Gräfl/Lunk/Oetker/Trebinger (Hrsg)100 Jahre Betriebsverfassungsrecht
C.H. Beck Verlag, München 2020, XVIII, 854 Seiten, Leinen, € 219,–
Gräfl/Lunk/Oetker/Trebinger (Hrsg)100 Jahre Betriebsverfassungsrecht
Das vorliegende Werk ist eine Festschrift, welche ausnahmsweise keine Person, sondern mit der deutschen Betriebsverfassung eine Kodifikation anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens, würdigt. In über 60 Beiträgen behandeln die AutorInnen umfassend unterschiedliche, aktuelle Aspekte, analysieren historische Entwicklungen des deutschen Betriebsverfassungsrechtes und greifen dabei grundsätzliche wie auch zukunftsorientierte Fragestellungen auf. Jeden dieser Aspekte einzeln darzustellen, würde freilich den Rahmen dieser Buchbesprechung sprengen. In weiterer Folge werden daher nur ausgewählte Abhandlungen und Thesen herausgegriffen und besprochen, die aufgrund der aktuellen Brisanz (insb die zunehmende Digitalisierung durch den vermehrten Einsatz von Home-Office) mE von besonderem Interesse sind.
Rüdiger Krause befasst sich in seinem Beitrag mit der technikbasierten Beschäftigtenkontrolle als Gegenstand der betrieblichen Mitbestimmung, einem Themenbereich, der in einem engen Zusammenhang mit der angesprochenen Digitalisierung steht. Der Beitrag beinhaltet zunächst die historische Entwicklung des hier einschlägigen § 87 Abs 1 Nr 6 BetrVG und zeigt dessen Schutzzweck sowie Interpretationsspielräume auf. Das Ziel der Norm besteht im Persönlichkeitsschutz der AN. Sie umfasst Konstellationen, in denen Persönlichkeitsinteressen der AN durch eine Überwachung mittels technischer Einrichtungen gefährdet werden. Allein eine drohende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechtes der AN führt jedoch nicht zu einem Mitbestimmungsrecht des BR. Der Beitrag stellt im Zusammenhang mit der grundlegenden Beschreibung der Bestimmung auch strukturiert die Rsp des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dar. Nach dieser reicht beispielsweise die objektive Eignung der technischen Einrichtungen zur Kontrolle von Verhalten oder Leistung der AN in Bezug auf die Mitbestimmung des BR aus (BAG AP BetrVG 1972 § 87 Überwachung Nr 2). Subjektive Überwachungsabsichten der AG sind nicht erforderlich. In Bezug auf die Erarbeitung des grundlegenden Verständnisses der Norm bietet sich ergänzend die Lektüre der Beiträge von Susanne Clemenz und Wolfgang Däubler an, die sich ebenfalls mit dem Schutzzweck befassen. Däubler beschreibt den Grundgedanken der Vorschrift als präventiven Schutz der Persönlichkeit der AN durch die Einschaltung einer Kontrollinstanz. Clemenz äußert sich durchaus kritisch gegenüber der Entwicklung der Rsp durch das BAG. Sie beschreibt den ursprünglichen Schutzzweck der Norm, welcher nicht in der Abwehr der abstrakten Gefahr jeder technischen Entwicklung lag, sondern auf die Kontrolle von jener Technik abstellte, die gerade zum Zweck der Überwachung von Verhalten und Leistung der AN eingesetzt werden sollte.
