Altreiter/Flecker/Papouschek/Schindler/SchönauerUmkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft

Promedia Verlag, Wien 2019, 200 Seiten, gebunden, € 17,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Solidarität ist in aller Munde. Das Prinzip Solidarität ist eines der grundlegenden Kennzeichen der westlich- liberalkapitalistischen Gesellschaftsordnungen und auch rechtlich als Sozialstaat umfassend verfestigt. Solidarität gilt als Stabilitätsgarantie, wird aber gleichzeitig beschuldigt, unbeabsichtigt der Entwicklung gesellschaftlichen Wohlstands abträglich zu sein. Der Begriff ist schillernd und missbrauchsanfällig. Durch seinen allzu häufigen und appellativen Gebrauch erweisen sich die empathischen Bekundungen nur allzu oft als Seifenblasen.

Der Forschungsbedarf zum Thema ist groß und wächst gerade in unseren Zeiten, in der sich Solidarität aufzulösen scheint. Gespannt nimmt man daher diesen verdienstvollerweise von Promedia verlegten Band in die Hand, der sich mit dem Wandel, den inneren Widersprüchen und der Komplexität von Solidaritätsvorstellungen beschäftigt. In dem Buch werden Gespräche ausgewertet, die Motive für Solidarität untersucht und die Bedingungen für die Entstehung solidarischer Haltungen bzw ihrem Verfall thematisiert.

Das Buch ist Ergebnis einer Studie, in deren Rahmen im Jahr 2018 ausführliche Gespräche mit 48 Personen geführt wurden. Die konkreten Verhältnisse und Umstände werden nicht nur sehr präzise, sondern auch überaus anschaulich dokumentiert. Primäres Untersuchungsziel war, zu beschreiben, wie es um den sozialen Zusammenhalt bestellt ist. Die Projektbeschreibung und die zur Anwendung kommenden Methoden werden im Anhang des Buches dargestellt.

Ein zentrales Thema sind auch die Spaltungen im Solidaritätsverständnis, haben doch nicht zuletzt die 352 neuen rechtspopulistischen „Wir-gegen-die-anderen“-Solidaritäten relativ erfolgreich, gerade auch im Bereich von Protagonisten der „alten“ Solidaritätsvorstellungen in den früheren Kernschichten der Arbeiterklasse („Hoch die internationale Solidarität“) Fuß gefasst. Konstatiert wird, dass der Begriff der Solidarität in den öffentlichen Diskursen wieder stärker vorkommt.

Als Leitfaden des Buches, dargestellt im Hauptteil (Abschnitt II), dient eine aus den Gesprächen abgeleitete Typenbildung, die fünf Dimensionen erfasst: Die Frage nach der Zugehörigkeit und Identifikation mit einer Gruppe, die Reichweite der Solidarität (wer gehört zur Solidargemeinschaft und wer nicht), die Frage nach den Bedingungen für Solidarität (zB gibt es Voraussetzungen für Unterstützung), die Frage, welche Gerechtigkeitsvorstellungen bestehen und welche moralischen Vorstellungen sich daraus ableiten lassen, und schließlich die Frage der Konsequenzen (handle ich selbst, ist der Staat verantwortlich, wann werden Menschen solidarisch aktiv).

Darüber hinaus werden sieben Solidaritätstypen entwickelt: Füreinander einstehen, sich für andere einsetzen, fördern und fordern, Leistung muss belohnt werden, die moralische Ordnung erhalten, mehr für die Unsrigen sein sowie „unter sich bleiben“. Diese Typisierungen sind eine äußerst hilfreiche Diskursgrundlage für die gesamte Solidaritätsdiskussion. Sie ermöglichen es, ideologische Schablonen zu überwinden und Vorurteile mit den Realitäten der sozialen Wirklichkeit zu konfrontieren.

Die Fallbeispiele zeigen bildhaft-eindrucksvoll und detailreich, wie Solidaritätsmuster entstehen, sich verändern und sich an konkreten Eindrücken und Erfahrungshintergründen abarbeiten. Die quasi tiefensoziologischen Fallanalysen sind exzellent ausgewählt und aufbereitet. Der Blick auf die Entstehungsbedingungen und narrativen Hintergründe der unterschiedlichen Solidaritätsmuster wird dadurch geschärft und verhindert platte, zu abstrakt aufgestellte Hypothesen.

