34Anwendbarkeit des § 10 ArbVG bei Mischverwendung im privaten Haushalt
Anwendbarkeit des § 10 ArbVG bei Mischverwendung im privaten Haushalt
Die behördliche Festsetzung eines Mindestlohntarifs soll nur einen fehlenden Kollektivvertragspartner auf AG-Seite ersetzen, nicht jedoch einen vorhandenen, aber nicht abschlussbereiten Partner zu Verhandlungen zwingen.
Die Frage nach den Grenzen einer Kollektivvertragsfähigkeit ist immer ident mit der Frage, für welche Arten von Arbeitsverhältnissen die betreffende Körperschaft auf AG-Seite berechtigt wäre, Kollektivverträge abzuschließen.
Nach § 10 ArbVG gilt bei einer Kollision von Kollektivverträgen der (im Gegensatz zu § 9 Abs 1 und 2 auch in § 9 Abs 3 ArbVG zum Ausdruck kommende) Grundsatz der Tarifeinheit in Bezug auf das einzelne Arbeitsverhältnis. Es gilt der KollV jenes Betriebs, in dem der AN überwiegend seine Beschäftigung ausübt.
Der Ordnungsgedanke des § 10 ArbVG kann auch für den Fall fruchtbar gemacht werden, in dem sich bei einem einheitlichen Arbeitsverhältnis ein von einem Mindestlohntarif erfasster Bereich und ein kollektivvertragsfreier Bereich gegenüberstehen. Ein Mindestlohntarif schlägt jedenfalls gegenüber einem kollektivvertragsfreien Raum durch, der an eine nicht maßgebliche Teiltätigkeit anknüpft.
[...]
Der Bekl betreibt in einem Objekt mit 340 m2 Nutzfläche, das zugleich seine Privatwohnung ist, eine Zahnarztordination. Im März 2015 vereinbarten die Parteien, dass die Kl ab 24.3.2015 für den Bekl zu einem monatlichen Entgelt von 540 € für 16 Stunden pro Woche als Raumpflegerin tätig sein sollte. Der Bekl trug der Kl auf, in der Ordination acht Stunden in der Woche und die übrigen acht Stunden für seine Mutter in deren Haus sowie deren Wohnung zu arbeiten. Zu Beginn des Dienstverhältnisses arbeitete die Kl zweimal die Woche in der Ordination des Bekl und einmal in der Woche bei der Mutter. Nach einigen Monaten ersuchte der Bekl die Kl, zukünftig zweimal pro Woche zur Mutter zu fahren und dort Einkäufe durchzuführen und den Haushalt zu erledigen. So arbeitete die Kl bis Ende September 2015 dreimal die Woche, manchmal auch viermal die Woche für den Bekl; ab Oktober 2015 arbeitete sie stets vier Tage die Woche für ihn. In der Ordination des Bekl putzte sie sowohl die Ordinations- als auch die Privaträumlichkeiten, die dem Bekl als Wohnung dienten, darunter auch die offene Küche, die in der Ordination als Sozialraum fungierte. In diesen zweimal vier Stunden pro Woche, welche die Kl beim Bekl in der Ordination tätig war, wusch sie 334 auch die weiße Wäsche, bügelte die Arbeitshose des Bekl sowie die privaten Überzüge für die Bettwäsche. Einmal wöchentlich ging die Kl mit dem Bekl einkaufen, Mineralwasser manchmal auch alleine. Weiters reinigte sie die privat genutzte, 90 m2 große Terrasse des Bekl, brachte den Abfall zum Müllcontainer und holte die Post ab. Bei der Mutter räumte die Kl auf, ging einkaufen, zur Bank und zur Post und mit der Katze zum Tierarzt. Weiters wusch sie die Wäsche der Mutter.
Am 30.1.2017 beendeten die Parteien das Dienstverhältnis einvernehmlich. Dabei wurde nicht vereinbart, dass mit der einvernehmlichen Auflösung alle wechselseitigen Ansprüche aus dem Dienstverhältnis bereinigt und verglichen sind und die Kl daher keine Ansprüche aus dem Dienstverhältnis mehr geltend machen kann.
Die Kl begehrte Leistung, weil sie deutlich überwiegend als Hausgehilfin im Haushalt des Bekl bzw dessen Mutter eingesetzt gewesen sei, käme das Hausgehilfen- und Hausangestelltengesetz (HGHAngG) und damit der Mindestlohntarif für im Haushalt Beschäftigte zur Anwendung. Da die Kl unter dem Mindestlohntarif entlohnt worden sei, schulde ihr der Bekl die Differenz. [...]
