist. Fraglich ist, ob auch der massive Eingriff einer Impfpflicht einen zulässigen Eingriff darstellen kann.
Die einzelnen Artikel der EMRK zählen selbst auf, welche Ziele einen Eingriff in das jeweilige Grundrecht legitimieren können. Eine etwaige Impfpflicht könnte sich auf folgende in Art 8 und 9 EMRK genannte Gründe stützen: vorrangig „zum Schutz der Gesundheit“ und „zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“, außerdem das „wirtschaftliche Wohl des Landes“ und die „Verhinderung strafbarer Handlungen“.* *
Eine Impfpflicht verfolgt das Ziel, eine möglichst hohe Durchimpfungsrate sicherzustellen und damit einer weiteren Verbreitung einer ansteckenden Krankheit entgegenzuwirken. Sie dient daher vorrangig dem Zweck der öffentlichen Gesundheit. Eine Impfpflicht kann daher jedenfalls als geeignete Maßnahme zur Sicherstellung einer hohen Durchimpfungsrate angesehen werden. Beispielhaft für die Zweckmäßigkeit und Eignung ist die Impfpflicht gegen die Pocken, durch welche die Krankheit 1980 weltweit ausgerottet wurde.*252
Ob das Kriterium der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffes erfüllt ist, hängt vorrangig davon ab, ob gelindere, weniger invasive Maßnahmen zur Verfügung stehen, die genauso das angestrebte Ziel erreichen können. Nur die Maßnahme, die am wenigsten in das Grundrecht eingreift, ist zulässig. Im Fall einer direkten Impfpflicht könnten diese alternativen Maßnahmen in beispielsweise Beschränkungen ein Anreizsystem bei freiwilliger Impfung oder die Bindung an staatliche Leistungen, wie bei den verpflichteten „Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen“,* bestehen.
Weiters kann ein Eingriff nur zulässig sein, wenn dieser angemessen ist. Dies bedeutet, dass das verfolgte Ziel (Interesse des Staates) mit dem beschränkten Grundrecht (Interesse des Einzelnen) abgewogen wird.
Die grundrechtliche Prüfung einer Impfpflicht muss bezüglich jeder Krankheit individuell durchgeführt werden, da die entscheidenden Faktoren variieren können. Je intensiver der Eingriff, desto größer muss der daraus gezogene Nutzen sein. Bei Impfungen hängt die Intensität insb von der Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen, Folgeschäden oder individuellen Kontraindikationen ab. Besteht bei einzelnen Impfstoffen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit auf schwere Nebenwirkungen gegenüber anderen gleichwirksamen Impfstoffen, können diese nicht den gelindesten und damit zulässigen Eingriff darstellen. Daher ist für Personenkreise mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf Kontraindikation eine Impfpflicht wohl nur mit dem „risikofreiesten“, verfügbaren Impfstoff denkbar.
Je ansteckender und je schwerer ein durchschnittlicher Verlauf und etwaige Folgeschäden bei einer bestimmten Krankheit sein können, desto eher sind stark invasive Maßnahmen, wie eine unmittelbare Impfpflicht, legitim. Ausschlaggebend für die Wertung der Ansteckbarkeit ist insb, ob die Krankheit von Mensch zu Mensch übertragen werden kann.
Je wirksamer eine Impfung gegen die Krankheit und auch etwaige Mutationen dieser ist, desto eher wird eine Impfpflicht zulässig sein. Die Wirksamkeit bei Impfungen hängt von der erreichten Quote an Immunisierung bzw Milderung von Krankheitsverläufen und der Verhinderung von Ansteckungen ab.
Eine unmittelbare Impfpflicht stellt jedenfalls einen Eingriff in diverse Grundrechte (siehe oben 3.1.–3.3.) dar. Ein solcher Eingriff kann gerechtfertigt sein, wenn die Abwägung einzelner Faktoren hinsichtlich der Interessen des Staates bzw der Allgemeinheit ausfällt. Weiters leitet sich aus den Art 2 und 8 EMRK auch eine positive Pflicht des Staates ab, die Bevölkerung wirksam vor Krankheiten zu schützen.