Im theoretischen Teil des Buches (Teil II: „Umkämpfte Solidaritäten“) legen die AutorInnen eine gut lesbare, allerdings eine wenig unsystematische Interpretation und Diskussion des zuvor gewonnenen empirischen Materials vor. Die Fragen richten sich primär auf die Diagnose von „umkämpften“ Solidaritäten und gesellschaftlichen Spaltungen, etwa darauf „wer ist wir“. Dazu werden insgesamt zehn Wir-Identitäten herausgearbeitet, zB das „Wir“ der Milieuzugehörigkeit, das „Wir“ der Lebenswelten, das republikanische „Wir“ ua. Dabei werden auch Überschneidungen konstatiert. Im Zuge der Erörterung der Spaltungslinien wird die Annahme untersucht, ob Entsolidarisierung und Exklusion voranschreiten. In Österreich sei die Polarisierung bei den Einstellungen zur Zuwanderung besonders ausgeprägt. BefürworterInnen und GegnerInnen seien stärker auseinandergerückt. Dazu habe auch die weit verbreitete Islamfeindlichkeit beigetragen. Völkisches Denken verstärke diese Tendenz, Migration erscheine als Bedrohung einer vermeintlich kulturellen Identität, die es als homogene Eigenschaft der Konstruktion „Volk“ gar nicht gibt.

Folgende Spaltungslinien werden in den Vordergrund gerückt: Unterschiede in den Lebenslagen, Privilegierte versus Benachteiligte und Haltungen zum Sozialstaat vor allem in Zusammenhang mit der Frage, ob Geflüchtete ausgenommen werden sollen oder nicht.

Es seien nun noch einige bemerkenswerte Ergebnisse hervorgehoben: Es erstaunt tatsächlich, dass nach Jahrzehnten neoliberaler Propaganda der Sozialstaat weithin als positiv wahrgenommen wird und zT sogar sozialistische Gesellschaftsentwürfe befürwortet werden. Es zeigt sich auch, dass der moralische Imperativ, Menschen in Not zu helfen, bei fast allen Solidaritätstypen festzustellen ist. Die Haltungen und Motive lassen sich nicht einfach aus Status, Lebenslage oder Klassenzugehörigkeit deduzieren. Menschen in prekären Lebenslagen neigen gleichwohl zu universell solidarischen wie auch zu ausgrenzenden Sichtweisen.

Festgestellt wird eine bedeutsame Rolle des Leistungsprinzips. „Beitragsorientierung“ wird positiv gesehen, dabei wird der Erwerbsarbeit ein hoher Stellenwert zugebilligt. Das Prinzip der Gleichheit sei bei den meisten Solidaritätsvorstellungen nicht dominant. Die Rolle von Leistung wird als komplex beschrieben, zum einen als Kritik an den Besitzenden und Wohlhabenden, die zu wenig leisten würden, zum anderen wird Leistung in dem Sinne positiv gewürdigt, als man es durch Leistung zu etwas gebracht hat. Die Leistungsideologie kann auch zur Abwertung von weniger Leis tungsfähigen und Leistungswilligen führen. Das ist bei Geflüchteten insofern besonders augenfällig, als diesen unterstellt wird, sich als Fremdgruppe die Früchte der Arbeit der (heimischen) Leistungsträger anzueignen.

Zusammenfassend wird konstatiert, dass zwischen den Polen einer umfassenden Solidarität und den unsolidarischen Haltungen ein umkämpftes Feld liegt, in dem über die weitere Entwicklung entschieden wird. Die ambivalenten Haltungen der Befragten enthielten große Gefahren, aber auch Chancen für eine inklusive und demokratische Gesellschaft.

Abschließend sei angemerkt, dass das hier besprochene Buch in einer zentralen Zukunftsfrage tief in unsere gesellschaftliche Realität eintaucht, abstraktideologische Diskurse, die zT sehr festgefahren sind, mit einer überaus differenzierten Realität konfrontiert. Die Fragestellungen und Typisierungen sind klug gewählt und ermöglichen gehaltvolle Schlussfolgerungen auch für den politischen Raum. Die Gestaltbarkeit und Beeinflussbarkeit und damit die relative Offenheit des Feldes der Solidarität und der Spaltungen nachzuweisen, ist eine der besonderen Verdienste dieser sehr empfehlenswerten Publikation.