Das Erstgericht gab der Klage statt. [...] Die Tätigkeit der Kl sei unter das HGHAngG zu subsumieren und der Mindestlohntarif sei anwendbar.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Bekl nur im Kostenpunkt Folge. [...]
Die Revision zur Klarstellung ist zulässig, sie ist allerdings in der Hauptsache nicht berechtigt.
[....]
1.2 Die Bereinigungswirkung eines anlässlich der Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses geschlossenen Vergleichs erstreckt sich im Zweifel auf alle aus diesem Dauerschuldverhältnis entstehenden oder damit zusammenhängenden Rechte und Pflichten (RIS-Justiz RS0032589 [T8]). Diese Bereinigungswirkung tritt selbst dann ein, wenn in den Vergleich keine Generalklausel aufgenommen wurde; sie umfasst auch solche Ansprüche, an welche die Parteien im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses zwar nicht gedacht haben, an die sie aber denken konnten (RS0032589 [T11]; RS0032470).
1.3 Das Berufungsgericht ging allerdings – im Einklang mit der Aktenlage – davon aus, dass die Parteien anlässlich der einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses am 30.1.2017 gar keinen Vergleich iSd § 1380 ABGB geschlossen haben: Die vom Bekl in erster Instanz noch behauptete mündliche Vereinbarung, dass mit der einvernehmlichen Auflösung alle wechselseitigen Ansprüche aus dem Dienstverhältnis bereinigt und verglichen seien, liegt nach den Feststellungen nicht vor. Auf einen schriftlichen Vergleich hat sich der Bekl nicht gestützt; ein solcher ist dem Inhalt des schriftlichen Aufhebungsvertrags auch nicht zu entnehmen.
1.3 Die nunmehrigen – offenbar auf einen schlüssigen Vergleichsabschluss abzielenden – Ausführungen des Bekl, der Kl sei eine „gesichtswahrende“ Auflösung zugestanden worden, verstoßen gegen das Neuerungsverbot. Mangels (Abschluss) eines Vergleichs ist für den Bekl aus der zitierten Rsp nichts zu gewinnen.
2.1 Der Bekl wendet sich weiters gegen die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Tätigkeit der Kl in ihrer Gesamtheit dem Mindestlohntarif für im Haushalt Beschäftigte zu unterstellen sei, weil sie unter Berücksichtigung der Reinigungs- und Aufräumarbeiten, die sie im Auftrag des Bekl im Haushalt von dessen Mutter verrichtet habe, jedenfalls mehr als die Hälfte der vereinbarten Arbeitszeit in einem privaten Haushalt (und nicht in der zahnärztlichen Ordination des Bekl) tätig gewesen sei.
2.2 In diesem Zusammenhang versucht der Revisionswerber zunächst, die von den Vorinstanzen festgestellte Tatsachengrundlage in Zweifel zu ziehen. Ein bereits vom Berufungsgericht verneinter Verfahrensmangel kann aber ebenso wenig wie eine mangelhafte oder unzureichende Beweiswürdigung im Revisionsverfahren angefochten werden (vgl RS0042963; RS0043371), wie der Bekl ohnehin selbst zu erkennen scheint.
2.3 Im Übrigen spricht der Bekl in diesem Zusammenhang allerdings vom OGH bislang nicht ausdrücklich geklärte Rechtsfragen an.
3.1 Der Mindestlohntarif für im Haushalt Beschäftigte kommt nach dessen § 1 Z 2 lit b ua auch auf AN zur Anwendung, die nicht unter das HGHAngG fallen, jedoch bei AG, für die keine kollektivvertragsfähige Körperschaft besteht oder die nicht selbst kollektivvertragsfähig sind, einschlägige Reinigungs- und Aufräumungsarbeiten verrichten oder die im Auftrage solcher AG bei dritten Personen diese Arbeiten in privaten Haushalten verrichten
3.2.1 Der Bekl wendet nun ein, der Mindestlohntarif sei hier schon deshalb nicht anwendbar, weil er als Zahnarzt einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft, der Österreichischen Zahnärztekammer, angehöre, auch wenn auf das Arbeitsverhältnis der Kl konkret kein KollV zur Anwendung gelangt.