Zieht man in Bezug auf den Grundgedanken der Bestimmung einen Vergleich zur österreichischen Rechtslage, zeigen sich einige Parallelen. So normiert § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG beispielsweise ebenso zustimmungspflichtige Maßnahmen, welche geeignet sind, eine Gefahr für die Persönlichkeitsrechte der AN darzustellen (Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch [Hrsg], Kommentar zum Arbeitsverfassungsgesetz § 96 Rz 1 [Stand 1.12.2012, rdb.at]). Demgegenüber fällt auf, dass die österreichische Bestimmung bereits im Wortlaut auf das „Berühren der Menschwürde“ durch die Maßnahme abstellt (dazu etwa Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG § 96 Rz 136 ff). Nach Krause steht die deutsche Bestimmung in einer Rückanbindung zu den fundamentalen Werten und Zielen des BetrVG, welches im Kern den Schutz der Menschenwürde bezweckt. Selbst wenn dies nicht im Wortlaut der deutschen Norm abgebildet ist, hat diese Nahebeziehung wohl zumindest in Bezug auf die Auslegung der Bestimmung Einfluss. Eine weitere Parallele der beiden Rechtslagen zeigt sich im Kriterium der objektiven Eignung. Die österreichische Rsp sieht die Zustimmungspflicht als gegeben an, wenn technische Systeme objektiv geeignet sind, die Menschenwürde zu berühren (siehe etwa VwGH 11.11.1987, 87/01/0034). Die Kontrollabsicht des Betriebsinhabers ist nicht relevant (Reissner in Neumayr/Reissner [Hrsg], Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht3 [2018] § 96 ArbVG Rz 22). Subjektive Befürchtungen der AN sind demnach nicht maßgeblich, wiewohl dies in der Literatur kritisiert wird (etwa VwGH 11.11.1987, 87/01/0034,
[Teichmann] und Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG § 96 Rz 144). 349Krause beschreibt in weiterer Folge die aktuelle Kritik und weitere Perspektiven in Bezug auf die gegenständliche Vorschrift. Von Bedeutung ist hierbei ua die Rsp des BAG, wonach für die Mitbestimmungspflicht keine Erheblichkeitsschwelle erforderlich ist und damit auch alltägliche Standardsoftware (beispielsweise Microsoft Excel) erfasst sein kann, wenn damit Verhaltens- oder Leistungsdaten aufgezeichnet werden. Auch eine solche Software kann als technische Einrichtung qualifiziert werden und ist damit aus ihrer objektiven Natur heraus für eine Kontrolle geeignet (BAG AP BetrVG 1972 § 87 Überwachung Nr 50 Rn 5). Die hier ausgewählte Entscheidung zeigt die Ausgangslage betreffend aktuelle kritische Stimmen auf, wonach die Rsp teilweise als überbordend beschrieben wird. Wie zu Beginn bereits angedeutet, gehen auch die Ausführungen von Clemenz auf ebendiese Kritik ein. Ihr Beitrag kann daher erneut vergleichend aufgegriffen werden. Sie sieht die Entwicklung der Rsp in einer nahezu unbegrenzten Mitbestimmung bei allen EDV-Systemen, welche auf AN beziehbare Daten verarbeiten. Ihr diesbezüglicher Lösungsansatz besteht vereinfacht zusammengefasst in der Rückbesinnung auf den ursprünglichen Telos der Norm. Wie bereits beschrieben, muss hierbei in Bezug auf die Mitbestimmungspflicht der konkrete Zweck zur Überwachung vorliegen. Dieser Kritik begegnet Krause mit einem Blick auf die betriebliche Realität, wonach die Praxis durch pragmatische Lösungen und keinen schwerwiegenden Blockaden von Modernisierungsmaßnahmen geprägt ist. Er stellt schließlich in Frage, ob dem durch die Digitalisierung gesteigerten Überwachungspotential mit einer Verringerung der Kontrolle durch den BR begegnet werden sollte. Mögliche Alternativen sieht er im einstweiligen Rechtsschutz bei einer wirtschaftlichen Zwangslage des AG oder einer Kooperationsverweigerung des BR. Auch Däubler zeigt in seinem Beitrag mit Hilfe eines Beispiels (Informationssystem in einem mittelständischen Unternehmen) die betriebliche Praxis auf. Dieses macht deutlich, wie die Digitalisierung und der damit verbundene Einsatz von technischen Systemen den BR vor die Herausforderung stellen, tatsächlich jedes einzelne dieser Systeme zu beurteilen. Damit verbunden sind in der Praxis, wie bereits angesprochen, pragmatische Lösungen und Generalisierungen. Genau diese Praxis wird zeigen, ob in Zukunft konkretere Vorschriften notwendig sein werden. Der Vergleich der drei Beträge zeigt eindeutig auf, wie kontrovers dieses Thema diskutiert werden kann. Umso spannender ist es, wenn diese diversen Sichtweisen in einer Festschrift festgehalten werden.
Das vorliegende Werk bietet umfassende Einblicke in unterschiedliche Teilbereiche des deutschen Betriebsverfassungsrechtes. Es zeigt verständlich und übersichtlich sowohl historische Entwicklungen sowie aktuelle Fragestellungen auf. Das Werk „100 Jahre Betriebsverfassungsrecht“ kann daher auch aus österreichischer Sicht wärmstens empfohlen werden, um einen breiten Überblick über die aktuellen Entwicklungen des deutschen Betriebsverfassungsrechtes zu erlangen – sei es zur Horizonterweiterung oder zum Vergleich mit der österreichischen Rechtslage.