Eine pauschale Beantwortung der Frage der Zulässigkeit einer Impfpflicht ist unmöglich. Für jede Krankheit muss eine eigenständige Beurteilung vorgenommen werden. Eine unmittelbare Impfpflicht ist jedoch nur bei außerordentlich ansteckenden und schweren Krankheiten denkbar.*
In Hinblick auf Covid-19 erscheint derzeit* eine unmittelbare Impfpflicht mE jedenfalls unverhältnismäßig. Die Erklärung der noch niedrigen Durchimpfungsrate liegt nicht in der Ablehnung der Impfungen durch die Bevölkerung, sondern vielmehr in der mangelnden Verfügbarkeit der Impfdosen. Außerdem ist die unterschiedliche Wirksamkeit der verschiedenen Impfstoffe hinsichtlich der Mutationen und der Verhinderung der weiteren Übertragung für die Zulässigkeit einer Impfpflicht jedenfalls beachtlich.*
Da die Maßnahmen gegen Covid-19 so massiv sind und die gesamte Bevölkerung betreffen, ist eher davon auszugehen, dass ein hohes Problembewusstsein und auch eine große Impfbereitschaft in der Bevölkerung besteht. Ein weiterer Impfanreiz kann durch weniger invasive Maßnahmen, wie den in der EU angedachten „Grünen Pass“, gegeben werden.* Derzeit hat auch noch kein europäisches Land eine Impfpflicht gegen Covid-19 eingeführt.*
Bereits ein Blick auf andere europäische Staaten zeigt, dass es hinsichtlich der Ausgestaltung einer Impfpflicht drastische Unterschiede gibt. Derzeit gibt es in Europa in 12 Ländern eine Impfpflicht und in 17 Ländern bloß freiwillige Impfungen.* Eine Definition von „Impfpflicht“ wird jedoch auch auf der Homepage des european centre for disease prevention and control (ECDC) nicht gegeben. Daher ist ein Vergleich ausschließlich aufgrund der Zuordnung der ECDC zu kurz gegriffen.
Beispielhaft für eine äußerst strenge Impfpflicht ist Italien. Im Zuge eines massiven Ausbruchs der Masern wurde gegen diese Krankheit eine Impfpflicht eingeführt. Kinder müssen bis zum 6. Le253bensjahr geimpft werden, ansonsten werden diese Kinder nicht in Krippen, Kindergärten oder Vorschulklassen aufgenommen. Eltern von nicht geimpften, schulpflichtigen Kindern müssen hohe Bußgelder zahlen.*, * Diese Impfpflicht wurde um zahlreiche Krankheiten ausgeweitet.* Kürzlich wurde in Italien auch eine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal eingeführt.*
Studien aus Italien und Frankreich zeigen, dass nach Einführung der Impfpflicht nicht nur die Durchimpfungsrate der verpflichteten Impfungen gestiegen ist, sondern auch teilweise bei Impfungen gegen Krankheiten, die keiner Pflicht unterliegen.*
Faktisch sind in Österreich derzeit nur gewisse Berufsgruppen im Gesundheitsbereich von einer Impfpflicht umfasst. Jedoch bestehen in der österreichischen Rechtsordnung auch rechtliche Grundlagen für eine allgemeine Impfpflicht. Diese Ermächtigungsnormen des EpiG sind umfassender, als der politische und mediale Diskurs über das Thema Impfpflicht vermuten lassen würde. Aus der historischen Betrachtung zeigt sich, dass seit jeher Teile der Gesellschaft Impfungen skeptisch gegenüberstehen und sich die Politik auch an dieser Skepsis orientiert oder zumindest mit dieser arrangiert.
Die grundrechtliche Betrachtung einer Impfpflicht zeigt, dass die Grundrechte einer Impfpflicht nicht grundsätzlich entgegenstehen, sondern diese unter gewissen Umständen sogar den Staat zur Einführung einer solchen verpflichten könnten. Hinsichtlich Covid-19 scheint jedoch eine Impfpflicht derzeit nicht gerechtfertigt. Sollte sich trotz verfügbarem und wirksamen Impfstoff keine hohe Durchimpfungsrate und daher auch keine Herdenimmunität abzeichnen, müsste eine neuerliche grundrechtliche Prüfung vorgenommen werden. Bei der Beurteilung ist jedenfalls zu berücksichtigen, dass die Covid-19-Pandemie in Österreich und weltweit massivste soziale und ökonomische Folgen hat, deren Dauer und Intensität insb durch die Mutationen ungewiss ist. All diese Faktoren sind – sofern ausreichend Impfstoff verfügbar ist – bei einer Neubeurteilung zu berücksichtigen, wobei eine unmittelbare Impfpflicht nur die Ultima Ratio darstellen kann. Wenn freiwillige oder weniger invasive Maßnahmen, wie beispielsweise „indirekter“ Druck durch Reise- und Zutrittsfreiheiten für geimpfte Personen, zu einer ähnlich hohen Durchimpfungsrate führen, sind bloß die gelindesten Maßnahmen zulässig.
Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass das Thema Impfpflicht in anderen Staaten nicht tabuisiert, sondern, trotz bestehender Kritik, als wirksames Mittel zur Sicherung einer hohen Durchimpfungsrate herangezogen wird.
Eine wirksame Impfstrategie, die auf Freiwilligkeit beruht, fordert und verpflichtet den Staat jedoch dahingehend, dass dieser die notwendige Infrastruktur für Impfungen bereitzustellen hat. Dies umfasst insb die Sicherstellung der Verfügbarkeit von Impfdosen, eine soziale Kostengestaltung oder gänzliche Übernahme der Kosten bei gewissen Impfungen und ein hohes Maß an Aufklärung durch alle Gesellschaftsschichten bezüglich der Wirksamkeit und etwaiger Risiken von Impfungen.