3.2.2 Ein Mindestlohntarif darf nach § 22 Abs 3 Z 1 ArbVG nur für AN-Gruppen festgesetzt werden, für die ein KollV nicht abgeschlossen werden kann, weil kollektivvertragsfähige Körperschaften auf AG-Seite nicht bestehen. Bereits der Bestand einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft der AG allein ist ausschlaggebend dafür, dass eine Festsetzung von Mindestlohntarifen nicht mehr erfolgen kann, gleichgültig, ob auch tatsächlich ein KollV abgeschlossen wurde oder nicht. Die behördliche Festsetzung eines Mindestlohntarifs soll nur einen fehlenden Kollektivvertragspartner auf AG-Seite ersetzen, nicht jedoch einen vorhandenen, aber nicht abschlussbereiten Partner zu Verhandlungen zwingen (8 ObA 338/98h; 9 ObA 43/05x; Mosler in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht Bd 25 [2015] § 22 Rz 21).
Bereits in der Entscheidung 8 ObA 338/98h hat der OGH festgehalten, dass zu prüfen ist, ob sich der räumliche, persönliche und fachliche Geltungsbereich der Kollektivvertragsfähigkeit des AG-Verbands auch auf den betroffenen AN erstreckt.
In diesem Sinne führt auch Schrammel (Rechtsfragen des Mindestlohntarifs, ZAS 2005/34 [196 f]) aus, dass dann, wenn sich die Kollektivvertragszuständigkeit des Verbands nicht auf alle geschäftlichen Aktivitäten der Verbandsmitglieder erstreckt, diese hinsichtlich dieser Betätigungen von keinem 335 KollV erfasst seien. Bestehe auch keine andere „zuständige“ Berufsvereinigung, seien die Voraussetzungen für die Erlassung eines Mindestlohntarifs bezüglich der „kollektivvertragsfreien“ Arbeitsverhältnisse (Fehlen einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft) gegeben.
In der Entscheidung 9 ObA 43/05x hat der OGH – unter Bezugnahme auf die Entscheidungsbesprechung von Strasser zu 8 ObA 338/98h (in ZAS 2000/15) – weiter präzisiert, dass die Frage nach den Grenzen einer Kollektivvertragsfähigkeit immer ident mit der Frage ist, für welche Arten von Arbeitsverhältnissen die betreffende Körperschaft auf AG-Seite berechtigt wäre, Kollektivverträge abzuschließen. Dies führt – so der 9. Senat – zur weiteren Frage, inwieweit die Mitglieder der Körperschaft in dieser ihrer Eigenschaft als AG auftreten bzw aufzutreten berechtigt sind.
3.2.3 Der Österreichischen Zahnärztekammer obliegt gem § 17 Abs 1 ZÄKG die berufliche Vertretung der Angehörigen des zahnärztlichen Berufs und des Dentistenberufs. Sie ist nach § 18 Z 1 ZÄKG berufen, die gemeinsamen beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Belange der Kammermitglieder wahrzunehmen und zu fördern. § 19 Abs 1 Z 2 ZÄKG berechtigt sie zum Abschluss von Kollektivverträgen als gesetzliche Interessenvertretung auf AG-Seite.
3.2.4 Für den Anlassfall folgt daraus, dass eine Kollektivvertragszuständigkeit der Österreichischen Zahnärztekammer nur insoweit vorliegt, als der bekl AG in seiner Eigenschaft als Mitglied der Zahnärztekammer berechtigt war, den Arbeitsvertrag mit der klagenden Raumpflegerin abzuschließen. Für Arbeitsverträge, die die Reinigung der Betriebsund Geschäftsräumlichkeiten betreffen, ist dies der Fall. Hingegen unterliegen Arbeitsverträge, die die Reinigung im Haushalt des Bekl selbst und dessen Mutter zum Gegenstand haben, nicht der Kollektivvertragszuständigkeit der Kammer.
3.3 Hier stellt sich das (nicht geregelte) Problem, dass das (einheitliche) Arbeitsverhältnis der Kl in dieser Hinsicht zweigeteilt ist. Um dieses Problem zu lösen, bietet sich ein Rückgriff auf § 10 ArbVG an. Während die vom Berufungsgericht herangezogene Bestimmung des § 9 Abs 3 ArbVG sogenannte Mischbetriebe betrifft, regelt § 10 ArbVG Mischverwendungen. Nach § 10 ArbVG gilt bei einer Kollision von Kollektivverträgen der (im Gegensatz zu § 9 Abs 1 und 2 auch in § 9 Abs 3 ArbVG zum Ausdruck kommende) Grundsatz der Tarifeinheit in Bezug auf das einzelne Arbeitsverhältnis (Resch in Jabornegg/Resch, ArbVG [2019] § 10 Rz 1). Es gilt der KollV jenes Betriebs, in dem der AN überwiegend seine Beschäftigung ausübt.
3.4 Der Ordnungsgedanke des § 10 ArbVG kann auch für die vorliegende Konstellation fruchtbar gemacht werden, in der sich bei einem einheitlichen Arbeitsverhältnis ein von einem Mindestlohntarif erfasster Bereich und ein kollektivvertragsfreier Bereich gegenüberstehen, wobei nach den Feststellungen die Beschäftigung der Kl in ersterem überwiegt. Da nach der Rsp ein für die AN des wirtschaftlich maßgeblichen Betriebsbereichs anzuwendender Mindestlohntarif in analoger Anwendung des § 9 Abs 3 ArbVG einen für die AN des wirtschaftlich untergeordneten Bereichs geltenden KollV verdrängt (RS0050861; RS0126333; Pfeil in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht Bd 25 [2015] § 9 Rz 27 mwN; aA Resch in Jabornegg/Resch, ArbVG [2019] § 9 Rz 33), muss umso mehr der Mindestlohntarif gegenüber einem an eine nicht maßgebliche Teiltätigkeit anknüpfenden kollektivvertragsfreien Raum durchschlagen. In analoger Anwendung des § 10 ArbVG ist hier daher das gesamte Arbeitsverhältnis dem Mindestlohntarif für im Haushalt Beschäftigte zu unterstellen. Die Kollektivvertragszuständigkeit der Zahnärztekammer für die bloß untergeordnet ausgeübte Beschäftigung der Kl für einen „anderen Betrieb“ schadet nicht. Die Frage, ob der Mindestlohntarif den kollektivvertragsfreien (allerdings in die Kollektivvertragszuständigkeit der Österreichischen Zahnärztekammer fallenden) Bereich aufgrund des sozialen Schutzprinzips (vgl allerdings zum „Mischbetrieb“ 9 ObA 139/05i) auch dann verdrängen würde, wenn letzterer überwiegen würde – dies vor dem Hintergrund der Bestimmung des § 22 Abs 3 Z 1 ArbVG – braucht im vorliegenden Fall nicht beantwortet zu werden.
4. Daraus folgt, dass das Berufungsgericht zu Recht auf das gesamte Arbeitsverhältnis den Mindestlohntarif für im Haushalt Beschäftigte zur Anwendung gebracht hat. Der Revision war daher in der Hauptsache nicht Folge zu geben.
[...]
Die vorliegende Entscheidung behandelt einen Ausschnitt aus dem großen Themenbereich der Normenkollision unterschiedlicher überbetrieblicher kollektiver Rechtsquellen und zwar einerseits im Mischbetrieb, also innerhalb eines Betriebs (bzw organisatorisch und fachlich abgegrenzter Betriebsabteilung oder einem Haupt- und Nebenbetrieb) und andererseits bei Mischverwendung, wenn also der AN seine Beschäftigung in unterschiedlichen Betrieben ausübt. An sich betrifft der konkrete Sachverhalt eine Mischverwendung, die Wertungen des § 9 ArbVG zum Mischbetrieb spielen allerdings für die Lösung der Rechtsfragen der Mischverwendung eine nicht unwesentliche Rolle. Der Entscheidung ist im Ergebnis beizupflichten, ihre Begründung regt allerdings in einem Punkt zu Widerspruch an.
§ 9 Abs 3 ArbVG verwirklicht auf Betriebsebene (bzw auf Ebene einer organisatorisch und fachlich abgegrenzten Betriebsabteilung oder eines Hauptund Nebenbetriebs) im Mischbetrieb für das Zusammentreffen von Kollektivverträgen den Grundsatz der Tarifeinheit und verfolgt dabei sichtlich unterschiedliche Normzwecke (ausführlich mwN Strasser, Zur Kollektivvertragsregelung im Mischbetrieb 336 mit überwiegendem kollektivvertragsfreien Bereich, FS Krejci [2001] 1693 [1704 ff]; Resch, Unionsrecht und Tarifeinheit im Mischbetrieb, FS Marhold [2020] 197 [198 ff]; weiters ders in Jabornegg/Resch/Födermayr [Hrsg], ArbVG § 9 Rz 2):
Zentraler Normzweck ist das soziale Schutzprinzip. Durch die Instrumente der generellen Regelung von Arbeitsbedingungen soll entweder durch Verhandlungen zwischen einigermaßen sozial gleich starken Kollektivvertragsparteien oder durch staatliche der Objektivität verpflichtete Behörden den Gefährdungen der einzelnen AN beim Einzelvertragsabschluss wirksam begegnet werden. Die Regelung dient aber auch der Wahrung des betrieblichen Friedens: Strasser (in FS Krejci 1707 FN 35) erinnert daran, dass die Handhabung verschiedener Kollektivverträge innerhalb eines Betriebs stets Unzufriedenheit hervorruft, weil sich die AN in erster Linie einem Betrieb zugehörig fühlen und unterschiedliche Kollektivverträge innerhalb eines Betriebs als ungerecht empfinden würden. Der Gesetzgeber verfolgt insb auch das Prinzip der fachlichen Adäquanz: Nach § 9 Abs 3 ArbVG wird jener KollV für anwendbar erklärt, der für den fachlichen Wirtschaftsbereich gilt, der für den Betrieb die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat.
Der Gesetzgeber trifft mit § 9 ArbVG die ordnungspolitische Entscheidung, welcher KollV bei fachlich bedingten Kollisionsfällen zur Anwendung gelangen soll. Dabei spielen sichtlich Praktikabilitätsüberlegungen eine wesentliche Rolle (Resch in Jabornegg/Resch/Födermayr [Hrsg], ArbVG § 9 Rz 2): Dies zeigt nicht nur die subsidiäre Regelung in § 9 Abs 4 und § 10 Abs 2 ArbVG, die schlicht auf die Kopfzahl an AN abstellen, welche der KollV österreichweit erfasst, sondern auch das Abstellen auf bestimmte in der Praxis für die beteiligten Verkehrskreise einigermaßen gut feststellbare Organisationseinheiten (Betrieb bzw die gleichgestellten Organisationseinheiten) in § 9 ArbVG, innerhalb derer Tarifeinheit zu gelten hat. Innerhalb der angesprochenen Organisationseinheit soll die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung darüber entscheiden, welche überbetriebliche kollektive Rechtsquelle für die gesamte Organisationseinheit gelten soll. Bei dieser ordnungspolitischen Entscheidung, welcher KollV zur Anwendung gelangt, spielen – da es sich um das Verhältnis von Normen gleicher Ebene zueinander handelt – Fragen der Günstigkeit keine Rolle (etwa Resch, aaO Rz 6), während dem Gesetzgeber demgegenüber die fachliche Adäquanz als wichtiges Entscheidungskriterium erscheint.
Die spannende Frage, die auch für das vorliegende Verfahren als Vorfrage entscheidend ist, ist nun die, inwieweit die an sich für Kollektivverträge normierten bzw von der Judikatur entwickelten Grundsätze auf andere überbetriebliche Normen der kollektiven Rechtsgestaltung (analog) anzuwenden sind, soweit bei Satzung und Mindestlohntarif vergleichbare gesetzliche Bestimmungen fehlen, obwohl diese Normen die Aufgabe haben, das Fehlen eines KollV zu substituieren. Der Umstand, dass entsprechende gesetzliche Regelungen zu Satzung und Mindestlohntarif fehlen, hat möglicherweise seinen Grund darin, dass diese Normen im Vergleich zum KollV in der Praxis die große Ausnahme darstellen und daher vom Gesetzgeber eine ausdrückliche gesetzliche Regelung dieser Sonderfälle für nicht notwendig erachtet worden ist. Dies darf aber mE keinesfalls zu einem Gegenschluss veranlassen. Vielmehr besteht kein sachlicher Grund, warum für die den KollV substituierenden Normen in den in den §§ 9 f ArbVG geregelten Kollisionsfällen ein im Vergleich zu diesen Regelungen abweichendes Ordnungssystem greifen soll. Sachliche Gründe sprechen damit vorerst einmal für eine analoge Anwendung der §§ 9 f ArbVG.
Eine solche Analogie ist in einem ersten Schritt für jene Fallgruppen vorbehaltlos zu erwägen, wo überbetriebliche kollektivrechtliche Normen gleicher Rechtsnatur miteinander kollidieren (wenn also jeweils unterschiedliche Satzungen aufeinandertreffen oder unterschiedliche Mindestlohntarife aufeinandertreffen): Geht es um den betrieblichen Anwendungsbereich von konkurrierenden Satzungen oder Mindestlohntarifen, die ihrerseits den KollV substituieren, wird bei Fehlen einer gesetzlichen Regelung für diese Normen von einer planwidrigen Lücke auszugehen sein, die mit einer Analogie zu den §§ 9 und 10 ArbVG zu füllen ist, womit eine Rechtslage sichergestellt wird, die das vom Gesetzgeber im Kollektivvertragsrecht geschaffene Ordnungssystem wahrt.
Dagegen sind die weiteren Problembereiche durchaus umstritten.
Noch im Rahmen des Wortlauts des § 9 ArbVG lösbar ist der Fall, wo in jenem Bereich eine überbetriebliche kollektivrechtliche Regelung fehlt, der nicht die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat: Gem § 9 Abs 3 ArbVG gilt dann der KollV jenes Bereichs, der die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat, für den gesamten Betrieb. Es kann ausgehend vom Normzweck keinen Unterschied machen, ob für den untergeordneten Bereich ein KollV besteht (der ohnehin nicht zur Anwendung gelangen würde) oder nicht. Für den KollV ist diese Rechtsfolge noch unmittelbar aus dem Wortlaut des § 9 Abs 3 ArbVG ableitbar.
Fehlt dagegen in jenem Bereich, der die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat, eine überbetriebliche kollektivrechtliche Regelung, wird es schwieriger: 337
Man könnte nun auch hier § 9 Abs 3 ArbVG dergestalt analog anwenden, als man bei Fehlen einer Regelung im Bereich der maßgeblichen Teiltätigkeit quasi negativ eine Art Nichttarifeinheit vertritt (idS Friedrich, ZAS 2007, 39; Marhold/Friedrich, Arbeitsrecht3 [2016] 499). Diesem Lösungsvorschlag, der den fehlenden KollV einem fachlich anwendbaren KollV gleichsetzt, ist der OGH nicht gefolgt.
Der OGH hat in einem ein großes Linzer Studentenheim betreffenden Verfahren diese Rechtsfrage so entschieden, dass abweichend vom Lösungsmodell des § 9 Abs 3 ArbVG einheitlich jener KollV im gesamten Betrieb zur Anwendung gelangt, der für den (wirtschaftlich) nicht überwiegenden Bereich fachlich anwendbar ist (OGH9 ObA 139/05iDRdA 2007/38, 334 [Kallab] = ZAS 2007/5, 29 [abl Friedrich]). Der OGH begründet dies unter Hinweis auf Strasser im Wesentlichen mit dem sozialen Schutzprinzip, demzufolge kollektivvertragsfreie Räume nach Möglichkeit zu vermeiden sind, sowie dem im Gesetz selbst zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Tarifeinheit und dem Umstand, dass das Gesetz damit vor allem auch die Wahrung des betrieblichen Friedens bezweckt.
Eine mE sehr klare dogmatische Begründung für diese Lösung hat in der Folge Jabornegg (DRdA 2012, 403) herausgearbeitet. Er weist darauf hin, dass gar kein Fall einer Kollision verschiedener kollektiver Rechtsgestaltungen vorliegt und daher das grundsätzliche Ordnungsanliegen des § 9 Abs 3 ArbVG, zur Wahrung der Tarifeinheit im Mischbetrieb einen von mehreren potentiell anwendbaren Kollektivverträgen als insgesamt maßgebenden auszuwählen, von vornherein nicht zutrifft. Daher muss sE konsequent fortgedacht die verbindliche Vorgabe der Tarifeinheit im ganzen Mischbetrieb bei Vorhandensein nur eines KollV ohne weitere Berücksichtigung der wirtschaftlichen Maßgeblichkeit des damit erfassten Betriebsbereichs zu dessen Anwendung im ganzen Betrieb führen. Dogmatisch deutet Jabornegg dieses Ergebnis mit der Berufung auf die dem I. Teil des ArbVG insgesamt zugrundeliegenden Prinzipien des sozialen Schutzzwecks und der Tarifeinheit rechtsmethodisch „als Rechtsanalogie zur Gesamtregelung des Rechts der kollektiven Rechtsgestaltung“. Der Lösung des OGH ist unter Einschluss der vertiefenden Überlegungen von Jabornegg zuzustimmen. Der OGH hat diese Entscheidung in der Folge bestätigt (OGH8 ObA 35/13z ARD 6366/4/2013; OGH9 ObA 126/19y Arb 13.639), auch der VwGH (20.2.2008, 2006/08/0268 zu einem Mischbetrieb bestehend aus Bar und Casino) hat sie geteilt und sie fand auch in der ganz überwiegenden Lehre Zustimmung (etwa Kallab, DRdA 2007, 336; Jabornegg, DRdA 2012, 403; Reissner in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 [2018] § 9 ArbVG Rz 13; Runggaldier in Tomandl/Risak [Hrsg], ArbVG [3. Lfg], § 9 Rz 13 f; Resch in Jabornegg/Resch/Födermayr [Hrsg], ArbVG [53. Lfg 2019] § 9 Rz 30; Pfeil in Gahleitner/Mosler [Hrsg], Arbeitsverfassungsrecht 26 [2020] § 9 Rz 13 f; Löschnigg, Arbeitsrecht13 [2017] Rz 3/130; Kietaibl, Arbeitsrecht I11 [2020] 237; Födermayr/Resch, Arbeitsrecht7 [2020] Rz 803).
Damit ist noch zu prüfen, ob diese Grundsätze auch dann zur Anwendung gelangen, wenn ein Tätigkeitsbereich ohne Regelung durch kollektive Rechtsgestaltung (KollV, Satzung oder Mindestlohntarif) auskommt, während ein Wirtschaftsbereich zwar keinem KollV, aber im konkreten Fall einer Satzung oder einem Mindestlohntarif unterliegt.
Vergleichsweise klar ist die Lösung jener Fallgruppe, wo der wirtschaftlich maßgebliche Teil des Betriebs einer Satzung oder einem Mindestlohntarif unterliegt und der restliche Bereich (der wirtschaftlich untergeordnete Bereich) nicht. ME kann man hier ohne Weiteres § 9 Abs 3 ArbVG analog anwenden: Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber diesen für Satzung und Mindestlohntarif nicht ausdrücklich geregelten Fall bewusst anders geregelt haben wollte als die Rechtslage beim KollV. Daher erscheint eine analoge Anwendung des hier mE beim KollV nach seinem Wortlaut unmittelbar anwendbaren § 9 Abs 3 ArbVG sachlich geboten, wohingehend eine abweichende Lösung schwer mit dem Ordnungssystem des Kollektivvertragsrechts des I. Teils harmonieren würde.
Für die zweite Fallgruppe (nur der wirtschaftlich nicht maßgebliche Teil hat eine kollektivrechtliche Regelung durch Satzung oder Mindestlohntarif) würde es genügen, die auf die OGH-E vom 25.1.2006, 9 ObA 139/05i, zurückgehende Judikatur sinngemäß zu übertragen: Alle dogmatischen Argumente, die die Richtigkeit der Entscheidung -E vom 25.1.2006, 9 ObA 139/05i absichern (vgl Jabornegg, aaO), gelten in gleicher Weise auch für den Fall, dass eine Satzung oder ein Mindestlohntarif auf einen Bereich ohne kollektivrechtliche Regelung trifft: Es geht auch hier nicht darum, aus mehreren potentiell anwendbaren kollektivrechtlichen Normen eine als insgesamt maßgebende auszuwählen. Der wohl auch hier maßgebliche Grundsatz der Tarifeinheit sowie das dem Gesamtsystem der überbetrieblichen kollektiven Rechtsgestaltung nach dem I. Teil des ArbVG innewohnende soziale Schutzprinzip verlangen die Ausdehnung der Geltung auf der alleinig anwendbaren kollektivrechtlichen Norm auf die gesamte der Tarifeinheit unterliegenden Organisationseinheit.
Für die Frage der Kollision eines Mindestlohntarifs mit einem regelungsfreien Bereich im 338 Mischbetrieb greift der OGH in der vorliegenden Entscheidung auf seine Judikatur zur Kollision von KollV und Mindestlohntarif zurück (RIS-Justiz RS0126333, dem auch die überwiegende Lehre folgt; beachte auch die Splittinglösung von Weiß, Tarifeinheit oder Tarifvielfalt im ungegliederten Mischbetrieb? JBl 1999, 781 [788 f]). Auf den ersten Blick ist dies auch einleuchtend: Wenn es so ist, dass ein Mindestlohntarif, so er im wirtschaftlich überwiegenden Bereich zur Anwendung gelangt, einen KollV aus dem wirtschaftlich nicht überwiegenden Bereich verdrängt (analog § 9 Abs 3 ArbVG), muss dies erst recht dann gelten, wenn im wirtschaftlich nicht überwiegenden Bereich gar keine Regelung besteht.
Dagegen sind bereits an anderer Stelle dargelegte gewichtige Argumente ins Treffen zu führen (bereits Friedrich, ZAS 2007, 38 f; ausführlich mwN dazu Resch, Unionsrecht und Tarifeinheit im Mischbetrieb, FS Marhold 197 [205 ff]): Ein im Kollisionsfall vorgehender Mindestlohntarif würde nicht nur die kollektivvertraglichen Mindestlöhne verdrängen, sondern auch die vielen anderen Regelungen des KollV. KollV und Mindestlohntarif sind insofern überhaupt nicht vergleichbar. § 9 ArbVG will die typischen Inhalte des normativen Teils eines KollV zur Anwendung bringen und entscheidet als Ordnungsvorschrift, welcher der konkurrierenden Kollektivverträge zur Anwendung gelangen soll. Ein bloß auf Analogie beruhender Vorrang des Mindestlohntarifs gegenüber dem KollV gem § 9 Abs 3 ArbVG würde diesen Rechtsgedanken konterkarieren.
Auch der Umstand, dass der AG beim KollV immerhin verbandsangehörig ist und insofern sein Grundrecht auf Koalitionsfreiheit bei der Gestaltung des Inhalts des KollV ausüben kann, spricht gegen eine Verdrängung eines KollV durch einen Mindestlohntarif (dazu nochmals bei der Satzung 5.2.).
Aber auch bei einer Kollision zwischen KollV und Satzung bestehen Bedenken gegen einen Vorrang der Satzung analog § 9 Abs 3 ArbVG: Gegen eine Analogie zu § 9 Abs 3 ArbVG, mit der ein Vorrang einer Satzung zum KollV ausgesprochen wird, spricht, dass damit jener KollV als Satzung anwendbar gemacht wird, dem der AG als Verbandsmitglied gerade nicht angehört, während jener KollV verdrängt wird, dem der AG als Verbandsmitglied angehört (ausführlich Resch, FS Marhold 197 [208 f]): Der vom OGH vertretenen Analogie ist auch nicht zu folgen, sofern man den EuGH ernst nimmt, wenn dieser die dynamische Geltung eines KollV gerade vermeiden möchte, wenn der AG dem abschließenden Verband nicht angehört, weil damit „sein Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit beeinträchtigt werden könnte“. Dem AG muss es „in Anbetracht der unternehmerischen Freiheit möglich sein, im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens, an dem er beteiligt ist, seine Interessen wirksam geltend zu machen und die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner AN bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln“ (vgl EuGH 9.3.2006, C-499/94, Werhof, ECLI:EU:C:2006:168; EuGH 18.7.2013, C-426/11, Alemo-Herron ua, ECLI:EU:C:2013:521; EuGH 27.4.2017, C-680/15 und C-681/15, Asklepios, ECLI:EU:C:2017:317). Gegen eine Analogie zu § 9 Abs 3 ArbVG und für einen Vorrang des KollV des wirtschaftlich untergeordneten Bereichs gegenüber der Satzung sprechen daher die Koalitionsfreiheit (Art 11 EMRK) und das Unionsgrundrecht auf unternehmerische Freiheit (Art 16 GRC).
Interessanterweise betrifft nun der vorliegende Fall nicht den § 9 ArbVG, sondern die in § 10 ArbVG geregelte Tarifeinheit in der Person des AN: Die Kl wird mischverwendet und zwar einerseits in der Zahnarztpraxis (nur für dort angesiedelte Arbeitsverträge wäre die Zahnärztekammer kollektivvertragsfähig) und andererseits im Privathaushalt (für den es einen Mindestlohntarif gibt). Auch im Anwendungsbereich des § 10 ArbVG stellen sich nun vergleichbare Kollisionsprobleme von Normen der kollektiven Rechtsgestaltung, die den KollV substituieren. Völlig überzeugend löst der OGH den Fall, dass ein mischverwendeter AN in einem durch Mindestlohntarif geregelten Bereich und in einem Bereich ohne kollektivrechtlicher Regelung arbeitet, nach den zum Kollektivvertragsrecht herausgearbeiteten Grundsätzen.
Der Begründung kann insoweit nicht gefolgt werden, als diese auf ihrerseits zu kritisierenden Ergebnissen zum Kollektivvertragsrecht aufbaut: Wie oben ausgeführt (5.1.), verdrängt mE der Mindestlohntarif gerade nicht analog § 9 Abs 3 ArbVG den im wirtschaftlich nicht maßgebenden Bereich anzuwendenden KollV.
Der mE korrekte Weg ist schlicht die Übertragung der Judikatur zum Zusammentreffen von KollV und einem ungeregelten Bereich innerhalb eines Mischbetriebs auf den Fall der Mischverwendung. Wieder ist an die von Jabornegg (aaO) herausgearbeitete dogmatische Begründung zu erinnern: Genau genommen liegt gar kein Kollisionsproblem vor, welches unter Anwendung der Regelungen der §§ 9 und 10 ArbVG quasi als Ordnungsvorschrift einer Regelung bedarf. Die Prinzipien des sozialen Schutzzwecks und der Grundsatz der Tarifeinheit führen direkt zum Ergebnis, dass der Mindestlohntarif auch auf den wirtschaftlich nicht maßgebenden ungeregelten Bereich zur Anwendung gelangt. 339